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Abschied

Als unsere Mutter gestorben ist, hat der Bestatter regelrecht darauf gedrängt, dass wir uns die Tote nochmal anschauen. Warum macht der das?

Dem Bestatter kann es eigentlich egal sein, ob die Hinterbliebenen noch einmal Abschied nehmen oder nicht. Er hat auf jeden Fall weniger Arbeit und einen geringeren Aufwand, wenn der Sarg zu bleibt und gleich auf den Friedhof kommt.

Unter Umständen könnte ein Bestatter zu einer Aufbahrung drängen, weil er sich einen wirtschaftlichen Vorteil davon verspricht. Manche rechnen die Benutzung ihrer eigenen Abschiedsräume und die Kühlung zu exorbitanten Preisen ab. Bei schwarzen Schafen oder besonders geschäftstüchtigen Bestattern könnte also auch das ein Grund sein.

In erster Linie kommt diese Empfehlung aber eher nicht aus merkantilen Gesichtspunkten heraus zustande.

In meinem Artikel „Offen oder zu?“ habe ich schon einmal etwas darüber geschrieben.

Erstaunlich ist doch, daß wir heute in einer Zeit leben, in der Mobilität ganz groß geschrieben wird. In Windeseile können wir uns an nahezu jeden Fleck dieser Erde bewegen und was vor gut hundert Jahren noch eine beschwerliche Wochenreise war, das bewältigen wir heute mit ABS und Airbag geschützt in wenigen Stunden. Überall und jederzeit sind wir erreichbar und können mit nahezu jedem den wir kennen unverzüglich Kontakt aufnehmen. Sogar auf Island gibt es jemanden, der mein Weblog auf seinem Mobiltelefon verfolgt. Die Möglichkeiten, Kontakt zueinander aufzunehmen und zu halten, waren noch nie so mannigfaltig wie heute und es ist abzusehen, daß hier noch mehr und noch bessere Möglichkeiten geschaffen werden.

Dennoch, und das ist das Erstaunliche, haben die Familien niemals so wenig Kontakt untereinander gehabt wie heute. Selbst nahe Verwandte, die nur einen Katzensprung voneinander entfernt leben, sieht und hört man oft monate- ja jahrelang nicht. Selbst zu den eigenen Eltern, die vielleicht nur im nächsten Stadtteil wohnen, hat man manchmal so gut wie gar keinen regelmäßigen Kontakt. Und über den teilweise miserablen Austausch unter Geschwistern will ich gar nicht erst reden.
Das mag bei den geneigten Lesern dieser Zeilen im Einzelfall anders sein, doch in meiner täglichen Arbeit erfahre ich eben dieses oben beschriebene Bild vom Familienzusammenhalt.

Warum also, so fragen mich manche, soll man von jemandem als Leiche Abschied nehmen, wenn man ihn doch schon zu Lebzeiten nie gesehen hat?

Diese letzte Abschiednahme unterscheidet sich aber in einem grundlegenden Punkt von anderen Besuchen bei einem Menschen. Besuche zu Lebzeiten kann man aufschieben und unterlassen, hat aber immer die Möglichkeit, das eines Tages noch zu ändern. Irgendwann, ja irgendwann wird man seinen Bruder, seine Eltern oder wen auch immer noch einmal besuchen. Diese Hoffnung kann man sich immer aufrechterhalten und bewahren.
Ist dieser Mensch aber verstorben, gibt es kein Irgendwann mehr, dann gibt es nur noch das Jetzt und Hier beim Bestatter oder auf dem Friedhof.

Es ist die letzte Abschiednahme um die es geht, die letzte Ehrerweisung, danach kommt in dieser Hinsicht nichts mehr, was bleibt ist allenfalls ein Grab.

Ein anderer Aspekt, den ich bei meiner Arbeit immer berücksichtigen muß, ist die Frage, ob und in welcher Form die Betroffenen zuvor Gelegenheit hatten, den Tod zu begreifen. Wir haben ohnehin nur ganz wenig Trauerkultur und besonders in den Großstädten verarmt diese immer mehr und verkommt zur fast schon industriell ablaufenden Trauermechanik im 20-Minuten-Takt.

Einen Verstorbenen anständig zu behandeln und ihm die letzte Ehre zu erweisen ist eines und kann mit wenig bewerkstelligt werden. Die ganzen übrigen Bestandteile, wie Aufbahrung usw., dienen nicht zuletzt den Überlebenden, den Hinterbliebenen als Hilfe bei der Abschiednahme, beim Loslassen und Trauern.

Hierbei ist es eben ein ganz wichtiger Punkt, daß die Möglichkeit besteht, den Verstorbenen noch einmal zu sehen, ein letztes Mal zu sehen.
Daß manche das nicht können und nicht wollen, steht auf einem anderen Blatt, gezwungen wird ja niemand.

Ich erlebe es aber Tag für Tag: Menschen kommen zu uns, ihre Gesichter versteinert, ernst und vielleicht auch ein bißchen ängstlich, jedenfalls sind sie angespannt. Ihnen steht es bevor, in einen unserer Abschiedsräume zu gehen und von einem Verstorbenen Abschied zu nehmen.

Manchmal bleiben sie nur zwei, drei Minuten, manchmal auch eine ganze Stunde. Allen gemeinsam ist, daß sie hinterher gelöst sind, entspannt sind und die Allermeisten sagen mir, daß es ihnen gut getan habe. Viele weinen hier das erste Mal, finden erst hier, angesichts des Toten, das Ventil, um ihren Gefühlen endlich Ausdruck verleihen zu können.

Es geht also nur in seltenen Fällen darum, den Angehörigen irgendeine Dienstleistung zu verkaufen, sondern die Gründe sind sehr vielfältig.


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Deshalb stehen über 4.000 Artikel in dieser Rubrik hier. Nach und nach, so wie ich die Zeit finde, räume ich hier auf.

Lesezeit ca.: 5 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 28. Mai 2012 | Peter Wilhelm 28. Mai 2012

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7 Kommentare
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Andreas
16 Jahre zuvor

Wie Tom schon erwähnte ist es für das „Begreifen“ wichtig den oder die Tote gesehen zu haben. Es wurden nach großen Unglücksfällen wie Ramstein oder der Tsunamikatastrophe Untersuchungen gemacht die ergaben das die Angehörigen die keinen Abschied nehmen konnten zum Teil massive Probleme damit hatten. Probleme weil der Sohn oder der Vater zum Beispiel morgens sich verabschiedeten um zu einem Flugtag zu gehen und dann einfach weg waren…
Deshalb sollte man die Angehörigen durchaus „ermutigen“ den Leichnam nochmals anzusehen und dabei auch bei Kindern keinen Unterschied machen. Diese gehen damit zwar anders um als Erwachsene, begreifen können es aber auch sie so besser. Der „Brüller“ ist in der Beziehung immer wenn die Eltern meinen sie sagen ihren Kindern der Opa wäre eingeschlafen….und wundern sich dann das das Kind abends nicht mehr ins Bett will.

16 Jahre zuvor

Auch ich gehöre zu den Leuten, die zur eigenen Familie eher wenig Kontakt haben. Ich bin vor drei Jahren in die Geburtsstadt meines Vaters gezogen (in der ich zuvor nie gelebt habe), und hier gibt es natürlich haufenweise Verwandte, die ich auch noch nie kennengelernt habe.

Wie war das so schön: Freunde sucht man sich aus, Familie hat man.

SOCIOLOholic
16 Jahre zuvor

@xeder: nice try, ich sitze hier in sydney und verfolge den blog, hehe 😀

xeder
16 Jahre zuvor

Island? Naja. Ich lese den Weblog hier in Dubai, Vereinigte Arbische Emirate – gewinne ich den Preis fuer den am weitest entfernten Leser? mfG aus Dubai, Xeder

16 Jahre zuvor

So ist es nunmal: Man kann noch so verwandt sein, man muss sich nicht mögen.

WoW-5. « livingsolo
16 Jahre zuvor

[…] Diese Woche sagte Tom auf seinem Bestatterblog: […]

Nina
16 Jahre zuvor

Ich kann mir zwei weitere Gründe dafür vorstellen, warum manche Bestatter zur Ansicht des Toten drängen:

1. Es gibt Leute, denen fällt relativ spät ein, dass sie die Leiche nochmal sehen wollen, so kurz vom Ablassen in die Grube etwa. Damit alles würdevoller vonstatten geht, schaut man, dass es im angemessenen Rahmen passiert und später keine Kurzschlussreaktionen folgen.

2. Es gibt ja Leute, die im Nachhinein Geld rausschinden wollen und dem Bestatter unsachgemäße Arbeit vorwerfen. Damit die Kunden nicht behaupten können, der Tote sei nicht anständig hergerichtet worden, könnte mancher Bestatter durch die Aufforderung, einen letzten Blick auf den Toten zu werfen, das Andächtige mit dem Nützlichen verbinden.

Sag‘ ich jetzt halt mal so.




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