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Das Schwein -VII-

Das Haus der Hartmanns ist verwaist. Die Rolläden sind heruntergelassen, der Briefkasten ist mit Klebeband zugeklebt. Vor dem Haus haben die stellvertretendbetroffenen Mitbürger ein hastig und pixelig aus einem Klassenfoto heraus vergrößertes Bild von Melanie aufgestellt und kleine Teddys, Blumen und Briefe von Kindern niedergelegt. Es brennen einige Kerzen, die richtigen Friedhofskerzen mit Regenschutz bleiben an, alle anderen sind, wie der ganze Rest vom seit heute herrschenden Dauerregen niedergepitscht worden.
Auch Herrn Röttger, den ich fälschlicherweise auch mal Röttgers genannte hatte, ist vom Regen vertrieben worden, wahrscheinlich demonstriert er jetzt in Mannheim gegen den Schienenverkehr, dort ist gestern ein 18-jähriges Mädchen von der Straßenbahn überfahren worden.

Das Ehepaar Hartmann ist zu Mutter Hartmann in die Vorstadt gezogen, wo sie das Wohnzimmer mit der Schlafcouch zu ihrem vorübergehenden Domizil gemacht haben.
Die lokale Presse übt sich in Zurückhaltung und hat nur den offiziellen Pressetext der Polizei gebracht, ja man hat sogar die dummerweise darin vorkommende Formulierung „Aufgefunden wurde die nackte Leiche der 14-jährigen von ihrem Vater“ weggelassen.

Es ist, so vermute ich, allein dieser eine Satz, der zunächst einem Reporter der Boulevardzeitung die Phantasie durchgehen ließ. Aber hat man sich als Zeitung erst einmal auf eine bestimmte Richtung eingeschossen, so muß man wenigstens ein paar Tage auch so weitermachen.
Es ist erstaunlich, was Nachbarn immer alles wissen oder zu wissen glauben oder einfach nur glauben oder nur ahnen oder einfach nur unterstellen und das auch noch in vorauseilendem Gehorsam. Sehr bereitwillig sollen sie einem der typischen Witwenschüttler alles Mögliche gesagt und ausgehändigt haben, nur in der Hoffnung, auch mal ihre 15 Minuten Berühmtheit zu bekommen.

Witwenschüttler, so werden nicht nur im Journalismus, jene Leute genannt, die kurz nach einem Todesfall bei den Angehörigen, aber auch bei Unbeteiligten, auftauchen und unter Vorspiegelung von Anteilnahme aus den Befragten Informationen herausschütteln oder Gegenstände (Fotos, Nachlass etc.) in ihren Besitz bringen.
Bei den Journalisten wird oft die mehr oder minder versteckte Drohung ausgesprochen, daß die Zeitung, wenn man jetzt nicht mithelfe, halt irgendetwas Negatives bringen würde.
Auch Geld spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle, so soll einer Nachbarin, die eine Tochter im gleichen Alter hat, ein Betrag von 50 Euro gezahlt worden sein, wofür ein Presseheini ein Foto vom Zimmer dieses 14-jährigen Mädchens hat machen dürfen, welches in der nächsten Ausgabe der Zeitung abgedruckt wurde.
Zwar ist das nicht das Zimmer von Melanie, aber das tut nichts zur Sache.
Die Bildüberschrift lautete:

„Sexspiele im Mädchenzimmer?“

und die Bildunterschrift sagte dann:

„Sah so das Zimmer von Melanie H. (14) + aus?“

wobei das hier als Pluszeichen wiedergegebene Symbol in der Zeitung ein Totenkreuz war.

Der Text zu dem Bild ist dann, wie bei solchen Zeitungen üblich, nicht dazu geeignet die angespannten Erwartungen der Leser zu befriedigen.
Eine Nachbarin habe von einem guten familiären Verhältnis gesprochen, das Mädchen sei regelmäßig morgens weggegangen und mittags wiedergekommen und die Eltern seien beide sehr nett.
Ein „Hugo B., Rentner (67)“ soll gesagt haben, niemand könne hinter die Stirn des anderen gucken.
Und dann berichtet die Zeitung völlig richtig, daß die Obduktion keinerlei Hinweise auf eine Straftat ergeben habe.
Ja und dann stellt die Zeitung wieder nur Fragen: Was waren die Hintergründe? Gab es in der Familie H. dunkle Geheimnisse?

Ich hatte schon fast darauf gewartet und es wird tatsächlich wahr. Die Birnbaumer-Nüsselschweif vom Frauen- und Mütterverein der Kirche meldet sich. Glücklicherweise kommt die fette Matrone nicht persönlich vorbei, sondern ruft nur an.
Ob wir denn das Mädchen jetzt schon zum Friedhof gebracht hätten, will sie wissen.
Da müsse man was tun, das Kind müsse doch bewacht, beschützt und abgeschirmt werden und genau diesen Job würden sie und ein paar andere Betgenossinnen jetzt übernehmen.
Ich sage nur „ja, ja“ und lasse sie gewähren.

Denn inzwischen haben wir den Sarg vom Friedhof wieder abgeholt und auf einen anderen Friedhof gebracht.
Auf die Idee, daß nämlich irgendwelche Presseleute, Neugierige oder Nekrophile jetzt angelockt werden könnten, sind wir nämlich auch gekommen.

Die Hartmanns werden von uns mit unserem Wagen geholt und wieder weggebracht, sie haben sich inzwischen für eine Feuerbestattung entschieden. Das war eine schwere Geburt, denn Monika Hartmann wollte das auf gar keinen Fall, Klaus Hartmann aber will vermeiden, daß es eine Märtyrer-Gedenkstelle geben wird, wie er sich ausdrückte.
Auch die Mutter von Herrn Hartmann hat zu einer Feuerbestattung geraten und ihre Schwiegertochter mit überredet, daß die Asche dann im neuen Baumhain auf dem Friedhof bestattet wird.

Ich halte nichts davon, daß jemand zu einer solchen Entscheidung überredet wird. Natürlich muss man oft Kompromisse finden, aber gerade wenn die Witwe oder der nächste Angehörige die ganze Zeit ein ungutes Gefühl mit einer bestimmten Entscheidung hat, könnte das nachher zu Problemen führen.
Vielleicht ist ja das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Eigentlich wäre die Beerdigung heute gewesen; angesichts der Umstände ein sehr früher Termin. Auf manche Freigaben der Staatsanwaltschaft warten wir mehr als eine Woche. Aber bei Kindern, das habe ich schon mehrfach beobachtet, bemüht man sich, daß es schneller geht; und wie gesagt, es lag ja auch nichts vor.
Die Öffentlichkeit rechnet mit einer Beisetzung Anfang kommender Woche, aber ich konnte die sonst sehr schnippige, freche und zickige junge Leiterin der Ortspolizeibehörde dazu bringen, uns seitens des Friedhofsamtes eine Samstagsbeerdigung zu genehmigen.

Morgen früh, wenn die anderen alle noch beim Frühstück sitzen, wird es eine Trauerfeier auf dem Friedhof geben.
Sollten sich die Hartmanns bis heute Abend doch noch für eine Erdbestattung entscheiden, so ist das auch kein Problem, es sind aus Witterungsgründen gerade zwei Gräber offen und mit Brettern abgedeckt.
Bleibt es bei der Feuerbestattung, so können wir das Mädchen zwar morgen noch zum Krematorium bringen, weil man dort seit einiger Zeit einen Samstagsdienst eingeführt hat, aber eingeäschert wird dort nicht.
Sollte sich aber das Ehepaar Hartmann über das Wochenende wieder anders entscheiden, müssen wir Montag schnell handeln, denn falls Melanie nicht eingeäschert werden soll, müssen wir schnell sein. Denn dadurch, daß Melanie obduziert wurde, benötigt sie keine zweite Leichenschau. Die Obduktion gilt als solche, denn dabei wurde die Todesursache ganz genau ermittelt, und nach einer Obduktion stellt sich die Frage, ob jemand eventuell doch noch lebt ohnehin nicht mehr, den Eingriff überlebt keiner…


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 30. Mai 2012 | Peter Wilhelm 30. Mai 2012

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Naya
12 Jahre zuvor

Die armen Eltern.
Ein Kind zu verlieren muß schon schlimm genug sein, aber so muß es die pure Hölle sein.
Ich frage mich, ob das den „betroffenen Mitbürgern“ und den Nachbarn nicht klar ist oder ob es ihnen egal ist, daß sie mit sowas nicht nur den in ihren Augen schuldigen Vater quälen sondern auch die gesamte restliche Familie.

Witwenschüttler finde ich eine ganz widerliche Ausprägung des Journalismus – und da soll mir auch keiner damit kommen, daß man sich die Moral dort leisten können mußte – sich so Aussagen, Gegenstände oder Fotos zu erschleichen, die er sonst nie bekommen hätte, das ist nochmal ganz viel tiefer vom Niveau als einfach nur mit frei verfügbaren oder freiwillig gegeben Informationen in reißerischen Texten Sensationsgier zu befriedigen.

hajo
12 Jahre zuvor

seltsam, bei der Erwähnung des Begriffes „Witwenschüttler“ dachte ich sofort an B-N
.. und schon steht sie ante portas 😀

Name
12 Jahre zuvor

Waah, jetzt hab ich zuerst Bettgenossinnen gelesen – widerwärtiges Kopfkino…

Anonym
12 Jahre zuvor

[quote]wobei das hier als Pluszeichen wiedergegebene Symbol in der Zeitung ein Totenkreuz war.[/quote]

Das Totenkreuz (†) findest du, wenn du die Taste ALT und zugleich 0134 tippst. In Windows findest du im Zubehör eine Zeichentabelle, die dir die Zeichen anzeigt, die du in einer bestimmten Schriftart benutzen kannst – im Mac gibts bestimmt auch sowas 😉

Christians Ex
12 Jahre zuvor

(Ich hasse das, wenn ich die verdammten Kopfangaben wieder vergesse! Sorry, Kinners.)

turtle of doom
12 Jahre zuvor

Beim Mac ist es alt-t. 🙂

Ich danke Tom dass es wieder eine Serie Geschichten zu lesen gibt. Auch wenns eine 14jährige ist, um die es hier geht…

kall
12 Jahre zuvor

@turtle
Aha, der Mac hat also eine eigene Tastenkombi dafür. Das lässt jetzt einigen Raum für Spekulationen, warum das so ist ….

Nein, nein, ich hab nix gegen Äpfel, sind mir nur zu teuer 😉

turtle of doom
12 Jahre zuvor

@ kall:

Eine Auswahl für deinen nächsten Fruchtsalat:

alt-___

œ∑€®†Ω°¡øπ§‘åß∂ƒ@ªº∆¬¢æ¶¥≈©√∫~µ«…–

Bezüglich Computer werde ich auch mal die Religion wechseln.

12 Jahre zuvor

und der Vollständigkeit halber… in HTML-Syntax kriegt man das das Kreuz mit †

Wiesodenn
12 Jahre zuvor

@ Naya

Den „betroffenen Mitbürgern“ würde das erst klar wenn sie von einem ähnlichen Todesfall betroffen sind.
Aber das wünscht man sich ihnen sicher nicht.

ein anderer Stefan
12 Jahre zuvor

1 Naya: Da ich den Satz Moral muss man sich leisten können, hier ins Spiel gebracht habe, fühle ich mich bemüßigt, dazu was zu sagen. Ich finde diese Sensationshascherei widerlich und kaufe weder diese Zeitungen noch sehe ich die Sendungen, die darauf basieren. Die Witwenschüttler sind ein elender Auswuchs dieser Sensationsgier. Aber genauso, wie ich mich nicht irgendwelchen Vorverurteilungen („wo Rauch ist, ist auch Feuer“) anschließe, verurteile ich nicht die gesamte Presse in Bausch und Bogen. Klar kann ich sagen, da mache ich nicht mit – dann kann ich mir in absehbarer Zeit einen neuen Job suchen. Und Taxifahrer mit Studium haben wir schon genug… Die Frage ist halt, wie weit ist zu weit? Das oben beschriebene ist viel zu weit und der Verantwortliche hat wohl jegliche Moral schon lange über Bord geworfen. Sobald ein Journalist anfängt, Suggestivfragen zu stellen oder anderweitig falsche Schlüsse, die sich nicht aus den Fakten ergeben, zu provozieren, ist eine Grenze überschritten. Und die Mitbürger – das Verlangen, seine fünf Minuten Ruhm zu kriegen, ist das offenbar manchmal stärker als… Weiterlesen »

Naya
12 Jahre zuvor

@ anderer Stefan (11)
„verurteile ich nicht die gesamte Presse in Bausch und Bogen.“
Genau das habe ich ja auch nicht getan – ich verurteile primär diese oben genannte Methode und zum Teil auch die diejenigen, die nur Sensationsgier befriedigen wollen (was nicht heißt, daß ich die Zielgruppe, die genau sowas lesen will, besser finde als die, die es schreiben – möglichst reißerische Berichte lesen wollen, egal ob es stimmt, oder auch mal ein Mikro vor dem Mund haben wollen, auch wenn man nur wilde Vermutungen oder Tratsch äußern kann, das finde ich ähnlich schlimm)
Gegen seriöse Berichte und Recherche habe ich nichts, im Gegenteil, die finde ich sehr wichtig, aber sowas wie von Tom beschrieben, das ist meilenweit weg davon.

ein anderer Stefan
12 Jahre zuvor

12 Naya: Dann sind wir uns ja einig. Ich wollte nur der Mutmaßung, die hier schon geäußert wurde (nicht von Dir), dass ich mit diesem Satz über die Moral derartige Praktiken gutheißen würde, entgegentreten.

Allgemein gesagt:
Einige Meinungen hier schienen mir den Unterton zu haben, dass man unter keinen Umständen etwas tun dürfe, was den eigenen Moralvorstellungen zuwiderlaufe oder zumindest fragwürdig sei. Das ist zwar ein sehr ehrenhafter, aber nicht immer durchzuhaltender Ansatz. Damit will ich unmoralische oder gar verbrecherische Praktiken keineswegs gutheißen. Aber „audiatur et altera pars“ ist aus gutem Grund ein Rechtsgrundsatz, der auch in anderen Situationen als vor Gericht durchaus sinnvoll anzuwenden ist.




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