DIREKTKONTAKT

Geschichten

Der Mann im Lotto

Ich trinke gerne Kaffee. Das habe ich schon immer getan, seit meine Mutter mich in jungen Jahren mit Milchkaffee angefixt hat.
Im Übrigen vermag ich mich auch gar nicht daran zu erinnern, was ich sonst in meiner Kindheit getrunken haben könnte.
Schaue ich mich bei heutigen Kindern um, so haben die ja eine Auswahl aus circa 2.465 verschiedenen Säften, Limonaden und Softdrinks. Die benötigen sie ja auch, denn moderne Menschen fallen ja bekanntlich tot um, wenn sie nicht alle 25 Sekunden an irgendeiner Flasche nippeln können. Überm Bruch gekürzt könnte man auch sagen: Wer nicht nippelt stirbt sofort. Oder als Quersumme: Nix trinken = abnippeln.

Was hatten wir? Wir hatten damals Wasser. Und wenn ich Wasser sage, dann meine ich dieses höchst ungenießbare, ja geradezu tödlich giftige Zeug aus der Wasserleitung. So etwas nimmt man ja heute nur noch zum Klo runterspülen und nur für den entfernt anzunehmenden Fall, daß man es dann doch mal oral applizieren möchte, muß man es vorher unabdingbar durch einen Britta-Filter laufen lassen. Macht man das nicht, muß man auch wiederum sofort tot umfallen.

Gut, davon wußten wir damals noch nichts und sind infolgedessen nach dem Genuß von Wasser aus dem Wasserhahn nicht gestorben.
Dabei wäre das gar nicht so schlimm gewesen, denn zu meiner Zeit gab es ja genug von uns; wir waren ja das Ergebnis des Babybooms.
Aber das Wasser hat es nicht vermocht, uns zu dezimieren. Auch nicht die Milch, die wir beim Bauer holten und die euterwarm in die Kanne kam, so ganz ohne Ultrahocherhitzung und Entkeimung.
Ja selbst der uns zu besonderen Anlässen gnädig gegönnte Eierlikör hat uns nicht ausgerottet.

Ans Kaffeetrinken bin ich also schon sehr früh gewöhnt worden und habe daraus eine lebenslange Vorliebe für dieses Getränk entwickelt.
Ich trinke von morgens bis abends Kaffee und bin froh darüber, daß in zahlreichen Studien alle schlechten Eigenschaften des Türkentranks wegdiskutiert worden sind.
Kaffee macht nicht dumm, nicht bluthochdruckig und er dünnt weder die Knochen aus, noch entwässert er über die Maßen. Gut so.

Nun, ich trinke auch andere Sache, so ist das ja nicht.
Beispielsweise, wenn ich mal keinen Bock mehr auf noch ’ne Tasse Kaffee habe, dann gehe ich gerne zu Salvatore, dem eisverkaufenden Nudeltunker an der Ecke und trinke dort einen Espresso.

„Si, si“, sagt er, der auch nach 40 Jahren immer noch kein verständliches Deutsch kann, nimmt vor der Ausführung meiner Bestellung eine Art Habachtstellung vor meinem Tischlein ein, um mir den neuesten Witz zu erzählen:

„Kommte Mann in Lotto.“

Er schaut mich schon erwartungsvoll an, ich nicke ihm aufmunternd zu und bin gespannt, wie der Witz weiter geht. Er fährt fort:

„Alsso, kommte Mann in Lotto. Sagte Mann für andere Mann: gewonnen!“

Salvatore schaut mich strahlend an, nickt voller Hoffnung, und fängt dann an vor mir herumzuhüpfen, während er sich vor Lachen schüttelt.

„Isse gut? Ja? Isse Witze gutt?“

Was für ein Witz? Wo war die Pointe?
Irgendwie muß die Lustigkeit von dem Mann der in „die Lotto“ kommt, auf dem Weg vom Italienischen ins Deutsche verloren gegangen sein.
Aus Höflichkeit lache ich und sage: „Sehr gut, Salvatore, sehr gut!“

„Noch eine?“

Ich nicke und hoffe, daß jetzt was Tolles kommt. Er stellt sich wieder in Positur:

„Sagte Frau bei Ihre Mann: Ich nehme ab. Bin iche zu dick! Und dann sagt Mann zu seine Frau: Idee!“

Das gleiche Spiel: Ich verzweifle fast, weil ich offenbar zu dumm bin, Salvatores sizilianischen Humor zu verstehen, und der Einsfünfzig-Mann hüpft und gröhlt vor Lachen.

Gut, ich kenne das Spiel, nun ist es an mir, ihm einen Witz zu erzählen.
Ich erzähle also einen, den ich neulich erst gehört habe und den ich ganz witzig fand:

„Kommt eine Frau zum Arzt. Fragt der Arzt: ‚Na, Frau Meier, wie vertragen Sie denn die Hormontabletten, die ich Ihnen verschrieben habe?‘
‚Gut‘, sagt die Frau und der Arzt fragt: ‚Ich meine ja nur. Denn die Tabletten haben ja bestimmte Nebenwirkungen, manchmal ist ein etwas stärkerer männlicher Haarwuchs zu beobachten.‘
‚Ja, Herr Doktor das eine oder andere Haar ist schon gewachsen.‘
‚Ach, wo denn, Frau Meier?‘
‚Direkt am Hodensack, Herr Doktor!'“

Salvatore schaut mich an. Mitleid spricht aus seinem Blick. Er wischt mit seinem feuchten Lappen über den Tisch, lächelt gequält und geht, um mir den Espresso zu holen.
Sein Humor und mein Humor sind offenbar inkompatibel.

Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.
Erzählen wollte ich, daß Salvatore seinen Espresso in der Hölle braut.

Und so steht drei Minuten später eine winzige Tasse mit dampfendem Bohnenextrakt vor mir. Er serviert Espresso in besonders winzigen Tassen. Der Henkel dieser Tassen ist gar kein Henkel, man kann also den Finger nicht hindurchstecken. Es ist mehr so ein Ohr oder ein abstehendes Stück Keramik, jedenfalls ohne Loch.
Das zwingt einen dazu, dieses winzige Öhrchen an dem kleinen Täßchen mit zwei Fingern einzuklemmen und sehr fest zu halten.
Das aber wiederum verursacht einem Schmerzen. Denn die Tasse ist nicht nur warm, sie ist auch nicht nur heiß, sie ist verdammt höllenheiß.
Diese Tasse muß wenigstens 90 Grad haben. Die Haut platzt sofort an den Stellen auf, an der die Finger das Tassenohr berührten.

Und die Tasse muß aus einem geheimnisvollen keramischen Material sein. Die hervorstechende Eigenschaft dieses Geheimmaterials ist, daß es Hitze über eine Stunde speichern kann.

Ja, Du kannst den Espresso in der Tasse kaltpusten, die Tasse bleibt glühend.
Sie ist vermutlich aus dem Magma des Ätna gedrechselt worden.

Und um zu verhindern, daß man etwa auf die Idee käme, eine Serviette als Hitzeschutz zu nehmen, liegt unter der Tasse auf dem ovalen Minitablett nur ein hauchdünner Fetzen Papier. „Hausgemachtes Eis“ ist darauf gedruckt.
Aber dieses Papier ist so eine Art Eßpapier oder so. Jedenfalls löst es sich bei der Berührung mit dem minimal feuchten Tassenohr sofort auf.

„Isse meine Espresso nichte gutt?“, fragt Salvatore, weil ich auch nach geraumer Zeit noch nicht in der Lage war, etwas zu trinken.

„Doch, der Espresso ist nicht das Problem. Die Tasse ist bloß so heiß.“

„Tasse für gute Espresso musse vorgewärmte sein!“

„Ja, aber doch nicht so heiß. Man kann die ja gar nicht anpacken.“

„Si, si, deshalbe nehme ich ja auch immer Tablett. Wenn Du willste was Kaltes, dann musse Du Eis bestelle.“

Ich puste und rühre weiter und schon anderthalb Stunden später ist es möglich, den Espresso ganz vorsichtig, ohne die Tasse mit den Lippen zu berühren, allein durch intragutturale Saugtätigkeit über den Tassenrand in den Mund zu schlürfen.

Überdies habe ich Hunger bekommen. „Salvatore, was ist denn heute das Tagesessen?“

„Pizza Taormina!“

„Hm, was ist denn da drauf?“

„Iste mit Salami, die Käse und Schinken unde Tomat!“

„Okay, dann nehme ich eine kleine.“

Wenig später kommt die Pizza. Was soll ich sagen? Sie ist glühend heiß. Sie kommt unzweifelhaft direkt aus dem flüssigen Erdmittelpunkt. Keine Frage!
Auch der Teller glüht und über der Pizza flirrt die Luft. In den schwummernden Schwaden sehe ich die Fata Morgana einer vorbeiziehenden Karawane.
Ich lege Messer und Gabel auf den Teller neben die Pizza und puste mal wieder.

Einige Minuten später wird mir schummerig vor Augen, weil ich mehr Sauerstoff auf die Teigfladenoberfläche geblasen habe, als es meinem sauerstoffbedürftigen Gehirn gut tut.
Ich greife nach Messer und Gabel und – abermals verbrenne ich mir die Pfoten. Durch das Liegen auf dem Vulkanteller ist das Besteck kochend heiß geworden.
Die Hände vor Schmerzen reibend schaue ich vorsichtig unter den Tisch, ob da nicht irgendwo eine Mikrowellenapparatur für dauernden Hitzenachschub sorgt. Doch da ist nichts.

Irgendwie gelingt es mir, mit einem hölzernen Zahnstocher ein kleines Stück Pizza in den Mund zu befördern. Doch was da passiert, ist mit Worten kaum zu beschreiben.
Meine Zunge scheint zu explodieren, mein Gaumen verwandelt sich in eine koksüberzogene Schwarzhöhle und das bißchen Pizza, das ich geschluckt habe, brennt sich seinen Weg durch die Speiseröhre in den Magen.
Diese Pizza ist scharf! Sie ist so extrem scharf, daß ein kleiner Krümel, der mir heruntergefallen ist, ein Loch in das Leder meines linken Schuhs brennt.

Ich werfe Salvatore einen Zehner auf den Tisch und mache mich auf den Heimweg.

In der Wagenfelsstraße treffe ich Doktor Blümmel. Der schaut mich an, schüttelt den Kopf und meint: „Was haben Sie bloß für einen roten Kopf?! Sie sollten wirklich nicht so viel Kaffee trinken!“

Ich kann ihm nicht einmal eine Antwort geben, meine Zunge schält sich gerade.

Sechs Liter Wasser später kann ich wieder sprechen. Die Allerliebste kommt nach Hause: „Und? Warst Du bei Salvatore?“
Ich nicke.
„Und, was hat er gesagt?“

Ich überlege kurz und sage: „Alsso, kommte Mann in Lotto. Sagte Mann für andere Mann: gewonnen!“

Die Allerliebste schaut mich an, Wasser schießt in ihre Augen, sie hält sich den Bauch vor Lachen und noch eine Viertelstunde später schüttelt sie sich.

Irgendwas läuft da verkehrt, aber gewaltig!

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: | Peter Wilhelm 17. September 2016

Lesen Sie bitte auch:


Abonnieren
Benachrichtige mich bei
12 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
turtle of doom
7 Jahre zuvor

Och du Armer. Aber Kaffee kennt tatsächlich nur zwei Temperaturbereiche: „Heisser als die Hölle“ und „Kälter als das Herz meiner Ex“.

Dies müssen wir halt ertragen, wollen wir eben dieses himmlische Getränk geniessen.

der kleine Tierfreund
7 Jahre zuvor

…isse sehr schöne Geschichte- mille grazie ! 🙂

hajo
7 Jahre zuvor

Allergrösstes Kino, lieber Peter!
Allerdings besteht die Gefahr, dass Du durch diesen Artikel das unbegründete (!!!) Vorurteil über die Schmerzempfindlichkeit des männlichen Teils der Menschheit schürst. 😉

Brigitte
7 Jahre zuvor

Mannomann – nicht nur ein Besuch bei Salvatore kann gefährlich werden, sondern auch das Lesen einiger Geschichten hier im Bestatter-Blog. 😉

Bei dieser hier hab ich zuerst Tränen gelacht, aber dann ist dieser Lachflash in einen irre starken Hustenanfall übergegangen und das war dann erst einmal überhaupt mehr lustig. 🙁

Aber dennoch – danke, diese Geschichte hat mir wirklich Spaß gemacht. 🙂

Lochkartenstanzer
7 Jahre zuvor

Dann mußt Du halt statt Espresso türkischen Mokka trinken. Da gibt es sogar ein Glas Wasser dazu, um entweder die Temperatur des Heißgetränks in erträgliche Zonen herunterzukühlen oder auch den Kaffesatz wieder aus dem Mund zu spülen.

Manuela
7 Jahre zuvor

Kaffee schützt die Leber. Kein Witz, eine ziemlich neue medizinische Erkenntnis.

turtle of doom
Reply to  Manuela
7 Jahre zuvor

@Manuela: Da habe ich als Epidemiologe immer Mühe mit „X schützt Y“, „X schützt vor Y“ oder noch pauschaler „X ist gesund“.

Zum Beispiel soll der Konsum von rotem Fleisch die Chance von Dickdarmkrebs um 28% erhöhen. Nun, soll man etwa auf Rindfleisch verzichten?

5% der Bevölkerung erkranken ohnehin an Dickdarmkrebs (eingeschlossen Leute, die sowohl gerne als auch ungern rotes Fleisch essen). Wenn nun alle Leute auf rotes Fleisch verzichten würden, könnte man die Dickdarmkrebs-Rate nur auf etwa 4% herunterdrücken. Der Effekt ist minim, obwohl die Schlagzeilen in den Medien jeweils so reisserisch klingen.

Obwohl unser Leben das teuerste ist, das wir haben – wir könnten damit wesentlich gelassender umgehen. So, und zu Mittag mache ich mir einen Teller Raclette. Nach zwanzig Kilometer Schwimmen letzte Woche wollen die Fettreserven wieder aufgefüllt werden. 😛

Kaedder
Reply to  turtle of doom
7 Jahre zuvor

@turtle of doom: Danke für die Ausführung. Rein rechnerisch würde aber die Senkung der Dickdarmkrebsrate um einen Prozentpunkt schon ein (zumindest Dickdarm-)krebsfreies Leben für 800000 (in Worten achthunderttausend) Menschen in Deutschland bedeuten. Und das ist schon ne ganze Großstadt voll. Klar ist das Ganze nicht so extrem wie von der Bild und Konsorten dargestellt, aber so ganz von der Hand zu weisen ist der Effekt nun auch nicht.
LG, Kaedder, wäre gerne für immer dickdarmkrebsfrei, liebt trotzdem Steaks…..

turtle of doom
Reply to  Peter Wilhelm
7 Jahre zuvor

@Peter Wilhelm: Ich habe die fünfprozentige Chance, irgendwann in seinem Leben an Dickdarmkrebs zu erkranken, ebenfalls aus der Wookiepedia – aber es ist die weltweite Rate. Wo zum Beispiel jeglichste Darmparasiten ihren Beitrag zu chronischen Entzündungen und so auch zu Krebs leisten können.

Den Kommentar hatte ich geschrieben, weil „X schützt Y vor Z“ immer mit ein paar Esslöffeln Salz zu geniessen ist. Ohne die a-priori-Wahrscheinlichkeit irgendeiner Erkrankung zu kennen kann man gar nicht vernünftig darüber reden, ob eine bestimmte Verhaltensweise ein sinnvoller Schutz oder ein hohes Risiko darstellt.

Egal ob Kaffee oder rotes Fleisch. (Ich mag beides.)

Josef
7 Jahre zuvor

Ja, der gute alte Kaffee, er hat mich schon oft aus dem Tal der Müdigkeit geholt, wenn ich mich zur nächsten zwölf Stunden Schicht schleppen muss.




Rechtliches


12
0
Was sind Deine Gedanken dazu? Kommentiere bittex
Skip to content