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Der Seebär

Herrn Kronawitter kannte ich bislang nur vom Sehen. In seiner blauen Jacke mit den goldenen Knöpfen, der weißen Hose und dem imponierenden Backenbart ist er eine sehr auffällige Erscheinung und wird überall nur „der Kapitän“ genannt, die Kinder hingegen nennen ihn „Käpt’n Iglo“. In einer Gaststätte hier im Ort verkehrt Kronawitter regelmäßig und eher zum Leidwesen des Gastwirtes sucht er sich jeden Tag irgendjemanden unter den anderen Gästen aus, um sich freiweg an dessen Tisch zu setzen, nicht ohne Höflichkeit und Charme, um dann von seinen jahrzehntelangen Erlebnissen auf den sieben Weltmeeeren zu erzählen.

Der Gastwirt sieht das deshalb nicht so gerne, weil Kronawitters Erzählungen bei ersten Mal noch ganz interessant und spannend sind, beim zweiten Mal eher Mitleid mit dem scheinbar etwas vergesslichen Mann erzeugen, aber ab dem dritten Mal nur noch nerven. „An einem Tag hat er sich zuerst an den ersten Tisch zu zwei jungen Damen gesetzt, die haben gezahlt und sind gegangen, dann setzte er sich an den zweiten Tisch zu einem Ehepaar und hat mir auch die vergrault, dann habe ich zu ihm gesagt, daß er gerne jeden Tag kommen und seinen Kaffee hier trinken darf, aber muß mir die Gäste in Ruhe lassen.“

Wie gesagt, mir ist Kronawitter bislang erspart geblieben und ehrlich gesagt hätten mich seine Geschichten auch interessiert; wann trifft man schon einen altgedienten Seemann?

Umso willkommener war es mir, als mich Kronawitter neulich auf der Straße ansprach und mich nach einer Visitenkarte fragte: „Ihr macht doch auch Seebestattungen, oder?“ Ich nickte, gab ihm die Visitenkarte und er erzählte mir, daß er nun da er Ende Sechzig sei, seine Angelegenheiten regeln wolle und ich deshalb doch mal bei ihm vorbeischauen möge, wegen eines Termins würde er bei mir anrufen.

Nun gut, es vergingen drei oder vier Wochen und dann lag eines Tages eine Telefonnotiz mit seiner Adresse auf meinem Schreibtisch. Am Nachmittag des angegebenen Tages fuhr ich dann zu ihm.
In der Straße, die auf meiner Notiz stand, gibt es viele kleine Häuser und ich vermutete, daß er eines davon bewohnte, doch tatsächlich passte die Hausnummer zu einem Sechsfamilienhaus, was mich überraschte. Die zweite Überraschung war, daß er eine Ehefrau hat, die öffnete mir nämlich die Wohnungstür im zweiten Obergeschoß und bat mich freundlich herein. „Möchten Sie lieber Kaffee oder lieber Tee?“

Ein wenig unverbindliche Konversation mit ihr und dann trug sie mir den Kaffee brav hinterher: „Mein Mann ist in seinem Kapitänszimmer.“

War die Wohnung ansonsten eher bieder und durchschnittlich eingerichtet, verschlug es mir beim Betreten des sogenannten Kapitänszimmers beinahe den Atem. In mahagonifarbenem Dunkel, nur spärlich und stellenweise erhellt türmten, häuften und stapelten sich Mitbringsel aus aller Welt. Von der Decke baumelte ein riesengroßes zahnbewehrtes Gebiss eines Hais, in der Zimmerecke stand die lebensgroße Nachbildung eines Massai-Kriegers mit seinem Speer und während mein Blick noch staunend über Einmachgläser mit eingelegten Schlangen und etliche ausgestopfte Tierköpfe schweifte, tönte das Läuten einer Glocke an mein Ohr, inmitten eines halben Völkerkundemuseums stand Kapitän Kronawitter, läutete eine große messingfarbene Schiffsglocke und rief: „Willkommen in meiner Kajüte!“

Ich kann gar nicht alles aufzählen, was ich an diesem Tag zu sehen bekam. Ein ledriges Etwas präsentiert mir der Kapitän als angeblich letzten echten Schrumpfkopf und mit besonderem Stolz präsentiert er mir die sogenannte „Tigerwurz“ aus Surinam, eine angeblich ewig potenzförderliche Pflanze, die eher aussieht wie ein getrockneter Hundehaufen.
Ein fremdländischer Name nach dem anderen dringt an mein Ohr, im Sekundentakt schwenkt Herr Kronawitter ein anderes Artefakt vor meinen Augen herum und nur Maracaoibo und Sansibar sind mir im Gedächtnis geblieben.

Meine Güte, was muß dieser Mann alles erlebt haben!

Platz ist in dem vollgestopften Zimmer keiner. „Kommen Sie, wir setzen uns ins Wohnzimmer“, bittet mich der Käpt’n hinaus und ich bitte darum, lieber in der Küche sitzen zu dürfen. Dort ist es immer heller und am Küchentisch schreibt es sich besser. Kurz darauf sitzen wir auf der Eckbank und ich fülle meine Unterlagen aus, wobei es mir sehr schwer fällt, meinen Klienten bei der Stange zu halten. Ständig schweift er ab und es gibt kein Wort und keine Silbe, zu dem ihm keine Anekdote aus seinem langen Seefahrerleben einfiele.

Selbstverständlich will er eine Seebestattung mit allen seefahrerischen Ehren, die Nordsee sei zwar nicht sein Traumziel, aber wenn’s dann preiswerter ist, als die Saragossasee, könne er sich auch damit abfinden. Wegen der vielen Anekdoten und Unterbrechungen brauche ich über eine Stunde nur für das Wesentliche, dann beschließt Herr Kronawitter, ich müsse mir unbedingt ein Bild anschauen, das er dem Kapitän eines isländischen Walfängers vor vielen Jahren in einer Hafenkneipe abgekauft hatte.
Als er in seiner „Kajüte“ verschwunden ist, um das Bild zu suchen, schaut seine Frau kurz herein, fragt mich, ob ich noch Kaffee möchte und bleibt dann aus Höflichkeit etwas bei mir stehen.
Ob sie denn auch mal weite Reisen gemacht habe, erkundige ich mich und sie schaut sie vorsichtig um, guckt und lauscht ob ihr Mann noch weg bleibt, schließt die Küchentür und sagt: „Ich war nur mal in Österreich, in den Sechzigern, mein Mann ist aber auch noch nie aus Bielefeld herausgekommen.“

„Was?“

„Ja, wir haben bis vor ein paar Jahren in Bielefeld gewohnt und sind dann hierher gezogen, wegen der Kinder. Mein Mann hat sein Leben lang eine Leinenweberei geführt und als die dann Pleite gegangen ist, hat er sich in seine Phantasiewelt geflüchtet. Aber sagen Sie bitte nichts!“

„Und die ganzen Mitbringsel? Die ganzen Erlebnisse?“

„Alles vom Flohmarkt und aus Büchern, das ist sein Hobby. Ich lasse ihn halt, andere Männer trinken…“


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Lesezeit ca.: 7 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 28. Mai 2012 | Peter Wilhelm 28. Mai 2012

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14 Jahre zuvor

das ist süß von der Frau 🙂

Klaus
14 Jahre zuvor

Genau so dachte ich mir das! 🙂
Aber so ein Zimmer ist doch schon geil ODER?
Solche Menschen machen unsere Gesellschaft doch erst liebenswert.

Tux2000
14 Jahre zuvor

Klingt doch sehr nach Kapitän Knaak, der in einer Tabakdose ein Stück Haut des Hornbauchschleifers aufbewahrt.

Aber wo Frau Kronawitter Recht hat, hat sie Recht. Seemannsgarn schadet niemandem, auch nicht, wenn eine Landratte es spinnt.

Kommentator
14 Jahre zuvor

Ich glaub die Geschichte, in der Stadt, in der ich groß wurde, gab es auch so einen: „Danny, der singende Seemann“, auch bekannt als „Danny, die singende Nervensäge“, Marke „irischer Fahrensmann“ mit dazu passendem Outfit, der unausweichlich anfing, allerlei irisches und seemännisches Liedgut zum Besten (?) zu geben, wenn er duhn war (und das war er abends immer, also hat er auch immer gesungen). In den Trinkpausen erzählte er dann wilde Geschichten, wo er schon überall war und was er dort erlebt habe, und nervte mit seinen Autritten irgendwann jeden (was dazu führte, dass er seine Auftritte in Nachbarstädte ausdehnte).
Seine Brötchen und Whiskeys hat er zeitlebens als Angestellter der Stadtverwaltung verdient, über größere Reisen ist nichts bekannt.

14 Jahre zuvor

Herrlich.. Dann mal Ahoi!

Anouk
14 Jahre zuvor

second life analog!!!

Ich finde es nett…
Lg Anouk

Matze
14 Jahre zuvor

Leider war mir das klar… =(

bf
14 Jahre zuvor

aus bielefeld? das existiert doch gar nicht? irgendwas ist da faul.

14 Jahre zuvor

Watt knuffich 🙂

Ich find sowas ja auch immer viel spannender als die Leute, die angepasst rumlaufen.
Und kreativ isser doch. Wenn er dann noch spannend erzählen kann, ist das doch super, da interessiert der Wahrheitsgehalt doch wirklich überhaupt nicht mehr. 😉

Kirstin
14 Jahre zuvor

Warum bereichern solche Leute nicht kranke Kinder im Krankenhaus oder im Kindergarten und erzählen dort Ihre „Geschichten“ ???
Kinder sind dankbarere Zuhörer als Erwachsene auf dauer, wenns sich um spannende Abenteuer handelt.
Wat Frau Kronawitter macht ist echt lieb.. Und Recht hat se.. lieber so einen Spleen als trinken.

Nina
14 Jahre zuvor

Sowas gibt’s. In Wien (nähe Uni) lief bis vor kurzem immer ein Indianer rum. Der war vermutlich nicht gaga im Hirn, hat sich halt bloß mit irgendeinem Stamm identifiziert, entsprechend angezogen und ist Sommer und Winter so rumgelaufen. Ich glaube aber nicht, dass der viele Geschichten parat hatte, Indianer sind in der Regel ja nicht so redselig.

fuzzy
14 Jahre zuvor

Ahoj Käptn Blaubär!

Salat
14 Jahre zuvor

Boah, ne, Tom, das geht ja man gar nicht. In Bielefeld gab es vor allem die Leinenweberei Westermann und Söhne. Und die wurde verkauft, und auch die Nachfolger haben die nicht in die Pleite getrieben. Ganz zu schweigen davon, daß mein Papa *nicht* weggezogen ist und auch keinen Seemansspleen hat. Mein Onkel übrigens auch nicht.

😛 😀

Salat

Sentinel
14 Jahre zuvor

Er hat eine wirklich liebenswerte Frau. Und wenn beide ihr Leben so gut gestalten können ist es doch fast märchenhaft =)
Schön erzählt

MfG

Anita
14 Jahre zuvor

Besser, als wuerde er sich einbilden, ein begnadeter Heimwerker zu sein.
Es ist sehr hart, mit so jemandem verheiratet zu sein.
Fragt mal meinen Mann!

eulchen
14 Jahre zuvor

das ist ne ganz kluge Frau, die Frau Kronawitter. Ich verbeuge mich. Welch „junge“ Ehefrau von heute würde solch einen Spleen dulden? Heute werden die Jungs ja eher von ihren „Weibern“ in den Suff getrieben. Wie haben die alten Muttchen früher gesagt? Der Herr ist der Kopf, sein Wille geschehe. Die Frau ist der Hals, die weiss den Kopf zu drehe. Sehr schöne Story. Richtig menschlich.

Astrid
14 Jahre zuvor

Hehe, das hatte ich erwartet. Aber echt besser, ne Nervensäge mit Traumwelt als ein Trinker o.ä.

14 Jahre zuvor

Die Frau ist ja nett, wie sie alles mitmacht, aber … ob sie wohl auch mit einer Seebestattung einverstanden ist?
(Und wo macht man in so einem Fall eigentlich den Grabstein hin – oder gibt es da keinen?)

MacKaber
14 Jahre zuvor

So einen kannten wir auch mal. Der war noch keine 50, und kam täglich mit neuen, anfangs noch wahrscheinlichen Geschichten aus seiner Arbeitswelt herüber. Als wir über unsere Querconnections einen seiner zahlreichen Untergebenen auf seinen neuen Chef ansprachen, kannte der ihn gar nicht, hatte auch noch nie von ihm gehört. Kurze Zeit darauf war er von der Bildfläche spurlos verschwunden. Einige würden ihn schon gern ein einziges Mal wiedersehen – Um ihr Geld wiederzubekommen, das sie ihm ausgeliehen, bzw. ausgelegt haben.

Nihilistin
14 Jahre zuvor

@ Nr19 MacKaber: Das klingt fast so, als würden wir denselben kennen? 🙂 Hatten wir auch mal hier, und seine Geschichten wurden in dem Moment merkwürdig, als er KollegInnen anpumpte. Weil er im Moment grad nicht flüssig ist, aber seinen Sohn besuchen wollte, der grad in den USA studiert.
Es ist schon faszinierend zu sehen, dass es anscheinend wirklich lange funktioniert, Menschen mit einer komplett erfundenen Story zu täuschen. Wenn es so harmlos ist wie bei Käptn Blaubär hier, dann ist es amüsant. Wenn Menschen emotional oder finanziell auf so jemanden hereinfallen, ist es kriminell.

14 Jahre zuvor

@ Anouk: das hast du schön auf den Punkt gebracht 🙂

Die Frau hat recht: andere Männer trinken… aber er hätte ja ruhig mal mit ihr in Urlaub fahren und was Echtes erleben können, oder?

Fällt in die Kategorie „anstrengend, aber harmlos“. 🙂

Micha
14 Jahre zuvor

KollegInnen? *schauder*

Die Frau hat doch auch gelogen, wenn sie behauptet, aus Bielefeld zu kommen…

Sehr dubios.

Nihilistin
14 Jahre zuvor

@ Nr 22 Micha: Für Dich gern die Langversion: Kolleginnen und Kollegen.

Und sprich bitte B*e*e*e*d nie wieder aus. Du machst damit nur SIE auf dieses kleine Blog hier aufmerksam, und was das bedeutet können wir gar nicht ermessen.

isidor
14 Jahre zuvor

Dazu nur eines:

[url]http://www.youtube.com/watch?v=a0nmS1etLlo[/url]

Salat
14 Jahre zuvor

@Nihilistin: eh zu spät, ich hab’s doch schon mitbekommen. 😛

Salat

Kirstin
14 Jahre zuvor

@23 Hmm????

Hab ick irgendwat bei dieser Stadt verpasst?
Kenne nur den Spruch: Gott sprach es werde finster, und er schuf Bielefeld, Paderborn und Münster. 😀

Micha
14 Jahre zuvor

@24 Kirstin
Die Mondmission, soziale Gerechtigkeit und Bielefeld, was haben diese Dinge gemeinsam?

Alles Dinge, die es nicht gibt.

@23, Nihilistin
Sitzen zwei Emanzen am Tisch, sagt die eine „Reich mir mal bitte die Salzstreuerin.“
Ich find diesen sprachlichen Feminisierungszwang doof. Das grammatische Maskulin dient nun mal der Verallgemeinerung. Der Mensch. Nicht der Mensch und die Menschin.

Und als Ausgleich steht vor jedem Plural der weibliche Artikel „die“.
Ausgleichende Gerechtigkeit.

Mona ohne Lisa
14 Jahre zuvor

@23

ich witter Veschwörung….. die Illuminaten sind überall!

@Kirtin: http://fsinfo.noone.org/~abe/mirrors/bielefeld.html

lesen und Schlüsse ziehen 😉

Mona ohne Lisa
14 Jahre zuvor

entschuldige die Tippfehler… die Batterien meiner Tastatur sind quasi leer… ich reiche dann mal ein „e“ und ein „s“ nach…

Nihilistin
14 Jahre zuvor

@24 Kirstin
Gib einfach mal „Bielefeldverschwörung“ bei Wiki ein. Aber versprich mir, DIESES Wort (das jetzt nur extrem schwer aus meiner Tastatur geflossen ist) nie nie nie wieder auszusprechen, ja? 😉

@28 Salat
Du hast es echt schon mitbekommen? Bist Du auch schon IHNEN zum Opfer gefallen? 😉
(ich liebe diese kleinen hirnverbrannten Gimmicks des Web)

@25 Micha Ooch ick hab heut keene Lust uff sowat…et is Montach.

14 Jahre zuvor

@11 Nina: Ich kenne einen urbayrischen Indianer (also wirklich jetzt, nicht wie der Bielefelder), dessen Familie sich auch vor Jahrzehnten einem Stamm angeschlossen hat, alle Traditionen pflegt und 1, 2 mal im Jahr für einige Wochen rüber macht. Der erzählt sehr gerne Erwachsenen und Kindern seine Geschichten.

Tobi
14 Jahre zuvor

@25 (Kirstin):
Ich kenn das als

Es schuf der Herrgott in seinem Zorn
Bielefeld, Münster und Paderborn

und zum Thema „hab ich was verpasst?“ – ja, hast du.

[url]http://de.wikipedia.org/wiki/Bielefeldverschwörung[/url]




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