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Geschichten

Die Fee der Nacht -2-

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Manni gibt mir einen Stumper und obwohl ich mir eben noch vorkam, als würde ich immer noch von tanzenden Karotten, Nachtfeen und weißen Zimmern träumen, bin ich in der nächsten Sekunde hellwach und bekomme schlagartig eine Gänsehaut.
Manni will unwillkürlich einen Schritt in Richtung des Toten gehen, doch ich halte ihn zurück.

Nathalie, wie sich die Frau am Telefon genannt hatte, steht an den Türrahmen gelehnt und reibt mit ihrem nackten linken Fuß an ihrem rechten Schienbein.
Sie hat einen Finger an die roten Lippen gelegt und dann deutet sie mit diesem Finger auf den Toten: „Da liegt er.“

„Wie, da liegt er? Und jetzt? Äh, wie jetzt?…“
Ich kann nicht anders als stammeln und bekomme meine Gedanken nicht sortiert.

Manni zieht das Handy aus der Jackentasche und will eine Nummer eintippen, ich nehme an, daß er die Polizei rufen will.

„Nicht!“ haucht Nathalie: „Bitte nicht!“

Moment mal, erlebe ich das wirklich? In meinem Kopf ist alles wie in Watte gepackt. Normalerweise bin ich ein Mann schneller Entscheidungen und kann besonders in außergewöhnlichen Situationen sehr gut und glasklar denken. Aber jetzt will mir das nicht gelingen.
Müdigkeit, Schock, Koffeinmangel…

„Wie kommt der da hin?“ ist noch das Intelligenteste, das mir in diesem Moment einfällt und Nathalie atmet tief ein, will etwas sagen und wir beide schauen sie erwartungsvoll an. Ich sehe, wie Mannis Lippen zittern. Er wartet auf ihre Antwort.
Manni gehört zu den Menschen, die wenn sie sehr konzentriert zuhören, das vom Gesprächspartner Gesagte mit den eigenen Lippen stumm nachformen. Jetzt beben die Lippen und wollen Nathalies Worte mitsprechen, doch die tut uns den Gefallen nicht, sondern verdreht die Augen, sodaß man das Weiße sehen kann und rutscht am Türrahmen entlang auf den Boden.

„Ach, du Scheiße!“ entfährt es mir und Manni springt zu Nathalie, legt sie vorsichtig auf die Seite und ich will nun meinerseits mit meinem Handy am liebsten gleichzeitig die Polizei, die Feuerwehr, den Rettungswagen und die Bundeswehr anrufen. Egal wen, irgendwen, Hauptsache da kommt jemand und nimmt uns raus aus der Nummer, erklärt uns was das alles hier ist und nimmt endlich diese Watte aus meinem Kopf.

Wir haben ständig mit Toten zu tun, die Leiche an sich ist uns nichts Fremdes, auch nicht wenn sie mal ein Loch im Kopf hat und auch nicht, wenn sie sich dieses Loch selbst beigebracht hat oder von jemand anders gelocht wurde… Aber bitteschön, dann stehen immer zwei Uniformierte dabei oder jemand von der Kripo und wir bekommen einen Zettel.
Aber hier ist nur die schlaffe Nathalie und die macht keinerlei Anstalten, uns irgendwie weiter zu helfen.

Also, was zuerst? Krankenwagen, ja sicher, Krankenwagen und Arzt, der jungen Frau ist ja noch zu helfen und der Typ der in seinem Overall vor dem Kamin in einer Blutlache liegt, der ist auch nachher noch tot.
Wie tot?
„Sollte nicht einer von uns mal nachgucken, ob der wirklich tot ist?“ frage ich Manni zögerlich und der deutet bloß auf einen matschig grau-roten Fleck rechts an der Wand und sagt: „DER ist tot!“

„Nee, oder?“ sage ich: „Ist das das, wofür ich es halte?“

„Hm, ja, ich denke schon, das dürfte sein Gehirn sein oder so. Auf jeden Fall irgend was, was vorher in ’nem Menschen drin war. Oder noch besser: Egal was es ist, jedenfalls sollte es in dem Mann da drin sein und nicht da an der Wand.“

Nathalie begann leise zu stöhnen und schlug die Augen auf. „Wer sind Sie?“ fragte sie und blickte sich verwirrt um. „Was machen Sie in meinem Haus?“

„Ganz ruhig“, sagte Manni und schaute mich verwundert an.

„Wo ist Roland?“ fragte Nathalie und wollte sich aufsetzen, dann wich der verwirrte Ausdruck in ihren Augen wilder Panik und sie fing an zu schreien: „Hilfe! Hilfe! Polizei!“

Ja, was jetzt? Offensichtlich war die Frau vollkommen durcheinander und obwohl Manni und ich verheiratet sind und somit im Umgang mit schwierigen „Patienten“ sehr geübt sein dürften, fangen unsere Frauen wenigstens nicht an, plötzlich um Hilfe oder nach der Polizei zu rufen.

„Was machen wir denn jetzt?“ fragte Manni.

„Keine Ahnung. Wir können der ja keine runterhauen.“

„Nee, das funktioniert sowieso nur im Fernsehen, in der Wirklichkeit kriegt man dann ne Anzeige.“

Nathalie hatte die Augen wieder geschlossen und atmete stoßweise.

„Jetzt ist Schluss“, sagte ich und wählte auf dem Handy die Nummer des Notrufs.

Wenn man nun meint, nach der Mitteilung, man habe eine Leiche gefunden, komme die Polizei mit viel Tatütata und sei nach zehn Sekunden am Tatort, dann hat man zu viel Krimis geguckt.
Wie ich denn heiße, ob ich das mal buchstabieren könne, ob man das mit A oder mit Q schreibe, in welcher Beziehung ich denn zu dem Opfer stehe, ob wir denn schon einen Arzt gerufen hätten, ja woher wir denn dann wüßten, daß der tot sei, ob wir was mit der Tat zu tun hätten und ob eventuell noch ein Einbrecher in der Nähe sei, man komme dann…

Einbrecher! Das Stichwort des Abends!
Daran hatten Manni und ich ja überhaupt noch nicht gedacht. Wie doof sind wir eigentlich? Da kommen wir mitten in der Nacht in ein Haus, eine leichtbekleidete und verwirrte Frau öffnet uns und wir finden eine blutüberströmte Leiche. Und auf die Idee, daß der Mörder vielleicht noch im Haus ist, ja vielleicht im Zimmer nebenan hinter der Tür stehen könnte, auf die kommen wir nicht…

Inzwischen habe ich den Popelinemantel zusammengerollt und unter Nathalies Kopf gelegt. Die Frau wirkt als schlafe sie und träume etwas Schlechtes. Ihr Kopf rollt auf dem provisorischen Mantelkissen hin und her und sie brabbelt unverständliches Zeug.
Manni hat ihr die Füße hochgelegt, indem er einen Hocker untergeschoben hat.
Das soll beim Schock helfen. Ich habe mal irgendwo gelesen, das sei gar nicht das A und O bei einem Schock, aber wir können der Frau ja jetzt keine Magensonde legen oder eine Gehirn-OP machen, und da tut man halt irgendwas, von dem man glaubt es könne helfen.

Während wir auf die Polizei warten und Manni sich um die junge Frau kümmert, gehe ich mal vorsichtig zu der Leiche hinüber und umrunde den Körper. Ja, Manni hat Recht, von der anderen Seite bietet sich ein grauenvoller Anblick. Während es von hinten so aussieht, als sei der Mann völlig intakt und man nicht erkennen konnte, woher das viele Blut kommt, sieht man von vorne, daß ihm oberhalb des Kinns der gesamte vordere Schädel fehl.
Scheußlich!
Mir steigt der Mageninhalt hoch, ich kann so etwas nicht gut sehen. Wenn an mir herumoperiert wird, will ich meistens nicht einmal eine Betäubung und kann das auch gut sehen. Wenn aber schon im Fernsehen gezeigt wird, wie jemandem was raus- oder abgeschnitten wird, bekomme ich ein ganz komisches Druckgefühl und zwar an einer ganz komischen Körperstelle, nämlich tief unten im Schritt, so kurz vor dem Steißbein. Klingt das komisch? Soll es aber nicht, denn es ist wirklich so und ich kenne noch ein paar Leute, bei denen das auch so ist. Vielleicht gibt es da einen medizinischen Grund dafür?

Mir geht viel durch den Kopf und ich wende mich von dem Toten ab. Jedenfalls steht jetzt eindeutig fest, daß der Mann wirklich tot, aber sowas von tot…

„Gehen Sie sofort von der Frau weg!“ ruft eine Stimme von der Tür und ich sehe zwei Polizisten in ihren komischen blauen Uniformen, die sie aussehen läßt wie Rohreiniger oder Schädlingsbekämpfer.
Der eine hat seine Hand auf dem Holster mit der Pistole ruhen und mit der anderen bedeutet er Manni, sich zu erheben und von Nathalie zurückzutreten.

„Sie da!“ spricht mich der andere Polizist an: „Sie gehen mal ganz schön da rüber und zeigen Sie bitte dabei ihre Hände!“

Klar, die tun auch nur ihren Job und wer weiß, was denen über Funk durchgesagt worden ist.

Ich rufe dem Beamten zu, daß wir die Bestatter seien und hierher gerufen worden sind. Wir hätten mit der Sache nichts zu tun.

Der andere Beamte sagt zu seinem Kollegen was, so in der Art, er habe doch draußen auch den Leichenwagen gesehen und so.

Man guckt sich unsere Ausweise an, es kommen noch mehr Uniformierte, zehn Minuten später wimmelt es von Polizei, Rettungskräften und wichtigen Zivilisten.
Wir werden nach draußen gebracht und müssen in einem VW-Bus warten.
Ein dicker Beamter, der noch eine alte grün-beige Uniform trägt, „bewacht“ uns und löst dabei ein Kreuzworträtsel.

Nathalie wird auf einer Trage herausgebracht, ein Polizist hält eine Infusionsflasche hoch und dann wird die Frau in einen großen rotweißen Krankenwagen verladen.
Endlich ein bekanntes Gesicht. Staatsanwalt Dr. Knippelkamp steigt aus einem dunklen BMW und ich klopfe mit meinem Ring an die Scheibe des VW-Busses um seine Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.
Er lächelt als er mich erkennt, kommt herbei und plichtwieselnd öffnet der Bewachungspolizist die Schiebetür vom Bus.

„Was machen Sie denn hier?“ begrüßt mich der Staatsanwalt und reicht mir die Hand.

Ich kenne ihn von unzähligen Sterbefällen, die wir im Auftrag der Staatsanwaltschaft überführt haben und bei denen ich von ihm immer die Freigabepapiere holen musste.

Schnell klärt es sich, daß wir keine Mörderbuben sind und auf einmal behauptet jeder, man habe uns auch nicht dafür gehalten, sondern erst mal aus dem Weg geschafft und habe uns dann später „zur Sache einvernehmen“ wollen.

„Nee, nee, die können gehen“, sagt der Staatsanwalt mit einem Kopfnicken in unsere Richtung zu einem der älteren Kriminalbeamten. Der aber will jetzt erst noch alles ganz genau wissen und Manni und ich sind froh, daß wir die ganze Geschichte mal jemandem erzählen können.
Und obwohl wir gar nichts wissen und außer dem Einlassen ins Haus und dem Ohnmachtsanfall nichts mitbekommen haben, dauert dieses „Einvernehmen zur Sache in Form einer ersten Befragung“ über eine Stunde.
Endlich sind wir fertig, kriegen unsere Ausweise wieder zurück und wollen gehen, da ruft uns der Kripo-Beamte hinterher: „Wo wollen Sie denn jetzt hin?“

„Wir?“ frage ich verwundert: „Nach Hause natürlich.“

„Nix da, Ihr müßt doch noch die Leiche mitnehmen.“

„Aber wir sind doch diese Woche gar nicht dran mit den Polizeiabholungen.“

„Mir doch egal, wo Ihr doch schon mal da seid…“

Nicht eine Sekunde haben Manni und ich in dieser Nacht noch geschlafen. Wir sitzen noch aufgeregt und mit roten Augen im Büro, als Frau Büser zum Dienst erscheint.

„Was habt Ihr denn gemacht? Habt Ihr durchgefeiert?“

„Das, Frau Büser, das glauben Sie uns nicht!“ sage ich.

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 28. Mai 2012 | Peter Wilhelm 28. Mai 2012

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16 Kommentare
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11 Jahre zuvor

uiuiui. kann ja nich immer alles zucker sein 🙂 ich bin gespannt wies weiter geht! 😀 F5..F5…F5……

Mona
11 Jahre zuvor

Hallo Tom,
das ist spannender als jeder Krimi. Danke, dass Du Deine Erlebnisse aufgeschrieben und uns teilhaben läßt. Natürlich bin ich auch gespannt wie es weiter geht.
Liebe Grüße,
Mona

P.
11 Jahre zuvor

Realität?
Näääää … gib’s zu, du hast doch nur irgendwem das nächste Tatort – Drehbuch entwendet oder?
Sowas kann doch gar nicht in Echt passieren ..
*schwitz*
Schon krass ..

(Wann ist das alles passiert? Weißt du schon mehr, was da genau passiert ist?

flavius
11 Jahre zuvor

Es kommt mir vor, als hätte es lange nicht mehr eine mehrteilige Geschichte gegeben. Super, vielen, vielen Dank!

flavius
11 Jahre zuvor

Habe gerade das gemacht, was ich schon sehr lange machen wollte: Etwas in die Kaffekasse geworfen!

11 Jahre zuvor

Super Story, sehr dunkeldüster, geheimnisvoll und spannend! „plichtwieselnd“ gefällt mir 🙂

Konni Scheller
11 Jahre zuvor

Das Tatort-Drehbuch ist es sicher nicht. Tatort-Drehbücher sind qualitativ schlechter…

Sascha
11 Jahre zuvor

Also wenn nach einer kurzen Pause immer so ein Kracher kommt, dann wünsche ich Dir (und vor allem mir) noch viele Pausen, wenn auch ohne den unseligen Anlass…danke, Tom! Schön, dass Du wieder da bist!

Salat
11 Jahre zuvor

Feine spannende Geschichte. Magst du trotzdem mal den Tempuswechsel von Präsens ins Präteritum bei „Natalie begann leise zu stöhnen…“ korrigieren?
Der reißt einen so raus…

Salat

sakasiru
11 Jahre zuvor

Ich stell mir den Anruf bei der Polizei schön vor: „Ja, hallo, wir sind Bestatter und haben hier eine Leiche gefunden…“ und das um zwei Uhr morgens, das muss auch der Disponent erst mal kapieren.

Winnie
11 Jahre zuvor

Vielleicht wollte er mit dem sprichwörtlichen „Kopf durch die Wand“ und das ist schief gegangen.

11 Jahre zuvor

Gottchen, ist das spannend… mal wieder ne richtig schöne Bestatterweblog-Krimi-Geschichte. Ich bin gespannt.

11 Jahre zuvor

Wat ne schöne Geschichte. Ich bin gespannt wie es weiter geht. Man kommt ja fast um vor Spannung. Dieses komische Gefühl kurz vor Steißbein kenne ich übrigens auch.

Öschi
11 Jahre zuvor

Liest sich gut, wenn die Polizei einen Bestatter von einer Leiche fernhalten will…..
Danke Tom dass es wieder in alter Frische und Spannung weitergeht.
Schönen Sonntag bzw Muttertag euch allen !!
Öschi

Fleece
11 Jahre zuvor

Das mit dem Ziehen „am Steißbein“ kenne ich auch, hab ich schon seit ich denken kann, allerdings nicht in „ekligen“ Situationen, sondern eher in spannenden, die mit Emotionen verbunden sind.
Hab mal gehört, dass laut japanischem Verständnis das Bauchgehirn da liegen soll, das ja nun auch wissenschaftlich erwiesen ist (Haufen von Synapsen und Nervenverbinungen, wie klein kleines zweites Hirn eben). Das jedenfalls soll gute zwei fingerbreit unter dem Bauchnabel herumlungern und vor allem für Verarbeitung von Emotionen/emotionalen Entscheidungen verantwortlich sein. Das sprichwörtliche Bauchgefühl eben. 😉
Aber zur Geschichte: Fein! Endlich mal wieder eine typische TOM-Geschichte, wie ich sie liebe! 😀 Welcome back! 😉

x
11 Jahre zuvor

Direkt unterm Steißbein sitzt übigens auch das Muladhara/Wurzel-Chakra. Assoziert mit rot (wie Blut…), Überleben, Sicherheit und Wahrnehmung.

Was ja ein bisschen zur Leiche passt.




Rechtliches


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