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Günther XXVIII

Frau Birnbaumer-Nüsselschweif hatte ganz eigene Vorstellungen von Erziehung und dem Umgang mit Kindern. Es wird wohl lange noch ein Streit bleiben, ob man Kinder mit etwas elterlichem Druck erziehen soll oder ob man sie alles tun läßt und sie nur fördert und begleitet.
Doch für die Birnbaumer war es klar: Kinder mußte Zucht und Ordnung erleben, man mußte sie an die kurze Leine nehmen, jeden Schritt überwachen und bei Nichteinhaltung streng bestrafen. So war sie wahrscheinlich selbst erzogen worden.

Ob das schon vorher so gewesen ist, das weiß ich nicht, aber spätestens seit dem Einzug der Mädchen Monika und Ute herrschte im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif eine bigotte Frömmelei. Über jeder Tür des Hauses hing ein Kruzifix und es wurde erwartet, daß jedes Familienmitglied sich beim Überschreiten der jeweiligen Schwelle bekreuzigte.

Die Mädchen wurden jeden Tag um 4.30 Uhr geweckt, durften sich dann im Bad kurz die Zähne putzen, um dann in der Küche die Morgenlesung zu empfangen. Wie eine Matriarchin saß Frau Birnbaumer an der schmalen Seite des Küchentisches, während ihr Mann, je ein Mädchen rechts und links, in der Küchenmitte stehen mußten. Ein Kapitel aus der Bibel und eine langatmige Tageslosung trug die dicke Matrone vor, dann wurde ein Wechselgebet gesprochen, bei dem die Kinder an den richtigen Stellen auswendig gelernte Sätze aufsagen mußten.
Eine knappe Stunde dauerte das, erst dann gab es Frühstück.

Anschließend fuhr Herr Birnbaumer zur Arbeit und nachdem die Mädchen den Frühstückstisch abgeräumt hatten, ging es in die Badezimmer, wo Frau Birnbaumer-Nüsselschweif den Toilettengang und die Morgenwäsche der Mädchen persönlich überwachte.
Das war den Mädchen anfangs nicht merkwürdig vorgekommen, weil es auch bei ihrem Vater in der Villa Kunterbunt nur eine Waschgelegenheit gegeben hatte und es ihnen ganz natürlich vorgekommen war, sich vor anderen zu entkleiden und zu waschen, aber diese Anderen, das waren Vater, Schwester und Bruder gewesen und ihr Papa war sowieso immer mehr damit beschäftigt, den wasserscheuen Thomas zu bändigen und anzukleiden.
Aber hier stand eine fremde Frau mit großen neugierigen Augen dabei und beide Mädchen hatten sich schon im Geheimen darüber unterhalten, daß sie das Gefühl hatten, die Frau starre besonders auf die sich gerade mal so eben zeigenden Ansätze ihrer Brüste und auf ihren Schambereich.
Besonders unangenehm war den Mädchen aber, wenn samstags gebadet wurde und Herr Birnbaumer dann immer mal wie zufällig hereinschaute.
Obwohl ansonsten im Haus fast alle Türen immer abgeschlossen wurden, vor allem die Außentüren seitlich und hinten am Haus, gab es ausgerechnet für die Toiletten und Badezimmer keine Schlüssel.

Angefaßt oder zu ihrer Nacktheit irgendeinen Kommentar abgegeben, das hatte bislang nie jemand. Aber die Mädchen schämten sich einfach, sich oft so nackt präsentieren zu müssen und beobachtet zu werden.

Überhaupt hatte sich ihre Stimmung gewandelt.
Anfangs hatten sie gedacht, die Unterbringung bei der Dicken sei eine kurzfristige Maßnahme, so etwas wie eine Kur oder ein Erziehungsurlaub, bis Papa wieder eine richtige Wohnung hat. Deshalb hatten sie auch alles getan, um der Frau mit dem dicken Hintern und dem Bauch, der größer war als ihr Busen, zu gefallen. Sie fühlten sich gut behandelt und gut versorgt, Hauptsache man steckte sie nicht in ein Heim.
Deshalb nahmen die Mädchen auch die merkwürdigen Lebensumstände im Hause Birnbaumer-Nüsselschweif hin, ertrugen die überbordende Fürsorglichkeit und Strenge der Dicken, und beteten, gingen zur Messe und spielten die Rolle, die offenbar als Preis für die gute Behandlung von ihnen erwartet wurde.
Es war ja nur für kurze Zeit.

Doch mehr und mehr zeigte sich, daß die fette Frau gar nicht daran dachte und auch nicht mehr davon sprach, daß die Mädchen eines Tages zu ihrem Vater zurückkehren könnten. Alles wurde gefestigt und worauf das hinauslaufen könnte, bemerkten die Ute und Monika vor allem an dem Tag, als das Ehepaar ziemlich streng und keinen Widerspruch duldend, von ihnen verlangte, Mama und Papa zu ihnen zu sagen.

Richtig schwer war ihnen das nicht gefallen. Pflegeeltern sind ja auch Eltern und zu der ganzen Strenge kam ja auch der süße Zuckerguß, mit der Frau Birnbaumer-Nüsselschweif das alles überzog.
Das Lächeln, die milde Art, die Fürsorglichkeit, alles das stand der Strenge gegenüber. Außerdem wurde das Ehepaar nicht müde, den Mädchen immer wieder klar zu machen, daß ihr Vater ein ganz, ganz böser Mann sei.

Strenge und das, was Frau Birnbaumer-Nüsselschweif als „das Befolgen der heiligen Regeln“ bezeichnete, waren fast immer von einem süßlich-milden Gesichtsausdruck und einem aufgesetzten Lächeln begleitet.
Um nichts in der Welt hätte die dicke Frau den Eindruck zugelassen, sie sei keine liebevolle Mutter, nach innen nicht und vor allem nicht nach außen.

Die Zimmer der Mädchen waren angefüllt mit Spielzeugen und sogar einen eigenen Fernseher hatte jedes Mädchen, jedoch waren die Apparate abgestellt und nur wenn Herr Birnbaumer unten im Wohnzimmer ein Programm für die Mädchen einstellte, konnten sie es sehen. Die meisten Sender waren verpönt, erlaubt waren Unterhaltungssendungen mit volkstümlicher Musik, der Heimat wegen, und Sendungen wie „Sehen statt hören“, Tiersendungen und vor allem Beiträge und Predigten diverser Missionswerke.
Einzige Ausnahme war der Samstag, da durften die Mädchen im Kreise der ‚Familie‘ die Unterhaltungssendung im Ersten gucken und mußten erst nach dem ‚Wort zum Sonntag‘ ins Bett.

Die Sonntage liefen immer nach dem gleichen Schema ab, da durfte ausgeschlafen werden, denn die morgendliche Hausandacht entfiel zugunsten des Gottesdienstes in der Kirche, wohin man besonders früh aufbrach, um stets einen Platz in der ersten Reihe zu bekommen.
Zu Hause wurde dann im Kreis sitzend die Lesung des Tages noch einmal durchgesprochen und dann durften die Mädchen der Mutter des Hauses bei der Zubereitung des Mittagessens helfen.
Nach dem Essen wurde eine Stunde geruht und dann folgte jeden Sonntag, gleich bei welchem Wetter, ein Ausflug in die Natur. Davon wurde niemals abgewichen.
Bis zum Beginn der Sendung „Lindenstraße“, die immer gemeinsam angeschaut wurde, mußte man wieder zu Hause sein, dann hieß es für die Mädchen „ab ins Bett“ und die neue Woche begann am Montag wieder um 4.30 Uhr mit der Morgenandacht.

So ganz reibungslos, wie sich das hier liest, funktionierte das aber nicht. Ute und Monika waren Kinder, die es gewöhnt waren, viel Freizeit draußen im Garten und mit Freundinnen und Freunden zu verbringen. Und so war es nur eine Frage der Zeit bis sich mal die eine, mal die andere, manchmal auch alle beide gegen die Birnbaumers auflehnten. Sie verweigerten manchmal stur die Teilnahme an der Morgenandacht, mal wollte Ute sonntags nicht mit in die Kirche, ein anderes Mal hatte Monika im Badezimmer einen Hocker von innen vor die Tür gestellt.
Solchen Ungehorsam der undankbaren Kinder bestraften die Birnbaumers in erster Linie durch Nahrungsentzug und sofortiges Einschließen ins Kinderzimmer.
Blieb eines der Mädchen stur, kam es in den Keller.

Dort hatte Frau Birnbaumer-Nüsselschweif jenen Raum eingerichtet, den sie „das Refugium“ nannte. Es war ein trockener Raum, durch eine Wand abgeteilt von der Waschküche, fensterlos, mit einer nackten Leuchtstoffröhre an der Decke. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch und eine Kommode mit einer Waschschüssel und einem Krug, mehr gab es dort nicht.
Mit anderen Worten: der Raum glich einer Gefängniszelle.

Monika hatte schon zweimal dort drei Tage zugebracht und Ute einmal zwei Tage.

„Das hilft Euch beim Nachdenken! Wenn die Welt zu viele bunte Anreize liefert, können Menschen, vor allem junge Menschen, auch schon einmal den Blick auf das Wesentliche verlieren; und dann hilft es, wenn man die Regeln der heiligen Klosterväter beachtet und sich in ein Refugium in Klausur begibt. Lest in der Bibel, reinigt Eure Seele und ihr werdet gute Menschen werden“, lautete beispielsweise einer der Vorträge, die die Mädchen zu hören bekamen, wenn sie eingesperrt wurden.

Herr Birnbaumer nannte es „die Musche füttern“, wenn er jeden Abend, häufiger gab es nichts, einen frischen Krug Wasser und einen Teller Brote ins ‚Refugium‘ brachte. Er nannte die Mädchen überhaupt nur ‚die Muschen‘ wenn sie nicht dabei waren.

Das Leben im Hause der Birnbaumer-Nüsselschweifs kam Ute und Monika vor wie ein surrealer Traum, wie eine Art seltsamer Abenteuerurlaub, von dem sie dachten, er sei irgendwann einfach wieder vorbei und gehe vielleicht sogar schneller vorüber, wenn sie sich nur möglichst genau an die Anweisungen der Dicken hielten. Trotzdem fühlten sie sich wohl und waren irgendwann sogar für jede Freundlichkeit dankbar und froh, wenn „Mama“ nicht schimpfte und strafte.

Kann man sagen, daß Kinder aus jeder Situation das Beste machen?
Es ist schwer zu verstehen, daß die Mädchen einerseits unter der Situation litten und ihren Vater und das freie Leben in der Villa Kunterbunt vermißten, andererseits aber oft wochenlang überhaupt nicht mehr an früher oder an ihren Vater dachten.


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 27. Mai 2013 | Peter Wilhelm 27. Mai 2013

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11 Jahre zuvor

„Ihr seht wohl den Splitter im Auge des Nächsten, doch den Balken im eigenen Auge bemerkt ihr nicht. “

Relgiöser Wahn ist der Schlimmste von allen.

turtle of doom
11 Jahre zuvor

Ein Totalschaden von einer Frau.

Ich wage mal zu behaupten, dass die Kinder eine blosse Erweiterung des Egos sein dürften. Andere Menschen nach seinem Gutdünken aufziehen – so einfach ist es, selbst Gott zu sein.

Chris
11 Jahre zuvor

Auweh – jetzt ist die auch noch eine verkappte pädophile Lesbe! Nönönönö…

Yvonne
11 Jahre zuvor

Zitat:Es ist schwer zu verstehen, daß die Mädchen einerseits unter der Situation litten und ihren Vater und das freie Leben in der Villa Kunterbunt vermißten, andererseits aber oft wochenlang überhaupt nicht mehr an früher oder an ihren Vater dachten.
Nein, ist es nicht, es sind Überlebensinstinkte, die der Mensch entwickelt, um in besonderen Situationen nicht gänzlich abzudrehen.
Unterhält man sich zBsp mit Opfern väterlichen Missbrauch kommt oft der Spruch: Er ist trotzdem mein Vater und ich liebe ihn. Die Starken schaffen es mithilfe von Therapien ihr Leben aufzuarbeiten, die Schwachen werden drogensüchtig oder begehen Suizid.

11 Jahre zuvor

Nein, gar nicht schwer, wenn man weiß, dass man zum Überleben alles ausblendet.

Die Kinder sind durch die gleiche Hölle gegangen wie ihr Vater – und dann in den Händen von dieser bigotten Trulla gelandet, die mit lebenslänglich im Knast noch viel zu gut bestraft ist.
„Duck&Cover“ ist da für die Kids völlig normal.

Darf ich Manni helfen mit dem Adenauer?

Big Al
Reply to  Tante Jay
11 Jahre zuvor

Und ich hol` schon mal den Wagen.

Reply to  Big Al
11 Jahre zuvor

Während ich schonmal die Schaufel hole – oder soll ich lieber den Ofen vorheizen?

Oliver
Reply to  Kathrin
11 Jahre zuvor

Können Drachen überhaupt brennen? Und Vergraben? Ne, hinterher buddelt die sich noch selbst aus… Eigentlich dürfte doch nichts gegen eine kleine Zweckentfremdung der Schachtanlage Asse sprechen.

Mirko
Reply to  Oliver
11 Jahre zuvor

Asse? Bist du wahnsinnig? Am Ende kommt da noch sowas wie Hulk oder Spiderman in böse raus…

Derrick
Reply to  Big Al
11 Jahre zuvor

Ich dachte, das macht Harry.

simop
Reply to  Tante Jay
11 Jahre zuvor

Brauchen wir den Baseballschläger?

hajo
11 Jahre zuvor

.. darf ich tragen helfen?

Chris
11 Jahre zuvor

beim „Adenauer“ kann man doch noch einen Träger mehr gebrauchen…?

HIIIIIEEEEER!!!!!

Gray
Reply to  Chris
11 Jahre zuvor

Und wenn erst die BiNü drin ist… brauchste noch fünf mehr. Oder so.

hajo
Reply to  Gray
11 Jahre zuvor

.. und noch mindestens zwei, die auf dem Möbel sitzen
(sonst ersteht sie vielleicht wieder auf .. 😉 )

Mirko
Reply to  hajo
11 Jahre zuvor

Pflock durchs Herz und gebrochene Knochen sollen da helfen. 😉

Lochkartenstanzer
11 Jahre zuvor

Ich habe noch ein paar Holzscheite beizusteuern. Ist es eigentlich schon zu spät für ein Osterfeuer?

genomu
11 Jahre zuvor

…aber zum Hexenfeuer haben wir noch gut Zeit. 🙂

Elke ( Fännin )
Reply to  genomu
11 Jahre zuvor

Jepp!
Bis zum 30.4. auf dem Blocksberg im Harz.

Armada
11 Jahre zuvor

Kennt jemand diese Szene aus der Serie „hör mal wer da hämmert“, als Als Mutter beerdigt wird? Der Prediger (Wilson in dem Fall) hört gar nicht auf, einen nach dem anderen zum Sarg tragen aufzurufen.

BlackBudgie
11 Jahre zuvor

Die Birnbaumer-Nüsselschweif kommt wohl aus dem tiefsten, finstersten Teil des Mittelalters.
Unfaßbar, wie kann man nur mit Kindern in diesem Zeitalter so umgehen?
Gut, Kinder brauchen auch mal etwas Strenge dann und wann – aber DAS ist dermaßen übertrieben.
Die Mädels tun mir leid.
Hoffentlich bekommt diese B.-N. noch ihr Fett weg [sprich: jede Menge Ärger].

Öschi
11 Jahre zuvor

und ins Grab kommt sie mit dem Gesicht nach unten – falls sie wieder wach werden und zu graben beginnen sollte …….

Torsten
10 Jahre zuvor

Oh weia, äußerst übel.
Lebt das Rollenvorbild einfach schon nicht mehr oder ist Tom so sicher, dass keiner auf die Idee kommt, aufzuspüren, wer die Dame in Echt ist?
Bin ich zu sehr Optimist, wenn ich im noch am Leben Fall verutend hoffe, sie hat sich gewandelt?

turtle of doom
Reply to  Torsten
10 Jahre zuvor

Diese Fetthenne hat ein reales Vorbild. Ob sie ein aus verschiedenen Menschen zusammengewürfelter Mischcharakter ist, weiss ich aber nicht.

Aber man muss nicht lange suchen, um man findet an seinem eigenen Wohnort solche verblendeten, selbstbeweihräuchernde Trullas…

Florian
10 Jahre zuvor

Wann geht’s denn mit Günther weiter?




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