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Geschichten

Günther -VII-

Günthers Prozess war auf zwei Tage angesetzt. Die Staatsanwaltschaft wollte sicher gehen, daß sie alle Indizien und die Zeugenaussage von Frau Klemm ausreichen ausführlich vorstellen konnte.
Günthers Anwalt hatte drei Zeugen laden lassen. Das erschien zunächst wie der hilflose Versuch, durch drei Personen, die von der Tat nichts mitbekommen hatten, den Leumund des Angeklagten gut aussehen zu lassen.
Daß einer dieser Zeugen dem Prozess eine ganz überraschende Wendung geben würde, das ahnte zu diesem Zeitpunkt niemand.

Für Günther war es sehr belastend, als der Staatsanwalt Dr. Klippfisch fast einen ganzen Leitz-Ordner vorlas, in dem sein ganzes Leben öffentlich ausgebreitet wurde. Günther war erstaunt, was der alles wußte, da waren auch Kleinigkeiten dabei, die er selbst längst vergessen hatte. Es schien Günther so, als habe da jemand aus seiner Verwandtschaft etwas ausgeplaudert. Im übrigen ist er aber dieser Sache nie weiter nachgegangen und hat sich nie die Mühe gemacht, zu hinterfragen, wer da gegenüber der Polizei seine Aussage gemacht hatte.
Fast eine Stunde lang dauerte es, als der Staatsanwalt in den buntesten Farben schilderte, was Günther für ein Mensch sei und wie es zu der Tat gekommen sei. Für etwas, das für Günther nicht länger gedauert hatte, als ein Blitz am Himmel, brauchte der wirklich fast eine Stunde.

„Die sezieren dich da. Die haben alle Zeit der Welt und vierzig Kilometer Papier, um alles haarklein aufzuschreiben und dir vorzuhalten. Und du sitzt da, als armes kleines Würstchen und kannst immer nur deine Version der Geschichte erzählen, die dir sowieso keiner glaubt.“

Günthers Anwalt hielt dagegen, daß sein Mandant bisher vollkommen unbescholten sei und überhaupt kein Spanisch könne.
Zunächst wirkte der Anwalt etwas unbeholfen und der geschmeidige Staatsanwalt schien Oberwasser zu haben, doch Günthers Anwalt hatte offensichtlich seine Cleverness nur scheinbar unter dem Mäntelchen der Unbedarftheit versteckt.
Man konnte es dem Staatsanwalt ansehen, wie zornig und verblüfft er zugleich war, als Günthers Anwalt die Hauptbelastungszeugin Frau Klemm innerhalb von nur zwölf Minuten so verunsichert hatte, daß diese nicht einmal mehr wußte, ob sie an dem betreffenden Tag Geranien oder Kakteen gezupft hatte.
Ja nein, gesehen habe sie Günther überhaupt nicht, aber wer soll das denn sonst gewesen sein?
Nö, sicher sei sie sich nicht wirklich, aber das sei ja immer nur Günther gewesen, der wohne doch da.
Also, so richtig gesehen habe sie den Täter nicht und überhaupt habe sie ja die Tat nicht gesehen, sondern nur gehört und ob das Spanisch gewesen sei, das wisse sie so genau auch nicht, jedenfalls sei es mal kein Deutsch gewesen.

Günther könne aber gar keine anderen Sprachen, hielt ihr der Anwalt vor und ließ dann den Koffer vor Frau Klemm hinlegen, den Günthers Frau vom Schrank gezogen hatte.
„Ja ja, das ist der, den erkenne ich genau wieder.“

Der sei doch aber eindeutig blau und weder hellbraun noch kariert. Ob sie denn überhaupt noch so gut sehen könne, daß sie hier und jetzt eindeutig behaupten könne, Günther gesehen zu haben oder ob es nicht doch ein anderer Mann gewesen sein könne.

Sie geriet ins Stottern, die Aussage ins Wanken.
Dann kam der Anwalt auf einen ganz anderen Punkt zu sprechen. Nach Aussage von Frau Klemm, habe Günther den Tatort ja mit dem Auto verlassen.
Das habe sie jetzt zwar auch nicht so genau gesehen, nur durch die Schlitze vom Rolladen, wie der Mann da weggerannt sei. Dann habe sie aber das Brummen vom Motor gehört und wie da ein Auto schnell wegfährt.

„Mehr so ein tiefes Brummen, ein normales Autogeräusch oder noch was anderes?“ fragte der Anwalt nach und wollte eigentlich nur auf die Tatsache hinaus, daß Günthers Auto seit dem Mittag am Gehwegrand vor der Villa Kunterbunt gestanden hatte und nicht bewegt worden war.
Doch Frau Klemm sorgte für die nächste Überraschung. Nee, das sei ja ein ganz eigenartiges Geräusch gewesen, von diesem Auto da, das habe so gezischt.

„Wie gezischt?“

„Ja vor dem Losfahren, so als ob man Luft aus ner prallen Luftmatratze lässt und dann ein paar Sekunden später hat das nochmals so gezischt, wie wenn man beim Fahrrad die Luftpumpe vorne zu hält und dann das Ding so zusammendrückt. Haben wir als Kinder immer gemacht. Dann zischt die Luft unten raus und der Finger, wo man das Loch mit zu hält, der wird ganz heiß.“

Nach dieser Aussage hatte Günthers Anwalt ein fast schon dämliches Grinsen auf dem Gesicht und der Staatsanwalt verdrehte die Augen. Dem war klar, daß soeben seine wichtigste Zeugin wertlos geworden war.
Erstens konnte sie den Angeklagten doch nicht eindeutig als Täter identifizieren und mußte zugeben, daß sie nur EINEN Mann gesehen hatte, nicht DEN Mann. Zweitens hatte dieser Mann eindeutig in einer fremden Sprache geschrien, was für den gebürtigen Moselfranken Günther völlig untypisch war.
Drittens hatte sie ganz eindeutig das Abfahrgeräusch eines LKW mit Druckluftbremse beschrieben und nicht das des Opels von Günther.

Wenn kleine Kinder eine Pfütze sehen und niemand sie hindert, dann nehmen sie gerne Anlauf und springen dann mit beiden Füßen hinein, damit er schön spritzt.
Genau so nahm Günthers Anwalt nun Anlauf und sprang mit beiden Füßen in die Aussage von Frau Klemm hinein.
Er nahm den blauen Koffer, durchmaß nach einem fragenden Blick zum vorsitzenden Richter den Gerichtssaal, stellte den Koffer neben einem Saalbesucher auf den Boden, sodaß Frau Klemm ihn nicht sehen konnte.

„Schauen Sie mal Frau Klemm, ist das hier der Koffer, den sie gesehen haben?“ fragte er und hob den blauen Koffer dann hoch. Bevor Frau Klemm antworten konnte, bedeutete er ihr mit einem Handzeichen und den Worten: „Jetzt nicht antworten“, daß sie noch warten sollte.
Dann stellte er den Koffer wieder hin und hob den selben Koffer abermals hoch und fragte:
„Oder war es dieser hier? Na, was meinen Sie? Überlegen Sie genau!“

Frau Klemm wiegte den Kopf hin und her und man konnte sehen, wie sie sich das Gehirn zermarterte.
Dann nickte sie, spitzte die Lippen und sagte im Brustton der Überzeugung: „Der erste, ganz klar, der erste Koffer war es, der zweite ist zu dunkel. Ich bin mir ganz sicher.“

„Frau Klemm, der Angeklagte sitzt da drüben. Sie haben ja vorhin ausgesagt, daß sie diesen Mann kennen“, sagte der Anwalt, während er mit dem Koffer wieder nach vorne trat und auf Günther deutete. „Schauen Sie ihn sich doch noch einmal ganz genau an. Da steht ja noch ein Mann hinter meinem Mandanten, was hat der an?“ Dabei deutete er auf den Justizbeamten, der hinter Günther an der Tür stand.

Frau Klemm steckte ihre Zunge zum Mundwinkel heraus, so angestrengt kniff sie die Augen zusammen. Günthers Anwalt hatte darauf hinaus gewollt, daß die offensichtlich sehschwache alte Dame nun die Kleidung des Justizbeamten falsch beschreiben würde.
Doch was machte die? Sie sprang von ihrem Stuhl auf, schlug die linke Hand vor den Mund und rief:
„Mein Gott, der war es, ja, ich bin mir sicher, der da war es. Der hat die Frau von dem da tot gemacht. Den habe ich gesehen!“ Dabei deutete sie auf den Justizbeamten.

Das war der Moment, als im Saal Gelächter aufbrandete, was der Richter sofort unterband und in dem der Staatsanwalt seufzend in seinem Sessel zusammensackte.

An dieser Stelle des Prozesses kamen dann die drei weiteren Zeugen zu Wort. Fast schon hatte Günthers Anwalt auf deren Vernehmung verzichten wollen, so sicher war er sich, daß der Prozess nun Frau Klemms Aussage platzen würde. Doch jetzt waren sie einmal da.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie oft und eindringlich diese Leute schon vernommen worden waren. Der eine kannte Günther schon jahrelang und arbeitete beim Getränkemarkt dort im Gewerbegebiet. Er schilderte, daß Günther ein ganz Netter sei, der keiner Fliege was zu Leide tun könne.
Der zweite war zu jener Zeit Polier auf einer der Baustellen gewesen und gab ab, es seien an diesem Tag Betonplatten geliefert worden. Das habe ein Subunternehmer eines Subunternehmers gemacht und die Fahrer seien alle aus Bulgarien oder Moldawien, auf jeden Fall so Wodkasäufer, so genau wisse man das ja nie und es sei ja auch egal, sowieso alles die selben Kerle.

Der dritte Zeuge war ein Mann, der regelmäßig bei Günther Limonade gekauft hatte und eigentlich aussagen sollte, daß Günther ein ganz ruhiger und gemütlicher Typ sei.
Wie gesagt, die Männer waren alle mehrfach schon befragt worden. Doch jetzt vor Gericht sagt dieser Typ dann doch auf einmal: „Ja, ist doch klar, der kann das doch gar nicht gewesen sein. In der Zeitung hat gestanden, daß die Nachbarin um viertel vor den Schrei gehört hat. Genau um viertel vor war der Günther aber bei mir am Lager vorbei gelaufen, den hab ich ganz genau gesehen, mir war das aufgefallen, weil der so einen roten Kopf hatte und daher stampfte wie ein Walross.
Ich denk noch, was macht der Günther hier, um diese Zeit, da verkauft der doch in seiner Budengarage sein Zeug, aber wissen sie was, ich hab gedacht, dem ist vielleicht ne Katze weggelaufen oder so. Aber der war das, den hab ich gesehen, um genau viertel vor.“

Die Sensation war perfekt!

Günther wurde freigesprochen und der Richter schrieb der Staatsanwaltschaft ins Gebetbuch, den richtigen Täter zu suchen und nicht den Erstbesten und Offensichtlichsten zum Täter abzustempeln. Eine Ohrfeige für den Staatsanwalt!

Nur Frau Klemm, die nach ihrer Aussage gleich mit dem Zeugenzettel zur Kasse nach unten gegangen war, stand da, als Günther mit seinem Anwalt das Gerichtsgebäude verließ und fragte einen der Zeitungsreporter: „Wie? War der das jetzt doch nicht?“


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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 1. Juni 2012 | Peter Wilhelm 1. Juni 2012

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Glückauf
12 Jahre zuvor

ENDE?

simop
12 Jahre zuvor

Solche „Zeugen“ hab ich ja gern … muss gar kein Gewaltverbrechen sein, es reichen so schöne Sachen wie Kehrwochen („ich habe ganz genau gesehen, Sie haben das Eck nicht geputzt!“) , Parkplätze („doch, doch, das waren Sie, der gestern beim Ausparken die Ecke weggefahren hat! Ich kenne doch Ihr blaues Auto!“ Ja- aber das habe ich seit 1Monat nicht mehr?) und ähnliches… *grummel*

Micha
12 Jahre zuvor

Brille Fielmann gute Frau Klemm

Yeti
12 Jahre zuvor

Ich hoffe mal das sie die alte sehschwache Maulwurfkuh dann juristisch drangekriegt haben, sowas will man sich ja gar nicht vorstellen..

matakuka
12 Jahre zuvor

@Yeti
Wieso? Die Dame hat doch nicht wirklcih was falscvh gemacht. Sie hat Schreie gehört, die Polizei gerufen, und tatsächlich war ein Mord geschehen. Dass sie nicht unterscheiden kann, ob es nun der Justizbeamte war oder aber der Gärtner, das hätte bei den Ermittlungen bereits berücksichtigt werden müssen. Vielleicht wurde sie ja immer nur gefragt „Und was hat der Günther dann gemacht“? Und der erste, der drauf kam, dass es auch Nicht-Günther gewesen sein könnte, war der Anwalt.

turtle of doom
12 Jahre zuvor

@ Yeti: Nur wenn du was Falsches aussagst und es auch weisst, dass es falsch ist, dann kann man dich drankriegen.

Dann gibts auch die Freiheitsberaubung…

Es gibt aber auch das Phänomen der „Zeugen“ (oder sogar „Täter“), die einfach einmal im Leben ernstgenommen werden wollen und sich bei der Polizei melden.




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