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Zwei sind einer zu viel -1-

Der Anruf kam Montag morgens um kurz vor sieben Uhr. Wenn um diese Zeit beim Bestatter das Telefon klingelt, dann kann es sich nur um einen Mitarbeiter handeln, der sich krank melden will, oder um Menschen, die einen Sterbefall anmelden müssen.
Man hofft dann, daß es nicht der kranke Mitarbeiter ist. Wie soll man den auf die Schnelle ersetzen?
Eine Frau ist am Apparat, sie kann vor lauter Tränen kaum sprechen, muß ihre Sätze immer wieder unterbrechen und erst nachdem ich beruhigend auf sie eingeredet habe, wird langsam deutlich, daß es die Mutter eines Kindes ist, das gestorben ist.
Leonie, mir war nicht klar, ob es sich dabei um den Namen der Anruferin oder des verstorbenen Kindes handelt. Ich muß nochmals nachfragen. „Leonie Leuschel“, sagt die Frau, wieder ist es zwei drei Minuten still am anderen Ende, man ahnt allenfalls, daß die Frau von einem Weinkrampf geschüttelt wird, sie scheint den Hörer zu zu halten.
„Meine Tochter, sie liegt im Bartholomäus-Stift. Können Sie die abholen? Wir sollen da hin kommen, ich kann das aber nicht, ich kann mir Leonie nicht anschauen. Holen Sie sie bitte ab!“

Leonie ist also das Kind und die Frau sagt mir, daß Sie gemeinsam mit ihrem Mann bei uns vorbei kommen will. Ich sage ihr, daß wir sie anrufen, sobald Leonie da ist und was wir an Papieren benötigen.
Dann beruhige ich die Frau nochmals ein bißchen, versuche ihr wenigstens die Angst vor dem Besuch bei uns zu nehmen, damit ist das Gespräch zu Ende.
Es besteht für mich kein Zweifel daran, daß der Anruf echt war, Bestatter haben da ja so ihre schlechten Erfahrungen gemacht. Trotzdem überprüfe ich die im Display angezeigte Nummer anhand der Internetauskunft, rufe vorsichtshalber zurück und frage etwas Belangloses, habe aber wieder diese Frau am Telefon, die sich auch diesmal mit dem Namen Leuschner gemeldet hat.

Manni und Dieter kommen kurz darauf zum Dienst, ich halte Manni nur den Zettel hin, auf dem ich auch das Wort ‚Kind‘ notiert habe und schaue über Mannis Schultern hinweg auf seinen Kollegen Dieter, mache eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung, die Manni aber richtig deutet und er schüttelt nur den Kopf. Dieter ist noch nicht so weit, er ist noch recht neu, hat selbst zwei kleine Kinder und ich weiß, daß Manni ihn nun für eine andere Fahrt einteilen wird und auf den Polen Gregor wartet, der seit einem guten Jahr ein fast wortloser aber sehr zuverlässiger Mitarbeiter ist.

Eine halbe Stunde später kommt auch der Pole, der immer etwas später kommen darf, weil er mit der Eisenbahn kommt und keine andere Verbindung bekommt. Dafür bleibt er immer auch etwas länger, fegt den Hof, wäscht die Wagen oder räumt auf.
Ein guter Mann.

Die beiden machen sich auf den Weg und ich gehe rüber ins Büro, wo nacheinander meine Bürograzien eintreffen, um auch die darauf vorzubereiten, daß wir einen Kindersterbefall haben.

Glücklicherweise haben wir das nicht so oft… Wobei… Eigentlich muß ich sagen: Glücklicherweise haben wir überwiegend alte Verstorbene, deren Zeit gekommen war und Kinder sind eher die Ausnahme. Aber in den letzten Jahren hatten wir einige große Beerdigungen von jüngeren Menschen, die wir sehr individuell und einfühlsam gestaltet haben und so etwas spricht sich herum.
Aus kaufmännischer Sicht eine gute Sache, aus menschlicher Sicht belasten uns aber die Sterbefälle von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen doch auch ein wenig.

Gegen zehn Uhr erst sind Manni und Gregor zurück, sie hatten noch eine Stunde lang dem Arzt im Krankenhaus wegen einer Unterschrift hinterher laufen müssen.
Ich fahre mit dem Aufzug runter in den Keller und gehe in den Vorbereitungsraum, in dem das Mädchen neben dem Edelstahltisch auf einer Trage auf dem Boden liegt.
Ein hübsches Mädchen, blasse Haut, dunkelbraune, gelockte Haare. Die Todespapiere verraten mir, daß es nur 10 Jahre alt werden durfte und schon am Sonntag verstorben war. „Mukoviszidose“, sagt Manni hinter mir.
Ich nicke, so als ob ich verstehen würde, was Mukoviszidose für die Betroffenen bedeutet. Man kann es vermutlich als Nichtbetroffener gar nicht nachvollziehen.

Wir heben das Mädchen, das unter dem weißen Laken völlig nackt ist, auf den Tisch und achten dabei darauf, daß ihr Körper vom Tuch bedeckt bleibt.
Mannis Gesichtszüge sind angespannt, er ist ein Profi, er kann mit der Situation umgehen, aber auch ihm fällt es, wie wohl jedem Bestatter, schwer, ein Kind „auf dem Tisch“ zu haben.

„Wir lassen sie erst einmal hier, die Eltern kommen gleich“, sage ich zu Manni, dem Fahrdienstleiter und er nickt.

Wenig später kommt Frau Büser in mein Büro und teilt mir mit, daß der Vater von Leonie gekommen sei und in einem der Beratungsräume auf mich warte.
Alle wissen, daß ich in solchen Fällen die Beratung grundsätzlich selbst mache. Das ist nichts für Sandy oder sonst jemanden.

Der Mann, der im Beratungsraum nervös auf und ab geht, ist etwa 40 Jahre alt, mittelgroß und schlank und sieht mit seinem vollen dunklen Haar und der sonnengebräunten Haut sehr gut aus.
Ich überlege noch, wie ich das Gespräch beginnen soll, da raunzt er mich an: „Wird aber auch Zeit, daß endlich mal jemand kommt. Ich warte hier schon eine Ewigkeit.“

„Bitte nehmen Sie doch Platz“, sage ich und setze mich. Nur nicht auf seine Gereiztheit eingehen, lieber kleine Brötchen backen und Ruhe einkehren lassen, der Mann hat gerade seine Tochter verloren und ist nicht wirklich Herr seiner Sinne.

„So, haben Sie was zu schreiben? Dann schreiben Sie mal schön auf. Weißer Sarg, mit Goldkante ringsherum, oben drauf hundert rote Rosen, eine Schleife ‚Ich hab Dich lieb, Papi“, keine Trauerfeier in der Kapelle und morgen dann abholen und einäschern. Leonies Urne kommt dann auf dem katholischen Friedhof Nord zu meiner Großmutter ins Grab, nehmen Sie irgendeine weiße Urne. Keine Aufbahrung, nichts, nur der geschlossene Sarg mit den Blumen bis Dienstag in der Friedhofszelle. Kein Brimborium.“

Na, denke ich, das nenne ich mal eine klare Ansage.

„So, und jetzt bringen Sie mich bitte zu meiner Tochter!“ befiehlt mir der Mann mit herrischem Ton und steht auf. Ich bleibe sitzen, schaue ihn nur an und deute auf den Stuhl auf dem er soeben noch gesessen hat. Dann tippe ich mit dem Kugelschreiber auf meine Unterlagen: „Erst noch ein paar Formalitäten.“ Ich nehme das Telefon, wähle die Nummer von der Werkstatt und sage zu Manni kaum hörbar, daß wir gleich herunter kommen. Er stöhnt auf, denn das bedeutet, daß er in Windeseile das Mädchen etwas zurecht machen muß.

Widerwillig und mit angesäuertem Gesicht nimmt der Mann wieder Platz und während ich die persönlichen Daten abfrage und versuche meine Formulare voll zu bekommen, trommelt der Mann die ganze Zeit nervös mit seinen Fingern auf dem Tisch herum und schaut alle zwei, drei Minuten auf seine Uhr.

Ich bitte ihn um die notwendigen Papiere, zumindest eine Geburtsurkunde brauche ich. Die hat er zusammengefaltet in seiner Jackentasche und auch seinen Ausweis lasse ich mir zeigen.

„Haben wir’s dann endlich? Ich will Leonie dann sehen und muß auch weg.“

„Moment, ich frag mal eben nach“, sage ich, wähle wieder die Nummer von unten und bekomme Gregor an den Apparat. Noch fünf Minuten dauere es wohl, meint der.

Zu Herrn Leuschner sage ich: „Nehmen Sie doch bitte noch einen Moment draußen in der Halle Platz, Leonie wird jetzt in einen der Aufbahrungsräume heraufgebracht.“

„Nichts da!“ herrscht mich der Mann an: „Kein Brimborium hatte ich doch gesagt, oder? Das ist alles nur mit Aufwand verbunden, der letztlich Geld kostet. Sehen Sie lieber zu, daß meine Tochter zügig auf den Friedhof gebracht wird. Ich will sie jetzt auf der Stelle sehen, egal wo sie jetzt ist.“

„Ihre Tochter wird in einigen Minuten heraufgebracht, so lange werden Sie sich gedulden müssen; und nein, das wird Sie nichts kosten“, sage ich und halte dem Mann die Türe auf. Er verläßt gespielt langsam den Raum und bleibt dann in der Halle stehen.
„Sie können sich ruhig noch einen kurzen Moment setzen. Es kommt dann jemand, wenn es so weit ist“, sage ich und er antwortet: „Wann ich mich wo setze, bestimme immer noch ich.“

Gut, man muß Verständnis für die besondere Gemütsverfassung von Trauernden haben, aber im Weggehen sage ich unhörbar „Arschloch“.

Einige Minuten später kommt Sandy mit einem kleinen Tablett mit einer Kaffeetasse in der Hand zu mir uns sagt Bescheid, daß Leonie jetzt fertig ist, sie wollte dem Mann gerade den Kaffee bringen, als Mannis Anruf kam.
Ich nicke ihr zu und wir gehen gemeinsam zu Herrn Leuschner.

„Das wird aber auch Zeit!“ knurrt der und Sandy macht unverzüglich dieses ‚Ich-beiß-Dir-gleich-den-Kopf-ab‘-Gesicht.

„Kommen Sie bitte“ sage ich und bin um sachliche Freundlichkeit bemüht.

Während Sandy seinen Kaffee auf dem niedrigen Tisch vor der bequemen englischen Ledercouch in der Halle abstellt, den er sicher nie trinken wird, folgt mir der Mann auf dem Fuß. An der Tür zu dem Gang, der zu zu den Aufbahrungsräumen führt, gehe ich noch vor, doch an der Tür zu Leonies Raum bleibe ich stehen, öffne die Tür nur und lasse ihm den Vortritt.
Zuvor werfe ich aber einen Blick hinein.
Das Mädchen war ja nicht verstümmelt oder entstellt, sah sowieso aus, als ob sie schlafe und so hatte Manni nicht viel zu tun um sie für eine kurzfristige und ungeplante Aufbahrung vorzubereiten.
Er hat ihr ein weißen Totenhemdchen mit vielen Rüschen und Spitze angezogen und sie auf einen Sargwagen gebettet, über den er ein weißes Laken gelegt hat, das den Wagen komplett verhüllt.
Unter dem Laken und unter Leonies Kopf hat er ein Kissen oder eine Schachtel, das kann ich nicht sehen, gelegt, sodaß das Mädchen mit leicht erhöhtem Oberkörper da liegt, als schlafe es ganz friedlich.
Ihre Arme liegen ausgestreckt an den Seiten ihres Körpers und es scheint als lächele das Kind etwas. Aus unserem Fundus hat Manni eine rote Seidenrose auf die Brust des Kindes gelegt und an der Wand brennen die sechs Öllämpchen.
Es ist eine unwirkliche Szenerie, man hat wirklich das Gefühl, als sei man Gast bei einer Schulaufführung von Schneewittchen und man müsse die Prinzessin nur noch wachküssen.

Herr Leuschner stockt beim Eintreten etwas und ich erwarte, daß er nun zu weinen beginnt, schluckt oder starr vor Trauer wird.
Nichts von alledem passiert. Er geht nur einen Schritt in den Raum hinein, bleibt dann noch fast zwei Meter von Leonie entfernt stehen und tut etwas mit dem ich nicht gerechnet hatte, er zückt sein Handy und macht ein Foto von der Leiche seines Kindes.

Kaum hat das Foto sein elektronisches Auslösegeräusch gemacht, ist es fast eine einzige Bewegung, das Handy wegzustecken, sich umzudrehen und den Raum wieder zu verlassen.

„Also dann“, sagt der Mann, dreht sich gar nicht weiter zu mir um und geht durch den Gang, in die Halle und zur Tür. „Sie schicken mir dann die Rechnung“, sagt er noch und dann ist er weg.

Sandy, die die ganze Zeit in der Halle gewartet hat, sagt nur: „Was war denn das für’n komischer Vogel.“

Ich zucke mit den Achseln und will Sandy noch belehren, daß jeder Mensch eben auf seine Weise trauere und man niemanden daran messen dürfe, wie er sich in einer so schweren Zeit verhält.
Doch da wußte ich nicht, was wirklich los war.


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 13 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 4. Februar 2015 | Peter Wilhelm 4. Februar 2015

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10 Kommentare
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Red Queen
11 Jahre zuvor

Ich bin sprachlos.
Ein Foto von dem toten Kind? Andererseits wurden früher ja oft Bilder von den Toten gemacht, auch wenn ich das doch ein wenig makaber finde. Ich glaube nicht, dass ich eine solche Erinnerung an mein Kind würde haben wollen. Da gibt es doch viel schönere Erinnerungen. Allerdings muss ich sagen, dass mein letzter Chef die komplette Beerdigung seines Vaters gefilmt hat. Ich frag mich zwar, wer das nochmal gucken will aber OK. Jeder wie ers braucht.
Der tolle Vater in Deiner Story hätte sich ja auch nicht unbedingt aufführen müssen wie ein Riesenarsch 😉
Ich warte auf jeden Fall gespannt auf die Fortsetzung 😀

11 Jahre zuvor

Oh mann…. so wenige Worte und schon so viel Antipathie…. Was für ein A…… Und wenn das seine Art ist zu trauern, dann ist es eine Sch…. Art!

11 Jahre zuvor

menschen gibt esd, da meint man das kann nicht normal sein!
aber wie du schon schreibst, jeder trauert auf seine art udn weiße, wobei ich nicht sicher bin was da passiert ist in dem moment!
aber ich muss gestehen ich habe hochachtung sowohl vor dem beruf des bestatters wie auch vor der aufgabe eltern zu ihren toten kindern zu begleiten!

Micha
11 Jahre zuvor

Und und und und was ist mit der letzten Geschichte? Die ist doch noch nicht zu Ende, Tom. Du kannst doch jetzt nicht die nächste anfangen, und uns hier auf glühenden Kohlen verschmoren lassen.

Adriana
11 Jahre zuvor

Ich weiß nicht wie ich reagiert hätte an Deiner Stelle. Natürlich hat jeder seine Art das zu verarbeiten und zu trauern, aber so eine Gefühlskälte…

Meine Hochachtung vor Deiner Ruhe und Professionalität!!

Hab ne richtige Wut im Bauch wenn man aus den Zeilen liest wie ignorant der da „durchgerannt“ ist. Wie ein Besuch beim Zahnarzt: „…dann bringen wir es mal hinter uns!“ 🙁

Lingling
11 Jahre zuvor

Erster Gedanke – Mukoviszidose ist eine Erbkrankheit, die rezessiv vererbt wird… ich glaube irgendwie nicht, dass das seine leibliche Tochter ist… ich hoffe nur, das hat er nicht an der Kleinen ausgelassen, bevor sie gestorben ist. Wenn ich mir vorstelle, dass ihr Vater sie SO behandelt hat, nachdem er jahrelang ihr Papa war, dann schüttelts mich…

Kirstin
11 Jahre zuvor

Das ist doch Normal das man das tote Kind fotografiert, oder doch?
Ich meine, ich brauche kein Bild meiner Mutter. Es reicht lediglich aus die Augen zu schließen und schon sehe ich sie vor mir.

Roichi
11 Jahre zuvor

Klingt nach Scheidungskrieg und dem Kind dazwischen.

Marco
11 Jahre zuvor

Für mich klingt das (im Zusammenspiel mit der Überschrift und dem letzten Satz) danach, dass das gar nicht der Vater ist, sondern irgendwer anders, bspw. ein Boulevardreporter…
Aber das passt wiederum nicht dazu, dass Tom sich den Ausweis hat zeigen lassen.

Bremer Bestatter
8 Jahre zuvor

Bitte liebe Tom,lass mich nicht auf glühenden Kohlen sitzen, bring bitte Teil 2 .




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