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Geschichten

Klappe halten – Ich war selbst mal Kind und habe Hunger!

Ein glühweinseliger Pudelmützenträger rempelt mich an und gießt mir heiße, stinkende Zuckerplörre über den Ärmel meiner Jacke.
Seine kurzbeinige Frau, die ihre viel zu dicken Waden in bunt bestickte Stiefel gepresst hat, stolpert zwischen uns und ergänzt die noch etwas ärmlich aussehende Glühweinmarkierung auf meinem Arm mit Bratwurstfett und einer Portion Billigsenf.

Weihnachtsmarkt!

Glückseligkeit verkündende Bimmelmusik winselt mir von allen Seiten Weihnachtslieder in die Ohren und meine Nase wird von hunderten Duftkerzen betäubt.
Der einzige halbwegs angenehme Geruch, der sich durch diese männertötende Duftmischung der Vanille-Blutorange- und Kürbis-Bluttampon-Duftkerzen an die Reste meiner Nasenschleimhäute wagt, ist feines Anis- und Mentholaroma.
Es entströmt einer Bonbonbude, in der allerlei bunte Bonbonmischungen wohlfeilgeboten werden. Der Anis-Mentholduft lockt auch mich näher und ich bewundere die Auslage.
Hinter der Theke sitzt eine gelangweilte Studentin, die nicht eine Sekunde von ihrem Handy hochblickt. Das Licht des Handydisplays beleuchtet das Gesicht der jungen Frau von unten und ich denke gerade, daß sie sehr hübsch aussieht, da sehe ich etwas sehr Interessantes.

Die junge Frau greift, ohne hochzuschauen, nach rechts in ein Regal, nimmt eine kleine Flasche und schüttet aus ihr einige Tropfen in einen kleinen Topf, der ihr gegenübersteht. Der Topf steht auf einem kleinen Einplattenkocher und in ihm simmert Wasser.
Sofort steigt wieder eine kleine Nebelwand Anis-Mentholgeruch empor.

‚Die verdampfen da Duftöl!‘, denke ich und schlagartig wird mir klar, warum es an diesen Bonbonständen immer so stark und gut riecht, und warum die Bonons dann daheim aber nach gar nichts schmecken. Alte Mentholbetrügerin, du!

Nicht für alle, aber doch für ganz viele ist ja der Weihnachtsmarkt nur noch eine weitere Entschuldigung oder Ausrede, um sich zu noch einem Anlass sinnlos zuzuschütten. Aus gutem Grund sind also die Stellen, an denen Glühwein oder Met verkauft wird, immer besonders stark frequentiert.
Vor drei Jahren waren wir mit Hans und Petra auf dem Weihnachtsmarkt und als ich mich an den Buden etwas umschauen wollte, tippte Hans sich an die Stirn und motzte ganz entrüstet: „Wir sind doch nicht zum Engelchengucken hier!“

Ich schon! Ich gucke gerne Engelchen.
Einen Glühwein trinke ich auch immer. Und in diesem Jahr fand ich ihn besonders gut.
Aber sonst bin ich ja mehr für’s Essen und außerdem muß ich ja mit dem Auto nach Hause. Also suche ich einen Stand, an dem es irgendetwas vom toten Tier gibt, das gebraten wurde.
Während ich in der Schlange stehe, höre ich, wie eine Dame vor mir den sichtlich gehetzten Weihnachtsmarktessensverkäufer fragt:

„Sagen Sie mal, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Schupfnudeln und Maultaschen?“

Nun sind Schupfnudeln in diesem Fall kleinfingerdicke, etwa 3-5 cm lange Nudeln aus Kartoffelteig, die mit etwas Sauerkraut serviert werden. Maultaschen hingegen sind die schwäbische Variante der Ravioli. Sie werden auch „Herrgottsbescheißerle“ genannt, weil sich in ihrem unverfänglich nudeligen Inneren hervorragend auch eine Fleischfüllung verstecken läßt, die der Schwabe an fleischfreien Freitagen oder in der Fastenzeit am lieben Gott vorbei in seinen Magen schmuggelt.

„Schupfnudeln sind mit Sauerkraut“, antwortet der Verkäufer mit der fetttriefenden Schürze. Damit hat er zwar recht, aber diese Aussage beschreibt natürlich den Unterschied zwischen diesen beiden Nudelspezialitäten nur unzulänglich.

„Ach, und sonst sind die gleich?“

„Nee, die Maultaschen kosten Dreisechzig, die Schupfnudeln Zweiachtzig.“

„Als Verbraucherin habe ich das Recht, zu erfahren, was Sie für Produkte haben.“

„Das eine sind Schupfnudeln, das andere sind Maultaschen.“

„Sie müssen schon entschuldigen, wir sind nicht von hier. Was ist denn jetzt der Unterschied?“

„Schupfnudeln sind die da drüben in der großen Pfanne, und die Maultaschen sind hier vorne, bitteschön.“

„Was ist denn da drin?“

„In den Schupfnudeln ist gar nichts drin.“

„Und in den Maultaschen?“

„Füllung.“

„Ach was?“

„Jau! – Wollen’se jetzt was?“

„Sind Sie mal lieber nicht so unfreundlich, man wird ja noch mal fragen dürfen. Machen Sie lieber noch ne Kasse auf, hinter uns ist schon ne ganz schön lange Schlange. Sind die Maultaschen glutenfrei?“

„Gluten-was?“

„Haben Sie so eine Tafel mit den Allergenen und Inhaltsstoffen?“

„Ja, da an der Seite hat der Chef sowas aufgehängt. Wenn’se da hingucken, dann sehen’se, daß in beiden a, g und h drin ist.“

„Frechheit!“

„Wollen’se jetzt was, oder nicht?“

Ich hebe die Hand, schaue den Weihnachtsmarktessensverkäufer an und sage: „Ich nehme Schupfnudeln, bitte.“ Irgendwie muß es ja weitergehen.

Um Himmels Willen! Was habe ich getan? Die Schupfnudelkaufinteressierte ist ja nicht alleine da, das war mir auch nicht entgangen. Neben ihr steht ihr etwas dümmlich grinsender Mann. Was ich aber übersehen habe, das ist das Kind. Die beiden haben eine etwa achtjährige Göre dabei. Einen Jungen, der aussieht, als habe man ihn aufgepumpt.
Prompt ernte ich Entrüstung seitens der Mutter:

„Was fällt Ihnen denn ein? Sehen Sie nicht, daß ich ein Kind dabei habe?“

Meine Güte! Was kann es Wichtigeres geben, als eine Mutter mit Kind! Höchstens noch Behinderte1!

Wieder keift mich die Mutter an: „Wie können Sie es wagen, ich habe ein Kind dabei!“

Ich beherrsche mich, so für 3 bis 6 Sekunden, dann denke ich mir, daß 2017 ja jetzt bald vorbei ist und ich im kommenden Jahr noch genügend Zeit habe, brav zu sein. Also sage ich:

„Klappe halten! Ich war selbst mal Kind und habe Hunger! Außerdem bin ich eine Transgenderperson, bin jüdischen Glaubens und lebe in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung mit einem schwangeren katholischen Priester aus Afrika, der Laktoseintoleranz hat.“

Schwups, ich habe eine Portion Schupfnudeln mit Sauerkraut in der Hand und der Fettschürzige grinst: „Geht auf’s Haus!“

1 Alle Nichtbehinderten bitte wieder abregen. Ich darf Behindertenwitze machen. Aus hunderten von Zuschriften weiß ich, daß sich meine behinderten Leserinnen und Leser über solche Späße amüsieren und sich keineswegs benachteiligt oder beleidigt fühlen. Theater machen immer nur die Sowieso-immer-Betroffenen. Inklusion bedeutet auch, in Witzen vorzukommen.

Ich hatte in diesem Artikel das Wort Glückseligkeit mit zwei e geschrieben, also Glückseeligkeit. Einer meiner liebsten Verschreiber.
Für mich hängt das irgendwie mit der glücklichen Seele zusammen, aber das ist natürlich verkehrt.

Wikipedia meint dazu:
Das deutsche Wort „Seele“ stammt von einer urgermanischen Form *saiwalō oder *saiwlō ab. Diese ist einer Hypothese zufolge von dem ebenfalls urgermanischen *saiwaz (See) abgeleitet; der Zusammenhang soll darin bestehen, dass nach einem altgermanischen Glauben die Seelen der Menschen vor der Geburt und nach dem Tod in bestimmten Seen leben. Unklar ist allerdings, wie verbreitet dieser Glaube war; daher wird der Zusammenhang in der Forschung nicht allgemein akzeptiert, zumal eine Verbindung zwischen dem Totenreich und *saiwaz (bzw. davon abgeleiteten Formen) in germanischen Quellen nicht bezeugt ist. Es wird ein Zusammenhang mit samisch saivo angenommen, einem urnordischen Lehnwort, das ein Totenreich bezeichnet.

Seligkeit (von idg. salin „Glück, Heil“) bezeichnet einen Zustand der vollendeten Erlösung bzw. des Heils, aber auch des Glücks. Zur Vollendung soll im Christentum die Seligkeit im Himmelreich kommen, doch gilt sie als Verheißung bereits für dieses Leben, wie insbesondere in den Seligpreisungen zu Beginn der Bergpredigt zum Ausdruck kommt.

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 8 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 7. Januar 2018 | Peter Wilhelm 7. Januar 2018

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5 Kommentare
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Erika
6 Jahre zuvor

Einfach genial Dein Wortwitz und wie Du den Leuten gekonnt aufs Maul schaust. Ich liebe Deine Geschichten.

Gaia Rabenkrähe
6 Jahre zuvor

MPreg* ist ja eigentlich so gar nicht mein Fall… Ich musste grade so lachen, dass mein Sohn, bei dem ich grade Sesseldienst (ins Bett bringen) mache, ganz empört geschimpft hat: „Mama, so kann ich nicht schlafen, ey!“
Großartig!

*Male Pregnance (Männerschwangerschaft)

datBea
6 Jahre zuvor

Großartig! Herrgottsbscheißerle kenn ich nur ohne „e“ lach.

6 Jahre zuvor

Toller Text. Ich stolperte nur über das mit dem Tampon (evtl.mögen andere Männer ja solche Zusammenhänge nicht?), ein Schreibfehler hat sich wsl.eingeschlichen, wo der Einplattenkocher drin vorkommt? Muß leider für mich in Anspruch nehmen,eine Behinderung zu haben, aber der Text amüsierte mich, stellt also auch für mich kein Problem dar! Hoffe, bist gut reingerutscht nach 2018!




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