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Quittegelb

Quitte

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Es gibt ja Gegenden, da haben sich die Vorteile der Primogenitur noch nicht herumgesprochen. Ja manchen sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erbfolgen, bis hin zur Ultimogenitur überhaupt gar nicht bekannt.
Also, damit hat es folgende Bewandtnis: Wir sind es ja, aufgrund der bei uns herrschenden Rechtsordnung und weil wir nicht anders kennen, gewöhnt, daß wenn ein Mensch verstirbt, alle seine Nachkommen normalerweise gleichberechtigt viel erben.

Das ist natürlich auf den ersten Blick gerecht, kann aber auch Nachteile haben. Deshalb gibt es die Primogenitur, die besagt, daß nur der älteste Sohn oder Nachfahre beispielsweise eines Bauern dessen Grundbesitz und Hof erbt.
Der Vorteil dieser Methode, die für die einzelnen anderen Nachkommen natürlich Enttäuschungen mit sich bringt, liegt vor allem darin, daß der Grundbesitz am Stück vererbt wird und nicht unter den Kindern zerstückelt und aufgeteilt werden muß.

Nur so konnten über Jahrhunderte Landwirte an große Ländereien kommen und diese auch erhalten. Hinzu kommt, daß mit jeder Heirat wieder neues Land als Mitgift dazu gekommen ist.
Übrigens gibt es auch die eben schon erwähnte Ultimogenitur, bei der nicht der älteste Nachkomme alles erbt, sondern der jüngste. Auch das kann sinnvoll sein, wenn das Ziel dieses Vererbungsprozesses ist, daß ein Nachkomme möglichst lange im Besitz des Erbes oder möglicherweise auch der Krone ist. Denn, man kann es sich vielleicht denken, beide Begriffe spielen auch bei der Thronfolge eine entscheidende Rolle.
Der große Nachteil beider Erbwege ist, daß möglicherweise nicht der Geeignetste den Zuschlag bekommt. Im Übrigen sei noch erwähnt, daß je nach Testament und allgemeiner Sitte die anderen meist nicht komplett leer ausgingen. Manche bayerischen Bauern haben ihrem Erben die Verpflichtung mit auf den Weg gegeben, ihre leer ausgegangenen Geschwister ein Leben lang durchzufüttern.

Während in Westfalen beispielsweise Äcker und Gehöfte immer nur an einen vererbt wurden, ist das hier bei uns, rings um Mannheim und Heidelberg offenbar anders gewesen. Da gibt es viele schmale Grundstücke, die davon künden, daß einstmals prachtvolle Grundstücke in schmale Streifen salamisiert worden sind, um jedem Kind ein Stückchen zu geben.
Am Ende kann keiner was damit anfangen, die Schmalwiesen werden dann, oft erst nach jahrzehntelangem Streit, an irgendwen verkauft. Aber oft stellt sich ein Erbe quer und so überdauern diese Bodenfragmente jahrzehntelang als Kleingarten, Abstellfläche oder Obstwiese. Gern gesagter Spruch: „Mein Grundstück ist zwar nur 4 Meter breit, dafür aber 120 Meter lang, ich könnte eine Straßenbahn drauf parken.“

Warum erzähle ich das alles? Weil ich eine Labertasche bin.
Aber das alles ist auch die Erklärung für jenen Garten, von dem ich Euch erzählen will.

Es liegt schon ein paar Jahre zurück. Damals ging ich mit meinem Hund gerne hier in den Feldern spazieren. Und bei diesen Ausflügen kam ich auch immer an einem verwilderten Garten vorbei. Dieser hatte seinen Ursprung ganz offensichtlich in der Nichtbeachtung der Primogenitur.
Denn auch er war höchsten 4 Meter breit und ewig lang. An seinen Rändern wuchsen hohe Bäume, die knappe freie Fläche weiter im Inneren des Gartens war meterhoch von Kraut und Unkraut überwuchert und Geziefer wie Ungeziefer summte, flatterte und vermehrte sich allenthalben.
Ringsherum hatte einstmals ein aus Holzlatten bestehender Zaun gestanden, dem die Jahrzehnte und das Wetter übel mitgespielt hatten. An fast allen Stellen war er zusammengebrochen und lag krumm am Boden.
Ein dichter Bodenbewuchs aus Brom-, Him- und anderen Stachelbeeren verhinderten mit ihren borstigen Ranken, daß Kinder und große Fremde das Grundstück betraten. Gepflegt wurde der Garten also ganz augenscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr.

Und so wurde ich zum Dieb. Genauer gesagt, wurde ich zum Mitglied einer Diebesbande. Denn durch den Plural wird ja bekanntlich der Wegnahmetäter zum Bandenkriminellen. Und den Plural bildete in diesem Fall meine Gattin.
Denn eines Tages waren wir beide mit dem Hund unterwegs, als die Pluralistische zu mir sagte: „Guck mal, da wachsen ja Quitten!“ Und dabei deutete sie auf einen Baum am Rande eben dieses verwilderten Gartens.
Ja, tatsächlich, an einem dieser Bäume hingen dicke, weithin gelb leuchtende Früchte. Quitten! Jawohl, davon hatte auch ich als Städter schon gehört und schaute mir dieses Obst näher an. Ganz eindeutig ist diese Frucht mit dem Apfel oder der Birne verwandt, jedoch deutlich größer.

„Davon holen wir uns welche“, beschloß die Allerliebste. Doch ich zierte mich: „Wir können da doch nicht einfach was abpflücken!“

„Alles was übern Zaun wächst darf man nehmen.“

„Das hab ich ja noch nie gehört.“

„Doch, man darf sogar alles das nehmen, was man mit den Händen erreichen kann, wenn man sich übern Zaun lehnt.“

„Ach was? Das glaub ich nicht, dann dürfte man ja auch im Supermarkt alles wegnehmen.“

„Darf man ja auch.“

„Was????“

„Ja, man muß es dann nur an der Kasse bezahlen.“

„Moment mal, das ist doch etwas völlig anderes.“

„Nö, aber siehst Du hier irgendwo eine Kasse?“

„Nein.“

„Na also!“

Wieder einmal hatte der absolute Nonsens über die Weisheit gesiegt und wieder einmal hatte die ewige Eva einen Adam zu Frevelhaftem angeleitet und wir pflückten uns fünf, sechs oder auch zwei Dutzend dieser herrlichen Früchte ab.
Ich biß in eines der verführerisch schönen Stücke hinein. Wie saftig, herrlich und aromatisch würde diese paradiesische Adamsfrucht, dieser gülden glänzende Adamsapfel sein!

Saftig? Nein. Herrlich? Nein!

Pelzig war das Obst, haarig, steinhart und saftlos wie eine aus Torf gepreßte Steinqualle…

„Du Depp! Man kann Quitten doch nicht so essen.“

„Warum nicht? Was soll man denn sonst damit machen?“

„Die muß man auskochen und aus dem Saft macht man dann Quittengelee!“

„Na denn“, sagte ich.

Daheim werkelte die Allerliebste dann etwa vier Tage an jeder dieser steinharten Früchte, klopfte mit diversen -eigentlich dem Manne vorbehaltenen- Werkzeugen auf dem Obst herum. Aber es gelang ihr den urtümlichen Apfelahnen tatsächlich Saft und Mus zu entlocken.
Das kochte sie dann ein. Nun ja, was die hiesigen Weiber halt so zusammenkochen. Nicht immer trifft das meinen Geschmack.

Doch am nächsten Sonntag reichte mir mein von Gott angefluchtes Weib zum knusprigen Brötchen ein Töpfchen mit dem Gelee von der verbotenen Frucht.

Was soll ich sagen? Goldgelb lag der Dicksaft auf meiner Brötchenhälfte, glasklar, gülden glänzend und aromatisch duftend. Und der Geschmack erst! Ein süßes und zugleich saures Geschmackserlebnis erster Güte machte sich auf meiner Zunge breit.
Ja, so muß es sein, wenn ein Engelein auf Deine Zunge pinkelt.

Genug von dieser abgedroschenen Natursektweisheit.

Auf jeden Fall hatte es sich gezeigt, daß man aus Quitten etwas sehr Schmackhaftes machen kann und daß die Allerliebste, bei allen gewohnten Einschränkungen, tatsächlich etwas Leckeres zubereiten kann.

Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Wochen oder Monate die Quitten so für gewöhnlich am Baume herumbammeln. Aber wir gingen noch ein paar Mal, meist im Schutze der aufziehenden Dämmerung an jenem Baum vorbei und füllten gerne auch mal eine dieser großen, blauen IKEA-Taschen.

Eines Tages führte uns der Weg in ein griechisches Lokal.
Und was servierte der ostadriatische Wirt zum Nachtisch? Quitten, gebacken im Ofen, gesüßt mit Honig und gewürzt mit jeweils einer Nelke.

„Daß ißt Geheimniß auß mein Dorrf. Musse man die Quitten in die Mitte durchschneide, mit Honick begieße und lange bei niedrige Teperraturr in die Backeoffe backe.“

Also haben auch wir von unserem schon schwindenden Vorrat der Goldgelben einige genommen, sie mit einer Axt in zwei Hälften geteilt und im Backofen auf die beschriebene geheimnisvolle Weise zubereitet.
Wahrscheinlich lag es daran, daß der Grieche dieses alte Geheimnis aus seinem Dorf so warmherzig ausgeplaudert hatte; denn das Geheimnis schien entweiht zu sein: Schlichtweg gesagt funktionierte diese Form der Zubereitung nicht.
Aus dem Backofen kam so etwas wie süßsauer riechende Pantoffelleichen.
(Da man Pantoffel nicht mit zwei L schreibt, handelt es sich dabei nicht um Bäume, sondern um verstorbenes Obst.)

Zufällig kam ich wieder einmal an diesem Lokal vorbei und fragte den Geheimnisfrevler, warum das nicht geklappt hat. Nun, auch dieses Geheimnis verriet er mir. Für diese Form der Zubereitung bedürfe es besonderer Quitten, die nicht so hart seien, nur in Kleinasien wachsen und die er immer beim Türken an der Ecke kaufte.

Nun denn.
So ging es dann einige Jahre lang. Immer zur angesagten Zeit der Quittenreife führte uns unser Weg zum bandenhaften Diebstahl an den Quittenbaum.
(Wobei sich hier die Frage stellt, ob man im Dativ oder Akkusativ klaut. Denn einerseits führte uns unser Weg immer an den Baum, doch handelt es sich ja auch um einen bandenhaften Diebstahl an dem Baum.)

Wir, unsere Kinder und alle die wir mit einem Glase des Selbstgemachten beschenkten, konnten gar nicht genug von diesem Gelee der verbotenen und geklauten Frucht bekommen.

„Mann!“, sprach mein Weib eines Tages: „Wir müssen wieder Quitten holen!“

Damit wir den Hund im Falle einer hündischen Ermüdungserscheinung schonend transportieren konnten, führten wir einen Bollerwagen mit. Natürlich rein zufällig auch an dem Tag, als wir den Quittenbaum erneut heimsuchten.

Als ich die Hand zur ersten Frucht ausstreckte, ertönte ein lauter Ruf: „Weg da, Du Lump!“

Und aus dem Inneren des Garten steuerte ein alter Mann mit einem Gehstock auf mich zu. „Darf man klauen? Darf man einem alten Mann sein Obst stehlen? Dir sollen doch die Hände abfallen, Du Dieb Du!“
Den Stock über dem Haupte schwenkend näherte sich ein etwas gebeugt gehender Grauhaariger. „Und Ihr seid auch noch zu zweit! Diebespack! Ausländerpack!“

Mir fiel nichts Besseres ein, als zu sagen: „Ich bin kein Ausländer!“

„So? Von wo kommst Du denn? Von hier?“

„Aus Essen, aus dem Ruhrgebiet!“

„Ausländer! Sag ich doch, Ausländer!“

Aber gut, ich sah schon am Gesicht des Mannes, daß seine Aufregung nur gespielt war. „Wir wollten nur ein paar von den Quitten holen. Die pflückt ja sonst niemand und dann fallen sie runter oder verfaulen am Baum.“

Inzwischen war der Alte bei uns angekommen, lehnte sich mit dem Hintern an seinen Gehstock, den er halbschräg zwischen Gesäß und Boden geklemmt hatte und begann sich eine Pfeife zu stopfen. „Meine Maria hat früher auch immer Gelee von diesen Quitten gekocht.“ Mit wasserblauen Augen sah der Mann durch uns hindurch, schien an seine Maria zu denken und dann rüttelte er sich auf und meinte: „Kinder, nehmt Euch von den Quitten soviel Ihr wollt, die pflückt ja wirklich keiner mehr. Ich bin doch froh, wenn jemand sie holt.“

Als die Pfeife brannte, nickte der Mann uns noch einmal zu, klopfte mir auf die Schulter und stockelte dann den langen Feldweg entlang.

Ja nun! Jetzt hatten wir offiziell die Erlaubnis des Besitzers des verwunschenen Gartens und durften hochamtlich die nun nicht mehr verbotenen Früchte ernten.

Doch was war das?
Noch ein paar Mal waren wir am Quittenbaum und in den folgenden Jahren ernteten wir noch oft diese Früchte.

Aber seit es nicht mehr verboten war, hatten Baum, Obst und das Gelee ihren Zauber verloren – das Gelee schmeckte nie wieder so, wie am Anfang.

Irgendwann haben wir es dann aufgegeben.

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 13 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 4. März 2017 | Peter Wilhelm 4. März 2017

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7 Jahre zuvor

Diesen Satz finde ich ganz köstlich: „Ein dichter Bodenbewuchs aus Brom-, Him- und anderen Stachelbeeren verhinderten mit ihren borstigen Ranken, daß Kinder und große Fremde das Grundstück betraten.“
Im Laufe der Jahre hat man auch geklaute Quitten und ihr Gelee über, erst recht ehrlich gepflückte 🙂

Winnie
7 Jahre zuvor

Das war schon zur Kinderzeit so, dass das Verbotene besser schmeckt. Wir hatten damals auch Obstbäume in unserem Garten, aber die, obschon gleiche Sorte, auf Nachbarsgrundstück schmeckte IMMER besser als die Eigenen.
Heimlich über den Zaun und Äppel klaun. Das war toll. Als uns die Nachbarin freiwillig welche gab, damit wir den Zaun nicht immer kaputt machen, war der Spass vorbei. Keiner mochte mehr Äpfel und Birnen.

Erdmöbeltischler
7 Jahre zuvor

Dabei kann man aus Quitten außer süßem Frühstücksgenuß auch anderes machen.
Erst letztes Wochenende habe ich den Likör aus den Quittefrüchten des vorigen Jahres auf Flaschen gezogen.
Ebenfalls goldgelb.




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