Geschichten

Gorrom

gorrom

Man nannte sie im ganzen Dorf nur die alte Klare und eigentlich war die Zeit schon so weit voran gegangen, daß es Frauen wie Magdalena Klare, so hieß die Alte nämlich mit vollem Namen, nirgendwo sonst mehr gab.

Im Dorf hatte man auf sie den Spruch gemünzt: Von der Wiege bis zur Bahre, alles macht die alte Klare.
Damit spielte man darauf an, daß das alte Kräuterweib in dem abgelegenen Flecken die einzige Person mit irgendetwas Ähnlichem wie medizinischem Sachverstand war.

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Seit wann die alte Klare sowohl bei Geburten die Winzlinge aus dem blutigen Schlot zog, wie sie das zu nennen pflegte und auch die Alten zum Tode bettete, dann wusch und himmelsfertig machte, das wußte keiner so ganz genau. Die einen sagten, die alte Klare sei schon immer da gewesen, die anderen meinten, sie sei aus der Fremde, wahrscheinlich aus Bessarabien gekommen.

Für die letzte Variante sprach, daß die alte Klare eine doch sehr denkwürdige Sprache hatte und ihre Worte seltsam zu setzen wußte, mit einem schwer gerollten R und durchsetzt mit fremd klingenden Wörtern, von denen wieder die einen sagten, das sei Jiddisch und die anderen meinten, das sei so etwas wie Ungarisch oder Rumänisch oder Bulgarisch…

Den Menschen war es gleichgültig, denn hatte jemand irgendein Wehwehchen oder plagte einen das Zipperlein, so war der erste Weg der zur alten Klare.
Die wohnte in einem kleinen Häuschen am östlichen Ende des katholischen Birnengartens und selbst der Pfarrer wußte nicht, warum ausgerechnet dieses alte Kräuterweib dort ein bischöflich verbrieftes Wohnrecht für das ehemalige Messnerhäuschen hatte. Der Bischof, der das verfügt hatte und alle, die etwas davon hätten wissen können, waren längst tot; die Alte hatte sie alle überlebt.
Jedes Jahr am Martinstag legte sie dem Pastor brav eine blechern klingende Münze und einen Laib frisch gebackenen Brotes auf den Tisch, das war der im Ausgleich zu zahlende Pachtzins für das Haus.

Wahrscheinlich wäre eine Frau wie sie vor nicht allzu langer Zeit noch von einem durchreisenden Inquisitor auf den Scheiterhaufen geschickt worden. Doch obwohl das Hexenbrennen ja früher in Deutschland große Mode war, sagten die Chroniken des kleinen Ortes nichts darüber aus, daß jemals ein hexenbrennender Kirchenmann seinen Fuß auf die Gemarkung gesetzt hätte.

Legte sich also in einem der Häuser des kleinen Weilers eine der Frauen in den Wehen nieder, so kam die alte Klare und wußte was zu tun war. Hatte jemand ein Furunkel, eine Zerrung oder das Magengrimmen, so wußte sie auch dann ein Mittelchen, auf daß es diesem Menschen binnen kürzester Zeit wieder besser ging. Ja und wenn einer ihrer Mitmenschen sich zum Sterben hinlegte, dann war die alte Klare ebenfalls zur Stelle und hielt die kälter werdenden zittrigen Hände, wusch die todesperlennasse Stirn und sprach beruhigende Worte, bis das letzte Licht in den Augen der Gehenden noch einmal aufgeflackert hatte, dann waren sie tot.

Ja, die Augen wären nicht einfach so starr und tot, es sei immer ein Flackern darin und einmal gehe dieses Flackern aus, das sei der Moment, da die Seele sich löse und dann flackere es noch einmal auf und erst wenn die Seele gegangen sei, dann gehe auch das kleine Licht im Inneren der Menschen ganz aus.
So hat es die alte Klare immer gesagt und jeder glaubte daran, daß es so sei.

Außerdem müsse in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof immer eine Kerze brennen, sonst käme der Tod und nehme die Menschen mit, ohne daß deren Seele davon fliegen könne.

Um diese Kerze kümmerte sich die Alte natürlich höchstpersönlich und es wurde im Dorfkrug geunkt, sie habe eine Art innerer Uhr eingebaut, die ihr immer genau sage, wann die Kerze durch eine neue zu ersetzen sei, manchmal sehe man die Alte sogar mitten in der Nacht zur kleinen Kapelle eilen.
Nein, ausgehen durfte diese Kerze nicht.

Man kann wohl annehmen, daß viele Dorfbewohner an den mit fremden Worten gespickten Zauber der Alten gar nicht glaubten. Vermutlich sahen sie in der alten Kräuterfrau etwas Exotisches über das man leicht belustigt reden durfte, die man aber nicht düpieren wollte und weshalb man auch immer machte, was die Alte einem aufgab.
Schließlich half ihr Hokuspokus ja.
Und so geht die Mär, selbst der Pfarrer habe seine Füße bei Vollmond in der Milch einer Ziege gebadet und sei seitdem von einem herben Schweißfuß befreit. Auch der Mann von der Mühle, der eigentlich immer eine wegwerfende Handbewegung machte, wenn die Rede auf die alte Klare kam, soll bei ihr gewesen sein, um sich in einer Sitzung um Mitternacht gleich vierzehn Warzen in seinem Gesicht besprechen zu lassen.
Ob das stimmt, das weiß man nicht, jedenfalls habe der Mann, so berichteten Durchreisende, keine einzige Warze mehr im Gesicht gehabt.

„Malaker nicht! Kerze muß brennen! Warteburga!“ schimpfte die alte Klare, als der neue Pfarrer, der als Ersatz für den feierlich in den Ruhestand und in seine Heimat gegangenen alten Pastor gekommen war, den Kerzenzauber der Alten zu unchristlichem Aberglauben erklärte und ihr untersagte, da ständig mit dem Wachs herumzukleckern.

„Aber Tod bringt, Kerze muß brennen! Augen brechen, von alle, Kadamer.“

Der Pfarrer winkte nur ab, schüttelte etwas angewidert den Kopf und drohte der Alten mit dem ausgestreckten Zeigefinger, eine Geste, wie man sie nur kleinen Kindern zeigt oder alten Leuten, die man für etwas senil hält.

In dieser Nacht starb der alte Hammblöcker. Der war zwar nirgendwo besonders beliebt, ein alter, verbitterter Hagestolz und Geizkragen, aber immerhin ein Nachbar, den man eben geduldet hatte. Viel Auswahl an Nachbarn gibt es in so kleinen Orten nicht.
Keiner weinte dem alten Hammblöcker eine Träne nach, aber es war natürlich vollkommen selbstverständlich, daß die Burschen den Leichnam in die kleine Kapelle am Friedhof trugen, wo die alte Klare schon wartete.

„Aber nicht, daß Sie wieder Ihren abergläubischen Kräuterhexenzinnober mit der Kerze praktizieren!“ wies der Pfarrer die Alte an, als er ihr die kleine Kapelle aufschloss. Den Schlüssel hatte er sich nämlich aushändigen lassen, fest entschlossen, die letzten Reste des Mittelalters aus dem kleinen Dorf zu treiben.

Doch die alte Klare hatte nur einen Blick für ihre Kerze, die immer noch verloren in einer Ecke der Kapelle vor sich hin brannte. Nur noch ein winziger Rest Wachs war da, gerade genug, um die Flamme nicht erlöschen zu lassen. Die Alte war erleichtert, wenigstens hatte der Pfarrer die Kerze, auch wenn sie ihn störte, nicht einfach gelöscht oder weggetan.
Als alle gegangen waren und noch bevor sie den alten Hammblöcker wusch und ihm seine knarzigen Finger ineinander schob, damit er betende Hände hatte, zog die alte Klare eine neue Kerze aus der Tasche ihres weiten Umhangs und entzündete sie am verlöschenden Flackern der vorherigen.
Die neue Kerze drückte sie in das weiche Wachs ihrer Vorgängerin und dann erst hätte man so etwas wie ein zufriedenes Lächeln im Gesicht der Alten gesehen, wenn man dabei gewesen wäre.
„Hamlaka, muß brenne‘ Dombroschin“, hatte sie noch gemurmelt und sich dann dem alten Hammblöcker gewidmet.

Noch einige Wochen schaffte es die alte Klare, immer wieder unter irgendeinem Vorwand neue Kerzen anzuzünden und im Grunde hätte sich ja auch niemand daran stören müssen.
Doch dann kam der Tag, an dem der Pfarrer einen Schlußstrich zog und ein silbern glänzendes Steckschloss an der Kapelle anbrachte. Damit war auch der alte verbogene Dietrich der Alten wirkungslos, der ihr bis dahin Zutritt verschafft hatte.

Doch zwei Tage später änderte sich alles.

Die alte Frau Gastenbauer hatte schon lange in letzten Kräften daniedergeöegen und man hatte schon drei oder vier Mal den Gevatter Tod beinahe ans Tor klopfen gehört, so tot war sie im Bett gelegen, aber jedes Mal hatte sie sich mit einem keuchenden Seufzen wieder ins Leben zurückgekämpft. Doch an diesem Abend war es wohl so weit und die alte Klare tat das, was sie immer tat, sie tröstete, sie streichelte und murmelte die Sterbenden mit fremden, aber sehr beruhigenden Worten in das Land der ungewissen Zustände hinüber.

Jedoch dieses Mal war alles anders.

„Seele ist nicht gegangen, ui wei ui Gorrom, Seele wird begraben, o Seele, o Gorrom!“

Eiligen Schrittes begab sich die alte Klare zum Haus des Pastors und der öffnete erst nach langem Klopfen und Läuten. „Ich musse unbedingt die Kerze anzünden, die alte Frau Gastenbauer ist mit Seele in Leib zum Tod gegangen, das geben großes Unglück und Verderben…, oh Gorrom!“

„Dummes Zeug, gute Frau“, unterbrach sie der Pfarrer, „Ich selbst war heute Nachmittag bei Frau Gastenbauer und habe ihr die Sakramente gebracht, der Seele geht es gut, die ist bestimmt schon im Himmel.“

„Gorrom, Tod! Großer Tod!“

„Gehen Sie mal fein in Ihr Bett, gute alten Frau, ihr Gorrom kann ja morgen auch noch kommen, wer immer das auch sei.“

Das sagte er, schlug die Tür zu und ließ eine völlig aufgelöste und verängstigte alte Frau in der Nacht stehen.

Am nächsten Tag fanden die Burschen, die die Leiche der alten Frau Gastenbauer zur Kapelle trugen, die alte Klare tot und starr vor dem Tor der Kapelle.
In ihrer Rechten hielt sie eine unbeflammte Kerze und ihre Linke lag mit steifen Fingern am Tor der Kapelle.

Heute wird erzählt, man könne am Tor der Kapelle im Holz noch die Kratzer sehen, die die alte Klare dort in ihrer Not und Verzweiflung hinterlassen habe.

Doch was genau geschehen ist, das weiß keiner so richtig, denn von den Menschen, die einst in diesem Weiler gelebt haben, lebt heute kein einziger mehr. Glaubt man den Jahreszahlen auf den Grabsteinen, dann sind sie alle innerhalb nur eines Jahres gestorben, alle.

© 2011, Peter Wilhelm

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