Ja, ich rauche. Ist ne üble Angewohnheit. 1992 habe ich mal damit aufgehört und das auch 13 Jahre durchgezogen. Dann haben es die Lebensumstände mit sich gebracht, dass ich wieder damit angefangen habe. Vielleicht höre ich auch wieder auf damit, aber mein Arzt sagt, das sei jetzt derzeit gar keine so gute Idee. Zumindest solle ich es nicht durch plötzlichen Entzug machen.
Heute rauchen nur noch halb so viele Leute, wie noch in den 1990er Jahren. Das ist auch gut so, auch wenn die Rentenversicherung da anderer Ansicht ist, denn Raucher sterben früh, schnell, vergleichsweise kostenarm und beziehen danach keine Rente mehr.
Keine Rente mehr bekommt auch Herr Rüttler. Der ist nämlich eine Woche vor meinen folgenden Schilderungen gestorben und liegt in der kühlen Trauerhalle des Waldfriedhofs in seinem Sarg.
Draußen ist es an diesem Tag warm und irgendwie beißt die Sonne in den Augen. Deshalb setzen sich die vornehmlich älteren Trauergäste auch zügig in die Trauerhalle, dort ist es weitaus angenehmer.
Der Pastor ist noch nicht da, er wird aber kommen, das weiß ich. Der kommt immer auf den letzten Drücker. Der Organist weiß das auch und spielt ein paar Variationen rauf und runter.
Etwas abgehetzt kommt noch eine junge Gärtnerin und bringt den letzten fehlenden Kranz. Sie muss an mir vorbei und ich blicke auf die Kranzschleifen. Da steht auf der einen „Unvergessen, ruhe sanft“ und auf der anderen „weiter so, von Sieg zu Sieg!“
Ich bremse die Frau und deute auf die Schleifen. Sie versteht nicht, was ich will und ich zeige auf die zweite Schleife.
Sie erbleicht, lässt den Kranz fast fallen und ihr entfährt ein deutlich in der ganzen Halle hörbares „Scheiße noch einmal“.
Die Gärtnerin oder eine ihrer Mitarbeiterinnen haben die Schleife von einem Siegerkranz mit an diesen Trauerkranz gesteckt. Ein peinlicher Fehler. Sie weiß nicht, was sie machen soll, und will das ganze Ding wieder mitnehmen. Ich halte sie fest und nehme einfach die falsche Schleife ab. Mit einer Kopfbewegung bedeute ich ihr, dass sie den Kranz nun vorne zum Sarg stellen kann. „Bringen Sie einfach die richtige Schleife nachher zum Grab und machen die dann dran.“
Der Pastor tritt ein, der Organist tritt auf den Schweller und die Orgel spielt lauter. Es ist das Übliche, als Bestatter kennst Du alle Predigten der Pfarrer beinahe auswendig. Selbst der beste Trauerredner kommt nicht umhin, sich irgendwann zu wiederholen. In der Regel bauen sie sich die Trauerreden aus Modulen wie aus einem Baukasten immer wieder neu zusammen. Garniert wird das Ganze mit den Lebensdaten und Lebensereignissen des Verstorbenen.
Herr Rüttler hat 75 Jahre auf diesem Planeten verbracht und seine Familie redlich genährt. Ein Haus hat er gebaut, drei Autos hat er angeschafft und war fünfzigmal in Urlaub. Mit seiner Hannelore war er 51 Jahre verheiratet und die beiden haben einen Sohn und eine Tochter großgezogen.
Das war’s. Mehr kann man über den alten Karl nicht sagen, außer, dass er ein sehr lieber und eher ruhiger Mensch war und fast 50 Jahre bei Bügermann und Sohn an einer Abkantmaschine Blechgehäuse gemacht hat.
Seine Witwe hat mir erzählt, dass ihr Mann in seinem ganzen Leben keinen einzigen Brief geschrieben hat, und außer „Guten Morgen, mein Schatz“, „Das war lecker“, „Hier ist es aber schön“ und „Gute Nacht“ soll er auch nicht viel gesprochen haben.
Sie meinte dazu: „Das war ein Mann, wie man ihn sich wünschen kann. Keine Widerworte, immer genügsam und wenn man ihn gebraucht hat, war er da.“
Ist doch völlig in Ordnung. Unsere Welt braucht Menschen, die Blechgehäuse biegen und das gerne machen. Nicht jeder muss zu allem eine Meinung haben, intellektuelle Ergüsse von sich geben und das Leben anderer bestimmen wollen.
Ein bißchen so war mein Vater auch. Sein Leben war nicht ganz so ereignislos, wie das von Karl Rüttler, aber mein Vater hat lieber geschwiegen, als mit irgendwem zu diskutieren. Mein Bruder hat das mal so beschrieben, als sei mein Vater „ein Mann ohne Meinung“ gewesen. Das habe ich ihm übel genommen, weil das schon so ein bisschen impliziert, als sei da Dummheit oder geistige Trägheit im Spiel. Nein, mein Vater war jemand, der zu allem eine Meinung hatte, diese aber nicht zwanghaft jedem auf die Nase binden musste. Viele Männer seiner Generation haben zwischen 1939 und 1945 Dinge erlebt, die sie haben verstummen lassen.
Darunter waren Erlebnisse, so hat mir mein Vater mal gesagt, die so eindrucksvoll und prägend waren, dass alles andere, was danach kam, dagegen verblasste und unwichtig erschien.
Mir jedenfalls war dieser Karl Rüttler sehr sympathisch. Die dicken Tränen, die seine Kinder und Enkelkinder weinten, zeigten, dass sie ihn geliebt haben und vermissen werden. Und was kann ein Mensch auf Erden schon mehr erreichen, als dass sich ein paar Menschen noch eine Weile über seinen Tod hinaus an ihn erinnern?
Der Pastor biegt gerade vom Profanen zum Rituellen ab und betet mit der Trauergemeinde das Vaterunser. Ein untrügerisches Zeichen, dass er bald fertig ist und dass es dann zum Grab geht.
In der dritten Reihe steht ein Herr auf und geht ganz leise nach hinten und an mir vorbei. Ich sehe, dass er aus der Jackentasche eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug herausholt.
Ich habe Verständnis für ihn, er will noch eine rauchen.
Der Pastor ist durch mit seiner Andacht, die vier Sargträger schieben den Sarg aus der Halle und der kleine Trauerzug setzt sich in Bewegung. Dieser Pfarrer hat das gut im Griff, er schaut immer mal wieder, ob die Leute auch hinterherkommen. Zieht sich die Gruppe auseinander, macht er langsamer.
Das ist nur eine Kleinigkeit, aber sie macht einen Unterschied zu weniger „guten“ Trauerrednern und Pastören aus. Eine evangelische Pfarrerin und ein älterer Diakon legen immer so ein Tempo vor, dass sich der ganze Trauerzug völlig auseinanderzieht. Ist doch klar, dass die Alten und Gehbehinderten nicht so schnell nachkommen.
Dann steht die eine Hälfte ewig lang am Grab herum und muss warten, bis auch die Letzten endlich eingetroffen sind. Die evangelische Pfarrerin hat sogar ein paarmal schon mit ihrer Zeremonie am Grab angefangen, bevor alle da waren. Das hat ihr aber der Friedhofsaufseher ausgetrieben. „Fräulein, so geht datt nich!“
Wir kommen am Grab an, der Raucher ist schon da.
Der Pastor klappt seine schwarze Mappe auf und beginnt. Schließlich kommt er an die Stelle „Staub zu Staub, Erde zu Erde“ und greift zu dem kleinen Sandkastenspaten, der in einem Eimer mit Sand steckt. Ohne groß hinzusehen schaufelt er Sand aus dem Eimer und will den gerade ins Grab werfen, da fällt unser aller Blick auf die Schaufel.
In dem Sand stecken drei Zigarettenkippen.
In Ermangelung eines Aschenbechers hat der Raucher seine Zigaretten einfach in dem Sandeimer ausgedrückt.
Offensichtlich kennt die Familie die Angewohnheiten des Mannes und alle schauen ihn vorwurfsvoll an. Einer Frau entfährt ein vorwurfsvolles „Franz!“ Und wer bis jetzt noch nicht gewusst hat, wer die Kippen in den Eimer gesteckt hatte, der weiß es jetzt.
Dem Mann ist das ungeheuer peinlich. Er hat bestimmt keine böse Absicht gehabt. Vielmehr scheint es mir so, als sei ihm das Ritual mit dem Sand völlig fremd und vielleicht hat er den Sandeimer einfach nur für so etwas wie einen Ascheneimer gehalten, wer weiß?
Der Pastor benötigt aber nur zwei Sekunden, da hat er die Ladung Sand mit den Zigarettenstummeln einfach an die Seite des Eimers gekippt und neuen Sand ins Grab geworfen.
Zehn Minuten später stehen die Leute vor der Trauerhalle. Es wird noch besprochen, wo man sich zum Kaffeetrinken einfinden soll.
Etwas abseits steht Franz, der Raucher. Er traut sich nicht, sich eine Zigarette anzustecken. Ich sehe, wie er ein paarmal in die Jackentasche greift, ich sehe, dass er in einer Hand sein Feuerzeug hält, aber er zündet sich keine an.
Da schiebt sich von rechtshinten der Pastor zu Franz und mir und sagt: „Los, wir rauchen jetzt erst mal eine.“
Ich gebe eine Runde Zigaretten aus und als der erste Qualm aufsteigt, gesellen sich noch mindestens acht weitere Personen zu uns und paffen auch eine.
Der Friedhofsverwalter schiebt das kleine Fenster neben seinem Büro auf und mit einer dicken Zigarre im Mund ruft er: „Hier ist Rauchen verboten!“ Grinsend schiebt er eine Konservendose als Aschenbecher aufs Fensterbrett.
Bildquellen:
- raucher-1: Peter Wilhelm KI
Hashtags:
Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:
#Beerdigung #grab #Kippen #rauchen #zigaretten #Zigarettenstummel
Ich bin ja auch dafür das jeder machen und leben soll wie er mag, so lange er keinen anderen damit schadet. Aber mich kann man schon fast als militanten Nichtraucher bezeichnen…
Was mich bei vielen Rauchern massiv stört ist diese ausgeprägte Gleichgültigkeit… Gegenüber ihrer eigenen Gesundheit (gerne mit dem Argument „was man auf der Straße schon für nen Feinstaub einatme“), gegenüber der Gesundheit der Mitmenschen (da wird hemmungslos geräuchert und gedampft), gegenüber der Umweltverschmutzung (durch weggeworfene Kippen/unsachgemäße Entsorgung von eZigaretten), usw.
Da schwillt mir immer mal der Kamm, aber das ist jetzt auch deutlich weniger, sei es weil ich nen dickeres Fell habe, oder Raucher rücksichtsvoller werden oder es einfach nur weniger werden.