Morgens benötige ich immer eine Weile, bis mein Sammelsurium aus inneren Organen die für einen effektiven Tagesablauf notwendige Betriebstemperatur erreicht hat. Bis dahin arbeite ich im Energiesparmodus und mit der Intensität einer durchgebrannten Glühbirne.
Nur die Gabe von mehreren Tassen Kaffee kann wirkungsvoll dazu beitragen, diesen Prozess des Hochfahrens etwas zu beschleunigen. Gespräche, die mir in dieser Zeit unaufgefordert aufgenötigt werden, führen unter Umständen dazu, dass in mir der Urmensch erwacht und ich nach einer Keule zu suchen beginne. Ich bin, wie wir alle, noch sehr, sehr nahe am Urmenschen angesiedelt, nur stehe ich, im Gegensatz zu allen anderen, sehr offensiv dazu.
Am Abend vorher war ich aus meinem Büro nach oben gegangen, weil mir tatsächlich die Augen zugefallen waren und ich mich selbst angeschnarcht habe. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Kurz bevor ich hochging, hatte ich vier elektrische Kerzen begutachtet, die mir ein Händler zur Ansicht zugesandt hatte. Verkaufen wollte mir der Pietätwarenhändler so richtig große Stumpenkerzen von fast einem Meter Länge, schön dick, aus echtem Wachs, aber mit Flackerlicht aus aufladbaren Batterien.
Zur Ansicht hatte er mir kleinere Versionen geschickt, so wie man sie vielleicht auf einen Adventskranz machen würde.
Eine weiße nannte sich „Engelsharmonie“, eine gelbliche war auf den Namen „Requiem“ getauft und die dritte, etwas gräulich aussehende, hieß „Elohim“. Der Name der vierten fiel mir nicht mehr ein, aber sie war auf jeden Fall rosa.
Jetzt sitze ich da im Büro, Sandy hat mir eine Tasse Kaffee hingestellt, so wie ich ihn mag, mit einem Schuss kaltem Wasser, damit er nicht so ganz heiß ist.
Ich schlürfe, fahre innerlich hoch, und denke gerade darüber nach, ob ich morgens vielleicht doch eher kalt duschen sollte, um meine tägliche Menschwerdung zu beschleunigen.
Da fällt mein Blick auf die Musterkerzen vor mir auf dem Schreibtisch: Es sind nur noch drei Kerzen da!
Ha! Ich weiß genau, was los ist. Die Weiber, diese elenden parfümierten, rosaliebenden Hühner vorne aus dem Büro haben sich die rosafarbene Kerze gekrallt und schmücken damit ihr Büro.
„Sandy!“
Das Mädchen erscheint, sichtlich verwundert, dass der Alte schon zur Abgabe verbaler Kommunikationsfetzen in der Lage ist. „Was’n los, Chef?“
„Die Kerze, wo habt ihr meine Kerze hin, Du weißt schon, die rosafarbene.“
„Was für ne rosane Kerze?“
„Rosane? Was soll das denn für ein Adjektiv sein?“
Nun ist die junge Deutsch-Amerikanerin ja weder blöd, noch auf den Mund gefallen. „Ich weiß, das Adjektiv rosa ist in der Standardsprache nicht flektierbar. Das ist ja auch bei den Farbadjektiven lila, orange, beige und khaki so. Aber für viele Menschen fühlt sich das unfertig an, weil Adjektive im Deutschen normalerweise gebeugt werden. Darum bilden viele, vor allem Jüngere, analog ein gefühlt korrekt gebeugtes Wort. Deshalb sag‘ ich eben rosane und nicht nur rosa.“
„Was?“
„Ja, Chef, in der Linguistik nennt man das Analogieform – man passt ein unregelmäßiges Wort dem Regelwerk an.“
„Also…“
„Chef, wenn Du noch Fragen dazu hast, dann sag das doch!“
„Nein, ich will nur wissen, wo die rosa Kerze ist, die gestern Abend noch hier auf meinem Schreibtisch stand.“
„Keine Ahnung.“
„Habt ihr die vorne bei Euch im Büro?“
„Nö, da ist nichts“, sagt sie und geht.
Etwas später hole ich mir meine zweite Tasse Lebenselixier und auf dem Rückweg schlendere ich wie zufällig ins Büro der Damen, um mich unauffällig nach der verschwundenen Kerze umzuschauen. Um es klar zu sagen, mir ist die Kerze im Grunde genommen völlig egal. Aber ich will die Niedertracht der schelmenhaften Weiberkohorte entlarven und den gemeinen Diebstahl vom Tische des Firmenpatriarchen aufklären, die Täterinnen zur Rede stellen und harte Strafen verhängen, jawoll!
Ich bin in solchen Sachen ja sehr geschickt. Ganz unauffällig schaue ich mich um, blättere das Tagesprotokoll durch, schlürfe an meiner Tasse herum.
„Chef, suchen Sie die Kerze?“, spricht mich Frau Büser an.
„Äh, nee, Kerze, äh, wieso? Ich wollte nur….“
„Wir haben die Kerze nicht.“
Zurück in meinem Büro gehe ich die Liste der Tatverdächtigen durch. Gut, es könnte auch einer von den Männern gewesen sein. Und, so fiel es mir siedendheiß ein, auch die kleine Kuschelkatze, die ab und zu in der Werkstatt zu Besuch ist und die gerne nachts durch unsere Räume streift, könnte ja auch diese Kerze vom Tisch gestoßen und damit gespielt haben.
Nach der dritten Tasse Kaffee mache ich mich in meinem Büro auf die Suche nach der Kerze. Ich krieche unter den Schreibtisch, nichts. Ich suche unter dem Sideboard, nichts.
Nun muss man sich das mal bildlich vorstellen: Ich bin ja knapp 2 Meter groß und so um die 2 Zentner schwer. Wenn so ein Geschoss von Mann auf dem Bauche liegend unter ein Sideboard krabbelt, hat das schon was Komisches.
Der Meinung waren auch meine Bürodamen, die allesamt lachend und kichernd in der Tür stehen und frecherweise die Szene auch noch mit dem Handy filmen.
Wenigstens eilen Antonia und Sandy herbei, um mir wieder aufzuhelfen.
Frau Büser hat unterdessen den Lieferschein des Pietätwarenhändlers von meinem Schreibtisch genommen und schwenkt ihn triumphierend über ihrem Kopf. „Ha! Drei! Ich sage nur drei!“
„Was drei?“, will ich wissen.
„Meister des Hauses, glauben Sie mir, es waren nur drei Kerzen: Engelsharmonie, Requiem und Elohim. Weiß, gelb und grau. Eine rosane Kerze war gar nicht dabei.“
„Rosa Kerze!“
„Die auch nicht.“
Bildquellen:
- kerze_800x500: Peter Wilhelm ki
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