Geschichten

100, meine Fresse!

Heute wäre mein Vater 100 Jahre alt geworden. Ich habe ihn immer noch vor Augen und in Erinnerung, wie er mit 70 aussah.
Wenn ich mir anschaue, wie viele Leute in diesen Tagen 100 über hundert Jahre alt sind, dann hätte er ja eigentlich auch noch ein paar Jahre leben können.
Aber er mußte schon 1986 gehen.
Krebs hat er gehabt, die Lunge. Ob es die staubbelastete Arbeit nach dem Krieg unter Tage war oder seine Zigaretten, man weiß es nicht.

Als junger Mann hat er mal eine Schneiderlehre gemacht, wurde wegen seiner Herkunft aus Ostpreußen (obwohl er in Gelsenkirchen geboren wurde) von den älteren Gesellen gequält und wie man heute so sagen würde gemobbt.
Sein Heil sah er, im wahrsten Sinne des Wortes, im Reichsarbeitsdienst, wo er rasch aufstieg und mit viel harter körperlicher Arbeit, ganz ohne Fitness-Studio ein breites Kreuz und mächtig starke Bizeps bekam.
Die trügerische Arbeit fürs Volk im Reichsarbeitsdienst mündete für alle, die dabei waren, im Fronteinsatz für einen Führer, den mein Vater immer nur verachtet hat.
Er hielt Hitler für einen wichtigtuerischen Schreihals, einen Emporkömmling, der nichts konnte und nichts wußte.
Aber so war das eben damals. Die vermeintlichen Segnungen die man dem Volk zuteil werden ließ, verwässerten einem ganzen Volk den Blick.

Am Ende landete er, wie viele Millionen, auf den Schlachtfeldern in Russland.

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Das Kriegsende erlebte er irgendwo auf der Krim und geriet natürlich in russische Kriegsgefangenschaft.
Glück hat er gehabt, daß er sich irgendwo ein paar Brocken Russisch eingeprägt hatte und so vorgeben konnte, ein guter Übersetzer zu sein.
Während immer mehr seiner Kameraden mit Zügen weggeschafft wurden, konnte mein Vater eines Tages eine günstige Gelegenheit nutzen und aus der russischen Kriegsgefangenschaft abhauen.

Nur nachts durch Wälder und Felder, tagsüber immer versteckt, immer in der Angst, entdeckt und ausgeliefert zu werden.
Und doch wurde er von einem Bauern erwischt, der ihn aber nicht verriet, sondern ihm Brot und Suppe und zwei, drei Tage lang Unterschlupf gewährte.
Ein kleiner Schäferhund war ihm zugelaufen, der ihn auf seiner wochen- ja monatelangen Odyssee begleitete.
Mit dem treuen und stummen Gefährten an der Seite wuchs in ihm die Zuversicht, es doch irgendwie nach Hause schaffen zu können.

Fast schon in der Heimat, wurde er in Österreich von irgendeiner Miliz gestellt, man raubte ihm das wenige was er hatte, schoß ihm unter Gelächter den Hund tot und prügelte ihn – Gott sei’s gedankt, über die Grenze in Richtung Heimat.

So kam es, daß er zerschunden und ausgemergelt eines Tages vor der Haustüre stand und meine Mutter ihn fast nicht mehr erkannt hätte.

Was tat man in dieser Zeit? Man ging in den Pütt, in die Zeche, unter Tage. Für die harte und zehrende Arbeit gab es wenigstens gutes Geld und eine Sonderration an Lebensmittelmarken, sowie täglich frische Wurststullen.
Die aß er meistens nicht, die brachte er meinem damals schon sehr alten Opa mit nach Hause.

Und dann, dann kam er eines Tages eben nicht nach Hause.

Mutter eilte wie viele Bergmannsfrauen zum Zechentor, wo nur spärliche Informationen weitergetuschelt wurden. „Die sind alle verschüttet, wahrscheinlich sind die alle tot!“

Doch er war nicht tot. In ein paar hundert Metern Tiefe lag er zwischen drei zerschmetterten Kumpels, eingeklemmt unter einer tonnenschweren Gesteinsplatte, die sich von der Decke gelöst hatte.
Die funzelige Zechenlampe spendete ihm noch einige Stunden Licht, dann wurde es dunkel. Er war alleine, verletzt und ihm blieb nichts anderes, als zu beten.
Die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute, flehte er an. Er weinte, er jammerte vor Schmerz. Es waren aber nicht die Tränen, die sein Gesicht benetzten, sondern das Gestein hatte ihm die Nase halb abgerissen, und es war Blut, das über sein Gesicht lief.

„Wenn ich hier rauskomme, Heilige Barbara, dann will ich mein ganzes Leben lang sonntags in die Kirche gehen und ich werde mich zur Grubenrettung melden, um anderen zu helfen“, schwor er.

Wie viele Stunden er da gelegen haben mochte, das konnte er nicht ermessen. Mit Spucke befeuchtete er seine eingeklemmten Beine, zerrte, stemmte, zog und drückte.
Nach unendlich scheinender Zeit gelang es ihm endlich, sich zu befreien und dann Stein für Stein von der Barriere wegzuräumen, die ihm den Weg in die Freiheit versperrte.

Licht! Auf einmal schimmerte Licht durch das Geröll, auch von der anderen Seite arbeiteten sich Bergleute zu ihm vor.
Nach acht Stunden, wie er dann erfuhr, konnte er schwer verletzt endlich geborgen werden.

Im Bergmannsheil-Krankenhaus flickten sie ihn wieder zusammen. Sogar seine Nase kriegten die wieder hin. Gott sei Dank, Mutter hat ihren Mann doch immer so schön gefunden, so sollte es auch bleiben.

Kaum genesen tat er es, wie er es versprochen hatte. Er ging zur Grubenrettung, ließ sich ausbilden und rettete in den Jahren darauf vielen seiner Kumpels den Arsch.

Und in die Kirche, ja, in die Kirche ist er jeden Sonntag gegangen, da konnte kommen was wollte.

Nach ein paar Jahren hatte meine Mutter die Nase voll. Die Arbeit unter Tage war in dieser Zeit noch viel gefährlicher, und so drängte meine Mutter darauf, daß Vater sich eine Arbeit über Tage suchte.
Das tat er dann auch. Er ließ sich zum Krankenpfleger ausbilden, hielt seine Familie (Frau und meinen älteren Bruder) in der Zeit mit Taxifahren über Wasser und fing dann in einem Krankenhaus an.

Bis zu seiner Rente arbeitete er ausschließlich nachts in der Unfallambulanz oder wie man heute so sagt, im Emergency Room.
Rente?
Ein Rentnerdasein kannte mein Vater nicht.

Viele seiner früheren Kumpels waren dabei geblieben, hatten das Zechensterben miterlebt und waren früh in den Ruhestand geschickt worden.
„Die sind alle gestorben, und zwar am Hände-in-den-Schoß-legen“, sagte er manchmal. „Ein Mann muß arbeiten, sonst geht er kaputt.“

Und so ging er auch nach Eintritt ins Rentenalter weiter arbeiten, übernahm immer wieder Vertretungen im Krankenhaus, wieder immer nur nachts, besonders an Wochenenden und Feiertagen.

Ein paar schöne Reisen konnten meine Eltern machen, das war’s.

Im November 1986 ist mein Vater mit 70 Jahren gestorben.

Ich bin so glücklich, daß ich bis zur letzten Sekunde, bis zu seinem letzten Atemzug bei ihm sein durfte.
Ich habe seine Hand gehalten als er starb.

Ich sah, wie das Licht in seinen himmelblauen Augen erlosch.

Dann ist er beerdigt worden. Einen schönen Sarg haben wir gekauft, bezahlt hat das die Lindenstiftung, eine Kasse in die meine Eltern ein Leben lang Pfennigsbeträge für diesen Zweck eingezahlt hatten.
Alle sind gekommen, die ganze große Sippe, und es gab keinen der nicht eine Geschichte erzählen konnte, wie ihm Bernhard mal den Arsch gerettet oder ihm aus der Bredouille geholfen hatte.

Dann war er weg. Er fehlte. Meine Mutter litt.
Schlimm.

Doch es ist wirklich so, die Zeit heilt alle Wunden.
Nicht wirklich, nicht so ganz, aber der zeitliche Abstand sorgte dafür, daß der Tod nicht mehr ganz so präsent war.
Es ging alles irgendwie weiter.

Doch eins blieb: Er fehlte.

Dabei hat er nie viel gesagt. Und doch hat er mir alles beigebracht.
Er hat nie gebrüllt, geprügelt oder ein Donnerwetter losgelassen, und dennoch hatte man Respekt.
Er war (heute würde man sagen „nur“) 1,77 groß und dennoch war er ein Riese.

Wenn er ins Zimmer kam, dann war das Zimmer voll, soviel Persönlichkeit hatte dieser bescheidene und ruhige Mann.

Ach Gott, jetzt isser 30 Jahre tot. Das ist ewig lange her. Ich muß auch nicht mehr heulen, wenn ich an ihn denke, obwohl ich es jetzt gerade tue …
Ich brauche auch keinen Vater mehr, denn ich bin mittlerweile erprobtermaßen selbst einer und komme gut zurecht. So soll es ja auch sein, die Kinder müssen irgendwann mal flügge werden.

Aber ich hätte ihm soviel zu erzählen. Ich hätte so gerne, daß er meine Kinder noch kennengelernt hätte. Ich hätte ihm gerne gezeigt, daß aus mir was geworden ist und sich seine Investitionen von Liebe und Güte gelohnt haben.

Mann, was bin ich stolz auf diesen Vater!

Und es gibt kein größeres Kompliment für mich, wenn jemand zu mir sagt, daß ich so sei wie mein alter Herr!

In meinem Büro steht der Sessel, in dem er immer saß.
Den hat er selbst irgendwann mal mit neuem Stoff bezogen.
Ich erlaube es nur ganz besonderen Gästen, darauf sitzen zu dürfen. Das ist nämlich mein Papa-Sessel, meiner!

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