Jahre später, als ich längst Chefredakteur der Fachzeitschrift ‚Bestatter heute‘ bin – eine lehrreiche Publikation aus dem Verlag der Deutschen Wirtschaft in Bonn – werde ich von einer Handwerksinnung zu einer Messe mit begleitender Tagung eingeladen. Inmitten all der Fachgespräche, Produktpräsentationen und Branchenvertreter tritt ein freundlicher Herr an mich heran: Frank Siebert.
„Ich hätt’ Lust, mal was mit Ihnen zu machen“, sagt er lächelnd und reicht mir seine Karte. Ich erkenne rasch: Dieser Mann weiß, wovon er spricht. Er bietet nicht nur spezialisierte Drucksysteme für Trauerdrucksachen an, sondern berät auch Bestattungsunternehmen in Sachen Internetpräsenz und Öffentlichkeitsarbeit. Vor allem aber kennt er die Branche in- und auswendig. Siebert ist, was man früher einen Handelsreisenden genannt hätte – einer, der von Betrieb zu Betrieb zieht, nicht nur Produkte vertreibt, sondern auch Geschichten.
Früher war es mein Pietätwarenhändler, der diese Rolle innehatte. Er war eine wandelnde Nachrichtenagentur der Bestattungsszene, stets bestens informiert. Wer gibt bald sein Unternehmen ab? Wo steht ein Leichenwagen zum Verkauf? Wer hat eine tolle neue Idee gehabt? Seine Geschichten waren nie indiskret, aber immer aufschlussreich. Nun war es Siebert, der mir mit Augenzwinkern vom aktuellen Flurfunk berichtete. Und er wusste auch etwas über den Mann im Tweed-Anzug.
Wie sich herausstellte, hieß dieser ominöse Herr keineswegs Schröder. Sein tatsächlicher Name war eine Art osteuropäischer Konsonantensteinbruch – Bygaszialszinski oder so ähnlich. Allein das war noch nichts Verdächtiges. Aber Siebert wusste zu berichten, dass dieser Herr versucht hatte, bei Herrn F., dem Chef einer Bestatterkette in Bayern mit seinem Vorschlag durchzudringen, sei dort jedoch ebenfalls abgeblitzt.
„Und dann ist die Kripo bei dem aufgetaucht, also bei Herrn F. Die wollten alles über den angeblichen Herrn Schröder wissen und haben auch erzählt, dass er ganz anders heißt. Die haben auch angedeutet, dass diese ‚Geschäftsleute mit US-Einreiseschwierigkeiten‘ in Wahrheit kriminell seien“, erklärt Siebert mit ernstem Blick. „Waffenhändler, Menschenhändler, Drogenbosse – so was in der Richtung.“ Ich ziehe eine Augenbraue hoch. Das klang mir doch etwas reißerisch. Doch ich weiß es nicht besser.
„Jetzt soll er in Holland im Gefängnis sitzen, wegen einer ganz anderen Sache; Missbrauch eines Diplomatenpasses oder so. Urkundenfälschung, Betrug, keine Ahnung. Solchen Leuten zu helfen, hieße doch, sich selbst die Hände schmutzig zu machen“, ergänzt er.
Ich schüttele den Kopf. „Darum geht’s nicht. Jeder Mensch in Not hat Hilfe verdient. Wenn ein Bus brennt, fragen Sie ja auch nicht erst, ob der Eingeklemmte ein Verbrecher ist, bevor Sie ihn rausziehen.“
„Ja, hmmm, äh, aber Sie haben dem Mann doch auch nicht geholfen“, wendet Siebert ein.
„Richtig. Aber weil er etwas Illegales von mir wollte. Ich möchte Menschen helfen, die durch ihre Armut abgehängt wurden.“
„Aber er hat Ihnen doch Geld geboten, oder?“, fragt Siebert neugierig. „In Bayern soll er mit 10.000 Euro gewinkt haben.“
Ich nicke. „Ja, mich wollte er sogar nach Bogota einladen. Luxusvilla, Urlaub, alles auf Kosten eines gewissen Señor Alvaro. Klingt verlockend – aber man fragt sich unwillkürlich, ob man da auch wieder zurückkommt.“
Siebert lacht. „Da hätten Sie ja in einer Hängematte ohne Ihren eigenen Herzschrittmacher aufwachen können.“ Dann wird er ernster. „Aber wenn Sie doch keinen Unterschied zwischen gut und böse machen wollen, wie Sie das vorhin sagten, warum dann die Ablehnung?“
„Weil meine Hilfe auf etwas anderem basiert“, antworte ich. „Ob sie es mir glauben oder nicht, die betroffenen Herren mit ihrem Herzproblem tun mir auch leid. Ich weiß, wovon ich rede, ich hab selbst einen Herzschrittmacher. Aber sehen Sie, die Hörgeräte bekomme ich geschenkt, die stammen aus Überfluss und Erbmasse, die sind das Ergebnis eines Gesundheitssystems, das zur Überversorgung führt. Ich erhalte sie als freiwillige Spende. Bei den Herzschrittmachern erwartet dieser Mann aber, dass Bestatter verbotenerweise, sozusagen bei Nacht und Nebel, Leichen die Brust aufschneiden und ein medizinisches Gerät, das ihnen nicht gehört, herausziehen. Es geht nicht um Hilfe, sondern es geht um Untreue, Diebstahl und Leichenschändung.“
Siebert nickt langsam. „So drastisch habe ich das noch nie betrachtet. Aber Sie haben recht.“
„Vielleicht hat er ja inzwischen jemanden gefunden, der bei dem Spiel mitmacht“, überlege ich laut.
„Nein“, sagt Siebert entschieden. „Er war bei Ihnen, dann bei Herrn F. in Bayern und bei Herrn K. von Pietät Eichenlaub. Alle drei haben abgelehnt. Dann ist er wegen einer anderen Geschichte komplett abgetaucht.“
„Klingt wie aus einem Krimi.“
„Krimis sind spannender“, meint Siebert trocken. „Ach, wissen Sie, gute Krimis schreiben nur Autoren, das Leben schreibt eher langweilige Geschichten.“
Und so sitze ich da, Jahre später, und versuche, diese seltsame Episode einzuordnen. So etwas erlebt man nicht oft. Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich richtig gehandelt habe. Und ich glaube sogar, dass ich das dem kleinen inneren Skepsis-Zwerg zu verdanken habe, der mich davor bewahrt hat, ein paar lockende 200-Euro-Scheine anzunehmen und mir die Finger schmutzig zu machen.
Es sind inzwischen sechs oder sieben Jahre vergangen, seit sich die Geschichte mit dem Herrn im Tweedanzug zugetragen hat. Dennoch stoße ich immer wieder auf Diskussionen in Fachforen und Onlinegruppen von Bestattern, in denen Kollegen die Frage aufwerfen, wie heute eigentlich mit Herzschrittmachern bei Verstorbenen umzugehen sei. Es scheint, als würde das Thema immer mal wieder aus dem Tiefschlaf aufgeweckt.
Dabei ist es längst nicht mehr notwendig, Herzschrittmacher vor der Kremation zu entfernen – diese Zeiten sind vorbei. Die heutigen Geräte enthalten moderne Batterien, die im Krematorium keine Gefahr mehr darstellen. Die Anlagen selbst sind technisch so weit entwickelt, dass sie mit der minimalen Verpuffung, die beim Verbrennen eines Herzschrittmachers auftreten kann, problemlos umgehen können. Die Filteranlagen der Krematorien sind zudem so leistungsfähig, dass die entstehenden Abgase beinahe so rein wirken wie der Odem einer jungfräulichen Waldelfe.
Trotzdem flammt das Thema in schöner Regelmäßigkeit wieder auf. Vielleicht liegt es daran, dass Figuren wie der besagte Herr Schröder – oder wie auch immer er wirklich hieß – sowie sein geheimnisvoller Partner Señor Alvaro noch immer in Deutschland oder den Niederlanden auf der Suche nach medizinischen Ersatzteilen unterwegs sind, die angeblich in Kolumbien dringend gebraucht werden.
Dass an dieser Geschichte mehr dran ist, als man zunächst glauben möchte, weiß ich aus persönlicher Erfahrung. Mein älterer Bruder, der inzwischen verstorben ist, hatte sich nach einem langen, arbeitsreichen Leben gemeinsam mit seiner Frau in den Ruhestand nach Mexiko begeben. Er war zeitlebens viel im Ausland unterwegs gewesen und hatte schließlich am Lago de Chapala einen Ort gefunden, den die beiden wegen seines milden Klimas sehr schätzten.
Doch auch dort holte ihn das Alter ein: Eine Herzerkrankung machte den Einsatz eines Herzschrittmachers erforderlich – und das ausgerechnet fast zur gleichen Zeit, als auch ich einen bekam. Obwohl es heißt, die medizinische Versorgung in Mexiko sei für Wohlhabende durchaus mit westlichen Standards vergleichbar, entschied sich mein Bruder dagegen, den Eingriff dort vornehmen zu lassen. Stattdessen reiste er eigens nach Kanada, um sich in Toronto operieren zu lassen. Auch die regelmäßigen Kontrollen ließ er dort durchführen.
Diese Entscheidung spricht Bände. Sie zeigt, dass selbst Menschen mit internationalen Lebensläufen und einem gewissen Wohlstand sich im Zweifelsfall lieber auf etablierte medizinische Strukturen verlassen – und wie wichtig Vertrauen, Standards und Kontrolle gerade bei lebenswichtigen Geräten wie einem Herzschrittmacher sind.
Vielleicht erklärt sich so auch, warum manche Menschen, die aus unerfindlichen Gründen keine solche Reisemöglichkeiten haben, auf eigene Faust nach alternativen Wegen suchen, um an solche Geräte zu gelangen. Doch diese Wege führen allzu oft in Grauzonen, in denen moralische Bedenken und gesetzliche Schranken gleichermaßen ignoriert werden.
Schon ein paar Mal in meinem Leben sind Leute zu mir gekommen und haben versucht, mir ganz tolle Geschäftsideen aufzuschwatzen. Angeblich könne man damit in kürzester Zeit Millionär werden. Und ja, ich gebe es zu, ich bin anfällig für so etwas. Mich kann man mit tollen Ideen, um Geld zu verdienen, sehr schnell begeistern. Ich male mir dann immer aus, was ich alles kaufen könnte und wie es sich für einen aus der Baby-Boomer-Generation gehört, träume ich von Haus und Auto und einem sorgenfreien Leben.
Dabei habe ich das alles schon. Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht, von was träumst Du? Und schreibe jetzt nicht Gesundheit und Weltfrieden.
Aber mir wohnt ein kleines Männlein inne, das in einem ständigen Kampf mit der lustigen Elfe der Verführung steht, und mich warnt, mich skeptisch macht und mir so Sachen einflüstert wie: „Ja, wenn das doch eine so tolle Idee ist, und man damit schnell Millionär werden kann, weshalb ist der denn dann selbst noch kein Millionär?“
Und manchmal drückt sich dieser Alarm-Zwerg auch weniger kompliziert aus und sagt nur: „Lass Dich nicht verarschen!“
Das sagt der Zwerg auch oft bei Videos auf YouTube, TikTok, Instagram und Co.
Dort werben ja viele Influencerinnen und Influencer um die Aufmerksamkeit der Zuschauer, um ihnen auch mal wieder DIE Geschäftsidee oder DAS Investment näherzubringen. Da fragt sich nicht nur der kleine Zwerg in mir, sondern der ganze große Mann: „Warum um alles in der Welt bettelst Du dämlicher Honk um ein paar Euro für Patreon und Kanalmitgliedschaften, wenn man mit Deiner Idee doch angeblich schnell reich werden kann?“
Der Zwerg hat mich schon vor vielem bewahrt. Ich bin nie auf irgendwelche Schneeballsysteme hereingefallen, habe nie Geld in irgendwelche halbseidenen Risikofonds investiert und auch keine Grundstücke auf dem Mond gekauft.
Aber einmal habe ich doch ein wertloses Grundstück gekauft. Weshalb ich das getan habe, schreibe ich im nächsten Teil dieser kleinen Reihe.
Episodenliste:
- herr-in-holland: Peter Wilhelm KI
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: Bestatter, Herzschrittmacher
Ja, lieber Bestatter, diesen „Alarm-Zwerg“ in mir habe ich auch, aber manchmal gingen mir dann doch noch tagelang Gedanken durch den Kopf wie „Und was, wenn da doch was dran gewesen wäre?“.
Bei dem „Handelsreisenden“ gleich im ersten Absatz habe ich spontan an das Thaterstück „Tod eines Handlungsreisenden“ („Death of a Salesman“ von Arthur Miller, USA 1949) gedacht. „Durfte“ ich im Englischunterricht mal lesen, Inhaltsangabe steht in der Wikipedia.