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Bodo 2

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Die Angehörigen haben ihren Besuch in unserem Haus angekündigt.
Wäre da nicht Frau Büser, die gerne auch mal sehr resolut sein kann, dann wären die Angehörigen mit 18 Personen gekommen. Das ist eindeutig zu viel, wenn es darum geht, einen Trauerfall zu besprechen.
Mir würde es nichts ausmachen, so eine Gruppe zu bändigen, aber die Entscheidungsprozesse verlängern und verkomplizieren sich dann nur unnötig. Außerdem habe ich so ungefähr eine Ahnung, aus welchem sozialen Umfeld Bodo Knieriem stammt.

„Vier Personen, mehr geht nicht“, sagt Frau Büser deshalb am Telefon und erklärt mir dann kurz danach, daß Bodos Mutter, zwei Brüder und eine Bekannte erscheinen würden.

„Is‘ kein Ding!“, sagt Hartwig, der Wolle genannt wird, als ich den Angehörigen, nachdem sie sich für ein Urnenwahlgrab, eine Feuerbestattung und eine Trauerfeier in unserem Haus entschieden haben, eröffne, daß sie einen Teil der Kosten im Voraus bezahlen müssen.
Das ist in diesem Viertel, in dem die Leute wohnen, und in dem ich im Treppenhaus bei meinen Besuchen immer wieder auf den Gerichtsvollzieher treffe, so üblich.
Das wissen die Leute und sie akzeptieren es. Probleme mit der Bezahlung hatte ich dort noch nie; die habe ich nur in den Stadtteilen, wo Lehrer, Rechtsanwälte und Beamte wohnen …

Nein, das ist kein übles Vorurteil, das sind schlicht und ergreifend meine Erfahrungen. Die betreffen auch nicht generell alle Lehrer, Anwälte und Beamte, aber unter denjenigen, die hinterher ein unnötiges Theater veranstalten, sind halt diese Berufsgruppen in besonderem Maße vertreten.

Mich interessiert aber natürlich auch, wie es zu dem Todesfall gekommen ist. Und erst als ich das Wort Todesfall ausgesprochen habe, wird mir bewußt, wie doppeldeutig das in diesem Fall aufgefaßt werden kann.

Erstaunlicherweise ist Bodos Freundin, jene Elke Angele, die ihn vom Balkon gestoßen haben will, unter den Angehörigen. Sie macht ein trotziges Gesicht, hat die Unterlippe vorgeschoben und die Flügel ihrer etwas breiten Nase beben die ganze Zeit.
Dabei habe ich noch gar nichts, außer vielleicht ein paar Begrüßungsfloskeln, zu den Leuten gesagt.
Fünf sind es: Bodos Mutter, zwei Brüder, eine „Freundin von dem ein“ (sic!) und eben Elke Angele.

„Nee, datt hat die Polizei nich‘ geglaubt, datt die Elke dem gestoßen hat“, sagt Frau Knieriem, die Mutter.

„Ich war datt aber!“, behauptet Elke weiterhin trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust. Ihr Blick ist nun an die Decke gerichtet und will wohl sagen: „Ich klinke mich jetzt so lange aus, bis ihr mir endlich glaubt.“

Die beiden Brüder, Wolle und Panzer, reden durcheinander und haben Mühe, die Freundin von Wolle, Bibi, zu bändigen, die nun ihrerseits ruft: „Watt tut ihr denn der Elke nich‘ glauben, nich? Wenn die datt doch war?“
Wolle, der seinen Namen von dem aufgeplatzten Wollknäuel, das seine Haare sein sollen, haben muß, drückt Bibi auf ihren Platz zurück und schaut mich an: „Die muß ich festhalten, die is‘ gefährlich, ne?“
Panzer, der seinem Namen durch etwa 180 Kilo Lebendgewicht bei 1,69 Meter Körpergröße, irgendwie alle Ehre macht, legt seinen Arm auf Bibis Schulter und forthin ist ihrerseits nicht mehr ans Aufstehen zu denken.

„Wie war das denn jetzt?“, frage ich nun und deute auf Frau Knieriem, um deutlich zu machen, daß ich sie zum Sprechen auffordere und kein sprachliches Tohuwabohu möchte.

„Nun, datt war so: Der Bodo war auffen Balkon und hat eine gequalmt. Bei mir inne Wohnung wird nämich nich mehr geraucht. Mir reicht et, datt die beiden Kerle da in ihren Zimmern kiffen, wie die Blöden. Also war der draußen am Rauchen und auf ei’ma hörßte, wie unten eine von den Becker-Weibern am Schreien dran is‘. Diese Becker-Weiber, alle beide haben acht Kinder von zehn Männern, sie wissen schon. Und den ganzen Tach am saufen dran, datt is echt Pack, asoziales Pack! Und die is am Schreien dran, und die hört gar nich mehr auf. Ich also auffen Balkon; denk ich noch: Huch, wo issen der Bodo. Is‘ wohl auffet Klo gegangen. Dann guck ich runter und dann seh ich die Bescherung. ‚Da unten liegt der Bodo!‘ ruf ich, und alle kommen gelaufen, die Elke, die Bibi, der Wolle und zum Schluß der Panzer, der kann ja nich so schnell, war als Kind oft krank, hattet mitte Bronchien.“

„Also kam Elke erst auf den Balkon, als Bodo schon unten lag?“, frage ich nach und alle nicken, nur Elke selbst starrt an die Decke.

„Jau, datt haben alle gesehen, auch die Nachbarn von gegenüber“, erklärt Frau Knieriem, „Die waren ja alle auffe Balkone und inne Fenster gelegen, weil der Luigi, datt is der Macker von die fette Friseuse aus Nummer 12, von sein Pittbull gebissen worden is.“

Panzer und Wolle lachen meckernd und klatschen sich „high five“ die Hände ab. „Voll geil, ey, wie der am Brüllen war, voll am Plärren, dat Mädchen, dieser Luigi. Halten nix aus diese Spagallos!“, freut sich Panzer.
Wolle erklärt mir: „Wennste so’n Hund has, ne, dann musse auch watt inne Arme haben, sons‘ kannste den nich halten. Nee, der wollte losrennen, der Apollo, und der Luigi hat die Leine losgelassen, dann is der ab, der Apollo, und der Luigi hinterher. Dann bleibt der auf ei’mal stehen, der Apollo, und der Luigi stolpert über den und fällt voll auffe Schnauze und auffen Apollo. Und da hat der den gebissen, der Apollo.“

Also ist an diesem bewußten späten Nachmittag Bodo Knieriem auf den Balkon gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Just zu dieser Zeit wurde einige Stockwerke tiefer, unten auf der Wiese, der Italiener Luigi von seinem Hund gebissen, was wohl schon zuvor zu einer Bellerei und lautem italienischem Rufen geführt haben muß, denn die gesamte Nachbarschaft war auf den Balkonen oder an den Fenstern.

„Und warum ist Bodo jetzt runtergefallen?“, hake ich abermals nach?

Wolle antwortet: „Ja, is doch klar, odda? Der wird datt auch sehen wollen, äh, gesehen gehabt wollen, und hat sich weit über die Brüstung gelehnt und dann isser ab.“
Während er das sagt, macht er mit der flachen Hand eine Abwärtsbewegung und pfeift dann zischend durch die Zähne.

„Stimmt alles gar nich‘, ich hab den runtergeschmissen!“, tönt es hinter den verschränkten Trotzarmen hervor.

„Und warum haben Sie Bodo runtergestoßen?“, frage ich.

„Weil der auch scharf war auf die Friseuse, wegen der dicken Titten. Die war’n doch alle hinter der her. Ich hab ihm voll erwischt, wie der der blöden Kuh ein Foto von sich geschickt hat, vom Handy, ne?“

Ein wunderlicher Sterbefall. Da gibt es vielleicht 50 oder mehr Zeugen, die genau gesehen haben, daß Elke Angele ihren Freund nicht vom Balkon gestoßen hat, und dennoch beharrt die gar nicht mal so unhäßliche junge Frau, darauf, sie sei es gewesen.
Seltsam.

Nach dem Sturz und der Obduktion ist an eine offene Aufbahrung nicht zu denken. Hinzu kommt, daß die Lagerung in der Rechtsmedizin wohl dieses Mal suboptimal verlaufen ist. Bodo sieht nicht gut aus.
Mit den Angehörigen vereinbare ich eine einfache Feuerbestattung und den Ankauf eines Urnenfamiliengrabes. Das ist sinnvoll, weil alle spontan sagen, daß für sie auch nur eine Feuerbestattung in Frage kommt.
Außerdem gibt es noch eine Oma und einen Opa, und Bodos Platz wird längst abgelaufen sein, bis seine Mutter oder die Brüder an die Reihe kommen, so Gott will und niemand vom Balkon fällt.
Es reicht eine Urnenstelle für 5 Personen.

Aber schöne Blumen wollen sie und „Highway to hell“ und „I did it my way“.

So etwa hundert Leute würden kommen, der „Bodo wr ein Knaller, den kennen alle“.

Ich schreibe alles auf, rechne einen annehmbaren Preis aus und ziehe noch mal zehn Prozent ab: „Das hier unterm Strich gilt, wenn Sie gleich bezahlen, Sie kennen das ja.“

Wolle nimmt den Stift und unterschreibt den Auftrag, ohne den Betrag genau anzuschauen: „Meister, datt geht klar, wir legen zusammen.“

Den Sarg hatte die Familie anhand des Katalogs ausgesucht, sie wollte das so. Als ich die Leute an der Türe verabschiede, wo sich alle bis auf Elke gleich eine Zigarette anzünden, dreht sich eben diese Elke nochmal um und fragt: „Kann ich den Sarg mal angucken?“

Ich nicke. Die anderen bleiben vor der Tür und ich gehe mit Elke in den Ausstellungsraum. Sie steht vor dem schlichten, aber durchaus ansehnlichen Sarg in grauem Esche-Dekor und nickt: „Jau, der is in Ordnung.“

„So“, sage ich, ziehe mit dem Fuß einen der Stühle neben der Tür herbei und drücke Elke einfach auf die Sitzfläche: „Jetzt erzählen Sie mir mal, warum Sie immer sagen, daß Sie den Bodo runtergeschmissen haben! Und erzählen Sie mir keine Märchen!“

Ich recke mich noch ein wenig, damit ich mit Schuhen auf Einsneunzig komme, schaue streng und halte den Zeigefinger hoch erhoben, so als könne er als Blitzableiter für Gottes Zorn dienen.

Offenbar schüchtert das die junge Frau ein. Mit gesenktem Blick sagt sie: „Ja, wenn mein Bodo schon tot is‘, dann will ich auch nich mehr. Ich mein, ich will mich nich umbringen oder so. Aber der Bodo und ich, wir hatten so viel vor, zum Beispiel wollten wir uns irgendwann mal ne Zukunft auf Malle aufbauen, am Ballermann eine Pommesbude und dann Millionäre werden, davon hat Bodo immer geträumt. Oder was mit gebrauchten Autos, oder so. Und jetzt? Jetzt bin ich alleine, da kann ich genauso gut ins Gefängnis gehen, lebenslang!“

Und dann kullern auf einmal die Tränchen! Die Kleine heult Rotz und Wasser, und das buchstäblich.

Endlich hat sie es ausgesprochen; sie vermißt ihren Bodo, sie kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen und in ihrer Verzweiflung hat sie diese abenteuerliche Geschichte erfunden, um nun ein Leben im Gefängnis zu verbringen.
Was für eine blöde Idee!

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt.
Ich spreche eine Weile mit Elke und dann rufe ich den Rest der Familie herein. Wir erklären den anderen, Elkes Behauptung sei aus dem Schock heraus entstanden. Die anderen nicken bloß.
Bodos Trauerfeier wird sehr schön. Es kommen zwar keine hundert Leute, sondern nur rund 70, aber auch das ist schon beachtlich.
Der Pfarrer spricht sehr nett über Bodo und seine Familie und man merkt, daß er die Familie entweder kannte, oder daß er sich viel Mühe bei der Rede gegeben hat.

Drei Wochen später ist die Urnenbeisetzung. Neben den bereits erwähnten Personen sind auch Luigi und die vollbusige Friseuse gekommen. Elke ist jetzt mit Luigi zusammen und die Friseuse mit Panzer …

Ende


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 3. Juni 2015 | Peter Wilhelm 3. Juni 2015

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4 Kommentare
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Bella
8 Jahre zuvor

Mahaha… der letzte Satz… ich schmeiss mich weg

Winnie
8 Jahre zuvor

Zitat:
Elke ist jetzt mit Luigi zusammen und die Friseuse mit Panzer …

Sie ist dann sozusagen unter den (oder auch dem?) Panzer gekommen… 😉

Georg
Reply to  Winnie
8 Jahre zuvor

@Winnie:
Panzerfahrer sagen glaube ich „Aufsitzen“ 🙂

Winnie
Reply to  Georg
8 Jahre zuvor

@Georg:
Auch nicht schlecht, dann ist sie halt gut drauf.




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