Menschen

Californio liegt vor Madagaskar

Herr Kiesewetter sitzt mir zum dritten Mal gegenüber und möchte seine Bestattung regeln. Ins Meer will er, weil er als junger Mann mal bei der Marine war, aber seinen Wunsch, eines Tages die sieben Weltmeere als Matrose zu bereisen, nie verwirklichen konnte. Stattdessen hat er fast 50 Jahre in der Gummifabrik gearbeitet und Fahrradschläuche und technische Gummiartikel verpackt. Zuletzt war er Oberpacker und hatte immerhin drei türkische Packer unter sich, aber das ist auch schon wieder beinahe 25 Jahre her, er ist jetzt an die 90 Jahre alt.

Ich weiß das alles schon, das erzählt mir Herr Kiesewetter alles nun schon zum dritten Mal. Ich wiederhole mich? Nein, er tut das. Er erzählt es mir heute zum dritten Mal und ist auch schon dreimal bei uns gewesen, letztes Jahr, vor etwa fünf Monaten und jetzt wieder.

Kaum sind wir aufgestanden, in den Ausstellungsraum hinübergegangen und schauen uns die auflösbaren Seeurnen an, tritt er auf einmal einen Schritt zurück, blickt mich ganz befremdlich an und fragt: „Junger Mann, was wollen Sie von mir? Kennen wir uns? Sind sie ein Freund meiner Tochter?“

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Seine Tochter Henriette hat Herr Kiesewetter längst überlebt, sie ist vor ein paar Jahren gestorben, kurz nach Kiesewetters Frau Elisabeth. Jetzt ist er ganz alleine und seine Verwirrtheit und Vergesslichkeit nimmt immer mehr zu.

Als er das erste Mal bei uns war, schien er noch ganz klar und vernünftig. Wir haben eine ganz normale Vorsorge für eine Seebestattung ausgetüftelt und er hat die Kosten dafür schon längst durch Hinterlegung eines Sparvertrages bei seinem Anwalt bezahlt.
Dieser Anwalt ist jetzt auch sein Betreuer, betreut neben Herrn Kiesewetter noch beinahe 30 andere Personen und kümmert sich, soweit man das ohne sein Büro zu verlassen machen kann, rührend um den alten Mann.
Finanziell ist immer alles bestens geregelt, alle Behördenbriefe gehen über den Anwalt, nur um die täglichen Belange des alten Herrn kümmert sich im Grunde niemand.

Wir nehmen Herrn Kiesewetter mit stoischer Geduld, warum sollen wir uns über ihn aufregen?
Wenn er kommt, dann wissen wir ja schon, was er wollen wird und er bekommt Kaffee, Gebäck, einen bequemen Sessel und einer von uns hört sich seine Lebensgeschichte an.

Vergisst er zwischendurch, wen er vor sich sitzen hat, so hilft ein Trick, den wir uns erarbeitet haben.
Menschen mit dieser Art von Altersverwirrung erinnern sich immer ganz besonders gut an Dinge, die schon sehr lange zurückliegen. Sie wissen manchmal, wenn sie direkt von der Toilette kommen, nicht mehr, daß sie eben Pipi machen waren, aber sie erinnern sich noch an jede Zeile von Schillers „Glocke“, die sie in Kindestagen einmal auswendig gelernt haben.

Bei Herrn Kiesewetter ist es das Lied „Wir lagen vor Madagaskar“ an das er sich gerne erinnert und wenn man es nur ganz eben anstimmt, dann singt er sofort mit, strahlt über das ganze Gesicht und beim Refrain klatscht er begeistert in die Hände. Das scheint sein Gehirn immer wieder ein bißchen anzukurbeln, denn danach kann man für eine ganze Weile recht normal mit ihm sprechen.
Dieses Mal habe ich bereits zum zweiten Mal „Wir lagen vor…“ angesungen und jedesmal war er schon beim Wort Madagaskar mit dabei und sang mit. Auch aus dem Büro drüben klingt Gesang, die Mädels singen mit. Frau Büser kann zwar nur die erste Strophe und Sandy kennt das Lied gar nicht, singt aber trotzdem mit, nur Antonia hängt an den Refrain immer ein Solo an „Blow Boys blow, for Californio…“

Das gehört zwar gar nicht zum Madagaskar-Lied, aber Antonia findet es schön und Herr Kiesewetter strahlt und klatscht.


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Die Geschichten und Berichte über Menschen sind u.a. Erzählungen und Kurzgeschichten aus der Welt der Bestatter.

Lesezeit ca.: 5 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 9. Juni 2010 | Revision: 28. Juni 2012

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14 Jahre zuvor

Eine weitere, schöne Geschichte. Mein Vater starb vor 6 Jahren mit 87, die letzten Jahre davor war er verwirrt bis sehr verwirrt. Er konnte dir zwar erzählen, daß er 1939-45 in Paris Plage stationiert war als Funker für den militärischen Geheimdienst, daß seine „Gastgeberin“ eine ausgezeichnete Köchin war und 50 Jahre alten Cognac im Keller hatte – aber was er vor 1 Stunden zu Mittag gegessen hatte, konnte er dir nicht mehr sagen. Umso schöner liest es sich, wie ihr euch rührend um solche Menschen kümmert!

LG, Frank

Emz
14 Jahre zuvor

Ihr seid Zucker!

14 Jahre zuvor

Armer alter Mann…

Glücklicher alter Mann, der jemand hat, der ihm seine Geschichten „abnimmt“… Schade, dass es „nur“ der Bestatter ist.

Aber wenigstens erinnert er sich noch an das, was er will..

Gruß
Joe

Alleswisser
14 Jahre zuvor

Hach, endlich kann ich mal wieder was klugscheißen, was sowieso jeder weiß… *freu* Antonia meint möchte wahrscheinlich dieses Liedchen anstimmen: http://de.wikipedia.org/wiki/Hamborger_Veermaster

Kümmt se denn ut’m Nordn?

Oberklugscheisser
14 Jahre zuvor

@Alleswisser: DU BIST JA SOWAS VON GENIAL!
(So, und jetzt klickst Du erst mal brav den Link, den Tom in seinem Text angegeben hat.)

Siggi
14 Jahre zuvor

Dass es tatsächlich heutzutage noch Unternehmer gibt, die sich so rührend um „Stammkunden“ kümmern, auch wenn es bei denen garnichts „zu holen gibt“ (der Vertrag scheint ja längst unter Dach und Fach zu sein), erscheint fast zu schön um wahr zu sein.
Ich möchte es aber so gern glauben, und deshalb erhaltet euch bitte, bitte eure Menschlichkeit!

Torsten Wiesner
14 Jahre zuvor

Wie seid ihr darauf gekommen, dass das mit dem Lied funktioniert?

Anonym
14 Jahre zuvor

Wenn ich mir jetzt so vorstelle, ich betrete aus gegebenem Anlass ein Bestattungshaus und es schallt mir ein mehrstimmig fröhliches “ und täglich ging einer über Bord“ entgegen….

Alleswisser
14 Jahre zuvor

@Oberklugscheisser: Öhm… das hatte ich übersehen… sorry… och menno… *schmoll* 😉

StefanS
14 Jahre zuvor

Hach, schoen als gebuertiger Norde heute schon zum zweiten Mal vom Stichwort Californio zu lesen, das begeistert 🙂
http://rueckseitereeperbahn.blogspot.com/2010/06/matjes-satt-mit-allen-konsequenzen.html

Asz
14 Jahre zuvor

Cool, Bestatterweblog bildet! Seit über 40 Jahren habe ich den Text nie richtig verstanden. Nu weiß ich endlich, wie’s geht (californio)
Vielen Dank @Tom!

MacKaber
14 Jahre zuvor

Ich denke, er will sich langsam bei Dir eingewöhnen, damit es später nicht zu plötzlich kommt.

JohnB
14 Jahre zuvor

@8 Gröhl, der war gut. :-))

zeco
14 Jahre zuvor

Auch eine Möglichkeit bei dem Wetter ein etwas entspanntes Gespräch zuhabe.
Schade is nur das sowas niemand zu schätzen weiß. Die Person erinnert sich nciht dran und anderen ist es schlichtweg egal.
Ich finds toll.




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