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Dem Dietz

Meine Frau und ich lassen unseren Kindern schon eine Menge durchgehen, finden wir. Gaaaanz fürchterlich strenge Eltern sind wir, finden die Kinder. Gerade unser Großer ist jetzt mitten in der Pubertät, eher noch am Anfang, und er empfindet zunehmend, daß wir ja von der wirklichen Welt überhaupt gar keine Ahnung haben.
Manchmal fühlt man sich regelrecht gekränkt wenn so ein Halbwüchsiger einem das Mitspracherecht an den Themen Freizeit, Geld und Liebe ziemlich vorlaut abspricht, weil er der Meinung ist, so „alte Leute“ brauchen weder das eine, noch das andere und Liebe schon gar nicht.

Dennoch muß ich sagen, daß dieser Konflikt eigentlich noch gar keiner ist und bislang für uns ganz glimpflich abgelaufen ist. Wenn ich mir das Zickengedöns anschaue, das er als seine Freundin bezeichnet und wie dieses verzogene Gör mit ihren Eltern umspringt…, na dann können wir uns glücklich schätzen.

Bei allem was der Große und unsere Kinder überhaupt so anstellen und wie die auch miteinander umgehen, denken wir oft, daß uns das alles ganz gut gelungen ist. Dabei setzen wir auf die Methode unserer Eltern und regieren liebevoll aber mit harter Hand. Wie sagt man so schön: Auf einem Schiff das dampft und segelt, gibt’s einen der die Sache regelt.
Und das scheint wirklich gut zu funktionieren, denn jedermann bestätigt uns, wie wohlerzogen und anständig unsere Kinder doch seien.

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Doch eine Sache, die lassen wir keinem unserer Kinder durchgehen, nämlich wenn einer den anderen als „Behinderten“ bezeichnet. Es scheint irgendwie aus der Schule mit herüber geschwappt zu sein und gilt im Moment nicht nur bei unseren Kindern als chic, den anderen als Mongo, Behindi oder Krüppel zu beschimpfen.

Dem Dietz liegt bei uns unten im Keller auf einer Edelstahlplatte, abgedeckt nur mit einem weißen Leintuch. Dem Dietz ist 40 Jahr alt geworden und er hinterlässt seine über 80 Jahre alten Eltern und einen Bruder von Mitte Sechzig.

Mit den Totenpapieren in der Hand stand Herr Böckling bei uns vor der Tür und klingelte. Es kommt manchmal vor, daß Leute einfach so zum Bestatter gehen, aber für gewöhnlich rufen sie doch vorher an. Wenn so ein alter Mann mit den uns nur zu gut bekannten Unterlagen in der Hand zu uns kommt, dann rechnen wir natürlich zuerst damit, daß seine Frau gestorben sein könnte. Vom Alter her ist das jedenfalls anzunehmen und wahrscheinlich.

„Dem Dietz ist tot“, sagte Herr Böckling und streckte mir in einer etwas hilflos wirkenden Geste die Papiere hin. Ich bat ihn erst mal rein, bot ihm einen Platz an und warf dann einen Blick auf die Papiere.

„Ihr Sohn?“ fragte ich und er schaute mich ein wenig verwundert an und sagte dann mit einem leicht zweifelnden Unterton in der Stimme: „Dem Dietz? Dem Dietz ist tot!“
Er sagte das so, als setzte er voraus, daß jedermann schon bei der bloßen Erwähnung des Namens Dietz sofort wissen müsse, um wen es sich da handelt.

„Aha“, sagte ich, das passt in solchen Fällen immer, ist unverbindlich und führt, wenn man dabei ein wenig die Augenbrauen hochzieht, leicht den und offenstehen lässt und einen fragenden Gesichtsausdruck macht, meist dazu daß die Leute von sich aus erzählen.

Das tat Herr Böckling auch, aber er begann mit seiner Geschichte vor vierzig Jahren, als seine Frau mit dem Dietz schwanger geworden war.

Man könne sich ja gar nicht vorstellen wie sehr sie sich damals gefreut hätten, als das mit dem Schwangerwerden doch noch geklappt hatte. Da war Jürgen, ihr erster Sohn, schon zu Hause ausgezogen. Daß seine Frau schon über Vierzig war und damit Risiken verbunden sein könnten, nein das habe ihnen eigentlich niemand gesagt.
Dieses ‚eigentlich‘ machte mich etwas stutzig, aber ich sagte nichts.

Als dem Dietz dann geboren wurde, schien jedem sofort klar gewesen zu sein, daß mit dem Kind etwas nicht stimmte, auf den ersten Blick war jedem klar, daß der Junge das Down Syndrom hatte, früher sagte man noch dazu, die Kinder seien mongoloid. Heute wird gern so getan, als sei das eine Beleidigung der Betroffenen, zu dieser Zeit vor vierzig Jahren, dachte sich niemand etwas Böses dabei, man kannte diese Behinderung gemeinhin einfach nur als Mongolismus. Wenn ich nicht irre, hatte der Entdecker dieser Krankheit ihr diese Bezeichnung selbst gegeben und erst nachträglich hat man ihr den nach eben diesem Entdecker, John Langdon-Down, benannten Namen Down-Syndrom gegeben. Wohl aus Rücksichtnahme auf die Menschen in der Mongolei.

„Im Grunde genommen haben wir uns damals selbst was vorgemacht. Aber wir wollten das nicht wahrhaben, das mit dem Dietz, wissen Sie? Wir haben Schachteln mit alten Fotos rausgesucht und wollten den Ärzten und Schwestern beweisen, daß in unserer Familie alle Babys ein bißchen mandeläugig aussehen und so runde Köpfe haben. ‚Das wächst sich aus‘, hat meine Frau immer gesagt und ich habe mir sogar Fotos von noch anderen Babys aus der ganzen Familie besorgt, nur um etwas zu beweisen, was man nicht beweisen konnte. Im Grunde haben wir uns nur was vorgemacht.“

Lange erzählte mir Herr Böckling von ihrer Weigerung, die Behinderung ihres Kindes anzuerkennen und er tat mir fast ein wenig leid, so wie er da saß und diese Art der Lebensbeichte abegte.
„Wir haben uns damals sogar mit meinem Bruder und mit einem Schwager zerstritten. Die wollten einfach nicht verstehen, daß wir dem Dietz als ganz normales Kind behandelten. Am Liebsten hätten die gehabt, wenn wir dem Dietz gleich in ein Heim gebracht hätten. Einer hat uns sogar die Schuld gegeben und uns Vorwürfe gemacht, daß wir so einen Schwachsinnigen in die Welt setzen, der nun sein ganzes Leben der Allgemeinheit auf der Tasche liegen wird. ‚Sowas läßt man doch wegmachen“, hat eine Wildfremde zu meiner Frau gesagt, als die mit dem Kinderwagen auf den Spielplatz kam. Eine andere hat gesagt: ‚In der Tierwelt ist das besser geregelt, da beißt die Mutter so eine Missgeburt einfach tot und frisst sie auf.‘ Können Sie sich vorstellen, wie uns das verletzt hat?
Vor allem aber hat es uns bestärkt allen zu beweisen, daß dem Dietz doch ein ganz normales Kind ist.
Wir sind dann gar nicht mehr zum Arzt mit dem, wir konnten das nicht mehr hören. Stellen Sie sich vor, als wir mit dem Dietz das erste Mal zum Kinderarzt kamen, da erwarteten wir, daß der uns zu unserem Sohn gratuliert und die typischen Untersuchungen und Impfungen vornimmt. Aber was macht der? Der guckt sich kurz das Kind an und sagt dann zu meiner Frau: ‚An dem werden sie aber nicht viel Freude haben, der wird sowieso nicht alt.‘
Was glauben Sie, wie es meiner Frau da zumute war? Ich habe fast zwei Tage gebraucht, um sie wieder zu beruhigen, so fertig war die!“

Ich sah, daß Herrn Böckling ein paar Tränen der Wut in den Augen standen und schüttelte nur den Kopf. Ich meine das ist jetzt gerade einmal vierzig Jahre her und nicht vierhundert. Hat sich wirklich soviel verändert?

„Nee, damals war das teilweise noch so. Glauben Sie mir, die haben uns fertig gemacht und jeder meinte, er könne uns unaufgefordert sagen, beim Hitler hätte man das besser gemacht, da seien solche Parasiten weggekommen. Nein, alles sei ja nicht in Ordnung gewesen bei den Nazis, das wäre ja aber alles nicht so schlimm gewesen, wenn der Hitler das mit den Juden nicht gemacht hätte. Aber daß der Hitler die Schwachsinnigen weggemacht hätte, das wäre zwar schlimm, aber letztenendes doch gut für alle gewesen. Jetzt frag ich Sie: Wie kommen die Leute dazu, sowas zu sagen? Wie können die unseren Dietz für weniger lebenswert halten als andere Menschen?
Natürlich waren nicht alle so, das muß ich jetzt auch mal sagen, aber wir hatten ja das Problem, daß die einen uns rotzfrech ins Gesicht gesagt haben, so alte Leute sind doch selber Schuld wenn sie so einen Idioten zeugen und die anderen, die uns vielleicht sogar helfen wollten, die haben wir nicht gewollt, weil wir doch immer noch alles verdrängt haben. Für uns war dem Dietz ein schönes Kind, er ist doch unser Sohn…“

„Warum sagen Sie immer ‚dem Dietz‘? wollte ich von Herrn Böckling wissen und er nickt, zeigt Verständnis für meine Frage und antwortet: „Das war das Einzige was Dietz richtig sagen konnte. Er konnte sprechen, aber nicht so ganz richtig, Fremde haben ihn oft gar nicht verstanden, wir verstanden jedes Wort und sein Schnabel hat ja auch nicht stillgestanden. Aber wenn es um ihn ging, wenn er seinen Namen sagte oder wenn er sagen wollte, daß ihm dieses oder jenes gehört, dann sagte er immer ganz klar verständlich: ‚dem Dietz‘. Fragte man, wie man das bei Kindern immer so macht: ‚Na, wie heißt du denn?‘, dann kam wie aus der Pistole geschossen: ‚dem Dietz!‘.“

Ich nickte verstehend und schenkte Herrn Böckling Kaffee ein, den die gute Seele des Büros, Frau Büser, hereingebracht hatte.

Dietz entwickelte sich nicht so, wie sich die Böcklings das vorgestellt hatten und es zeigte sich natürlich binnen kürzester Zeit, daß die Ärzte mit ihrer Diagnose recht hatten. Dietz war behindert, seine geistige und körperliche Entwicklung blieb zurück, verlief ganz anders und bald schon konnten auch die Böcklings sich selbst nichts mehr vormachen.

„Jetzt hatten wir uns aber ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Einmal hat eine Frau beim Metzger zu meiner Frau gesagt: ‚So Bekloppte muß es ja auch geben, irgendeiner muß ja später auch mal die Drecksarbeiten machen und einen Besen wird er ja wohl halten können.‘ Meine Frau hat sich dann zu der Frau umgedreht und gesagt: ‚Sie sind noch jung und werden eines Tages auch mal Kinder haben, wer weiß, vielleicht ist mein Dietz dann der Lehrer ihrer Kinder‘.“

Ich mußte schlucken, einerseits wegen der frechen und respektlosen Aussagen der Leute und andererseits wegen der verwegenen Aussage von Frau Böckling.
Aber Herr Böckling merkte das, lächelt kurz und meinte dann: „Ja ja, sagen sie nichts, wir waren damals so. Der Dietz ist ein absolutes Wunschkind gewesen und wir wollten es einfach nicht wahrhaben, daß er behindert war. Die Frau vom katholischen Kindergarten, die hat uns sehr geholfen, die hat sich gar nicht auf die Behinderung und unsere Einstellung eingelassen sondern einfach nur ein Kind gesehen und lapidar gesagt: ‚Für Kinder sind wir da, der Dietz kann gerne zu uns kommen, aber bitte erst in einem Jahr.‘
So haben wir es dann auch gemacht und ich kann Ihnen sagen, das war sehr sehr gut so. Die in dem Kindergarten, die hatten da noch eine alte Nonne, die Schwester Barbara, und die hat den Dietz vom ersten Tag an geliebt und umhegt. Die hat sich richtig Zeit für dem Dietz genommen und ihm auch mal den Hintern abgewischt, wenn das mal wieder nicht geklappt hat. Wenn Dietz die Schwester Barbara nicht gehabt hätte…, nee, nicht auszudenken.“

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