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Der alte Mann

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Die alte Kirche am Rande der Stadt hat sicherlich auch schon einmal bessere Zeiten gesehen. Die Warmluftheizung ist seit zwei Jahren defekt und läuft nur mit halber Kraft und auch das nur wenn sie will oder wenn der Küster ihr einen wenig liebevollen Tritt versetzt und dabei Ausdrücke in den Mund nimmt, die seinem Dienstherrn die Augäpfel aus dem Kopf treiben würden.
An mehreren Stellen ist das Dach undicht, wodurch zwar niemand naß wird, sich aber unschöne rostigbraune Flecken an der ehemals weißen Decke bilden. Auch die Orgel müßte mal ein sachkundiger Orgelbauer gründlich warten, im Laufe der Jahrzehnte haben sich da Schönberg’sche Töne eingeschlichen und der Organist manualisiert sich gelegentlich durch ebenso gewagte wie nutzlose Transponierungen an den gefährlichen Tönen vorbei.
Nein, wahrlich, eine Schönheit ist die Kirche nicht mehr, es fehlt einfach an allen Enden das notwendige Geld.

Und dennoch ist sie an manchen Sonntagen fast schon überfüllt und das verdankt sie einem Mann, nämlich Pater Tiller von den ‚Weißen Vätern‘, der hin und wieder die Predigt übernimmt und die Besucher der Messe durch seine Wortgewalt zu fesseln weiß. Steht sein Name auf dem Monatsplan, dann ist die Kirche voll.
Auch an Weihnachten muß man entweder ganz früh kommen oder eben mit einem der fußkalten Stehplätze weiter hinten vorlieb nehmen. Aber daß die Kirche an Weihnachten immer voll ist, das liegt nicht nur an der Tatsache, daß die Menschen sich eben zu Weihnachten ganz besonders an die Kirche erinnern und in die Kirche hingezogen fühlen und es liegt auch nicht an Pater Tiller sondern es liegt, und das muß man einfach mal so sagen, einzig und allein an Bruno Eckes.

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Bruno Eckes ist schon ziemlich alt, wahrscheinlich schon so an die 80 Jahre und es gibt auf dieser weiten Welt angeblich kaum ein Land das er noch nicht gesehen hat und keinen Beruf den er nicht schon ausgeübt hätte.
Irgendwann, es mag so etwa 10 bis 15 Jahre her sein, war er auf einmal da, bezog das kleine Häuschen am Ende der Bahnhofsstraße, machte niemandem Ärger und kümmerte sich nicht viel um die Leute.

Aber wie das so ist wenn jemand ein bewegtes Leben geführt hat und zu der unsteten Sorte gehört, früher oder später fangen die Leute an zu reden und einige sagten ihm nach, er müsse hin und wieder beim Pfarrer um Geld betteln, jedenfalls habe man ihn hier und da schon aus dem Pfarrhaus kommen sehen.

„Jetzt wo er alt und arm ist kommt er her und liegt uns allen auf der Tasche, dabei gibt es doch so viel Bedürftige in der Gemeinde, die immer schon hier gewohnt haben“, sagte die Gemüsefrau und fand damit den Beifall der Umstehenden.

Den alten Eckes störte das nicht weiter und er besuchte auch weiterhin in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen den Pfarrer und ab und zu, so wurde herumgetratscht, trage er auch ein dickes in Decken gewickeltes Bündel vom Pfarrhaus zu sich in das kleine Häuschen. Da kann ja was nicht mit rechten Dingen zugehen!

Gerade erreichte der so vor sich hin gemunkelte Volkeszorn knapp seinen Siedepunkt, da platze seinerzeit der Knoten und alle Unterstellungen wurden binnen weniger Minuten ad absurdum geführt und es hätte den Munklern eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben müssen. Aber man kennt das ja, die Munkler, die schämen sich nie.

Der Knoten platzte während einer Weihnachtsmesse, da war Eckes etwa zwei Jahre da. Den Kirchenbesuchern war aufgefallen, daß die vordere rechte Seitenkapelle mit weißen Tüchern abgehängt war und man glaubte wohl, das hinge mit dem teilweise etwas baufälligen Zustand der Kirche insgesamt zusammen.

Doch als der Herr Pastor von Bethlehem und Jesu Geburt erzählte, da sagte er den Messbesuchern, daß es in diesem Jahr eine besondere Überraschung geben würde. Seit über 30 Jahren hatte nämlich eine ehemals wunderschöne, aber schon seit dem Krieg beschädigte Krippe im Keller des Pfarrhauses gestanden und eben jener Bruno Eckes hatte diese in Hunderten von Stunden und auf eigene Kosten vollständig wieder aufgearbeitet und instandgesetzt.

Manche waren einfach sprachlos, anderen entfuhr das eine oder andere Geräusch des Erstaunens und die Kinder machten große Augen, als am Ende der Messe zu den Klängen von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ die Tücher beiseite gezogen wurden und ihre Blicke auf diese Krippe fielen.

Lebensgroße Holzfiguren in einer wunderschön und liebevoll gestalteten Krippenkulisse, eine wahre Pracht!

So etwas Schönes hatten viele der Besucher schon lange nicht mehr gesehen und ganz spontan wollte der Vorsitzende des Kirchengemeinderates, der Mann der geschwätzigen Gemüsefrau, dem alten Eckes danken, doch der war längst nach Hause verschwunden.

An sich eine schöne Geschichte, eine jener Geschichten wie sie sich manchmal eben nur an Weihnachten zutragen kann, aber sie ist noch nicht zu Ende.

Im nächsten Jahr strahlte die Krippe noch schöner, die Figuren hatte Eckes inzwischen sogar bemalt und an manchen Stellen auch vergoldet. Mit einem kleinen Augenzwinkern und damit Eckes sich nicht wieder einfach verdrücken konnte, hatte der Pfarrer es ihm aufgetragen, die Weihnachtsgeschichte vorzutragen.
So stand er da, dieser einfache und bescheidene Mann in einer schlichten dunklen Cordhose und einer etwas abgetragenen Jacke und las mit einem leichten Hamburger Akzent die Weihnachtsgeschichte vor. Es war sehr schön.

Ich sage da extra nicht mehr dazu, weil erst das was sich im darauffolgenden Jahr zutrug, die Wurzel der ganz besonderen Weihnacht in unserer alten Kirche am Rande der Stadt sein sollte.
Vielleicht weil Eckes nicht gut zu Fuß war oder auch aus irgendeinem anderen Grund, war es so, daß er zwar wieder die Weihnachtsgeschichte las, aber dieses Mal im Sitzen vor ’seiner‘ Krippe und erst ganz am Ende nach „Stille Nacht – Heilige Nacht“.

Normalerweise ist es ja so, daß die Leute nach der Weihnachtsmesse immer ganz schnell nach Hause wollen, schließlich wartet das Fest ja noch mit einer ganzen bunten Auswahl aus dem Bereich der Todsünden auf und zumindest die Völlerei will ja bedient werden.
Doch in diesem bewußten Jahr blieben die Menschen stehen und lauschten der Weihnachtsgeschichte, die ein alter Mann vor ’seiner‘ Krippe vorlas.
Wer ganz genau hingesehen hat, der hatte entdeckt, daß sich in das Ensemble der Krippenfiguren ganz im Hintergrund ein geschnitztes Eichhörnchen eingeschlichen hatte. Eckes hatte es irgendwann von einer seiner Reisen mitgebracht.

Im Laufe der Jahre gesellten sich immer mehr Figuren dazu und so stand in unserer kleinen alten Kirche ein mit Federn geschmückter Indianer hinter dem Esel und ein chinesischer Drache bewachte das Jesuskind von hinten links.
Besonders den Kindern gefiel das natürlich sehr und so wurde es zur Tradition, daß jede Familie in unserer Gemeinde wenigstens einmal, manchmal auch mehrmals in der Weihnachtszeit die Kirche aufsuchte, um sich in aller Ruhe diese ganz außergewöhnliche Krippe anzuschauen.

Mir persönlich gedenkt noch ein Weihnachtsfest ganz besonders. Als wir alle in die Kirche gingen, hing der Himmel voller Geigen, wie meine Oma zu sagen pflegte. Dicke Wolken, aber von Regen oder Schnee keine Spur.
Als dann nach der Weihnachtsgeschichte die großen Türen der Kirche aufschwangen und die Glocken das heilige Fest einläuteten, war draußen alles weiß, es hatte geschneit wie schon viele Jahre nicht mehr.

Die Kinder lieben weiße Weihnachten und sie liebten den alten Eckes, den sie nur den Krippenopa nannten.

Im August dieses Jahres ist es dann passiert. Bruno Eckes ist gestorben. Er ist einfach vor dem Fernseher eingeschlafen und nicht mehr wach geworden. Da er keine Verwandten hatte und auch sonst niemand für ihn zuständig gewesen wäre, übernahm der Pfarrer die Ausrichtung seiner Beerdigung.
Eines war klar, darüber hatte der alte Eckes mal gesprochen, seine Asche würde in der See beigesetzt werden, also brauchte man sich um ein Grab nicht zu kümmern.
Die Trauerfeier war jedoch ganz etwas Besonderes und eine solche hat man wohl nirgendwo auf der Welt jemals zuvor gesehen und ich wage es zu bezweifeln, daß es jemals wieder eine solche geben wird.

Die Kirche war an diesem Tag im späten August voll besetzt bis auf den letzten Platz und in den Gängen links und rechts standen die Menschen dicht gedrängt. Vorne vor dem Altar war Bruno Eckes Sarg aufgebahrt und rings um ihn herum stand seine Krippe, mit Kind, Maria und Josef, den Hirten, dem Indianer und natürlich dem Eichhörnchen und dem feuerspeienden chinesischen Drachen.

Niemals zuvor hatte es eine Trauerfeier gegeben, bei der der Pfarrer die Weihnachtsgeschichte vorgelesen hat und bei der das Lied „Stille Nacht – Heilige Nacht“ gespielt und von allen Trauergästen mitgesungen worden ist.

Weihnachten ohne den Krippenopa wird nie wieder so sein wie früher, aber wir werden bestimmt noch viele Jahre seine Krippe besuchen und an ihn denken.


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Lesezeit ca.: 11 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 24. Dezember 2008 | Revision: 28. Mai 2012

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13 Kommentare
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Chris
15 Jahre zuvor

Danke, Tom!

*tränewegwisch*

Frohe Weihnachten Euch allen!

Chris

jemand
15 Jahre zuvor

Fröhliche Weihnachten
Das war jetzt aber 2 Minuten zu früh ^^

Thilo
15 Jahre zuvor

Eine wunderschöne Weihnachtsgeschichte.

Thanks for sharing!!!

Gruß und Frohe Weihnachten!

Thilo

Matze
15 Jahre zuvor

Wow…

Ich danke dir für diese schöne Geschichte (auch wenn sie schöner wäre, wenn der „Krippenopa“ noch weiterhin die Weihnachtsgeschichte lesen würde (aber dann hätte sie ihren Weg hierhin wohl nicht gefunden)) und wünsche dir und deiner Familie ein paar ruhige und hoffentlich entspannte Feiertage.

laemmchen
15 Jahre zuvor

Schöne Geschichte. Das ist doch mal der wahre Geist der Weihnacht.
Frohes Fest!

Karin
15 Jahre zuvor

Einfach wunderschön!!
DANKE
und allen ein frohes Weihnachtsfest!
Karin

15 Jahre zuvor

Danke!
*schnief*

Frohe Weihnachten euch allen, wo immer ihr seid.
Liebe Grüße

Cat

biggi_aus_w
15 Jahre zuvor

dabei wollte ich doch heute nicht mehr heulen…

Michi S.
15 Jahre zuvor

@8: dito…. in dieser Beziehung is Weihnachten echt furchtbar

Allen frohe Weihnachten!

Frauke
15 Jahre zuvor

Manchmal bedauer ich deine Anonymität wirklich, Tom… Diese Krippe würde ich nämlich irre gerne mal sehen.
Wirklich eine wunderschöne Geschichte, wenn auch mit einem nicht so schönen, aber irgendwie doch wieder zauberhaften, Ende…
Frohe Weihnachten euch allen!

eulchen
15 Jahre zuvor

Sehr zum Herzen gehende Geschichte, gut das ich sie heute erst gelesen habe, muss nämlich heulen.

Schön auch dieser Satz:
„Normalerweise ist es ja so, daß die Leute nach der Weihnachtsmesse immer ganz schnell nach Hause wollen, schließlich wartet das Fest ja noch mit einer ganzen bunten Auswahl aus dem Bereich der Todsünden auf und zumindest die Völlerei will ja bedient werden.“

Tom Du bist für mich einfach der der Meister des subtilen Humors =)

mike
15 Jahre zuvor

Wow! Wunderschön! Frohe Weihnachten euch allen!

Susi
15 Jahre zuvor

Einfach nur wunderschön *schluchz*




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