Geschichten

Die Buchlesung

Kommen Sie, kommen Sie!“, sagte Herr Paulsen mit breitem Lächeln: „Wir haben eine schöne Garderobe für Sie hergerichtet. Unsere Frau Siebermann hat das alles organisiert.“

Herr Paulsen, Inhaber eines mittleren Betriebs der Zulieferbranche für Bestatter, führte mich in einen kleinen Raum, in dem man einen Ohrensessel und einen kleinen Tisch geschafft hatte, um es mir gemütlich zu machen. „Hier können Sie warten, bis es los geht, Frau Siebermann kommt dann und holt Sie.“

So saß ich da und schaute mich um. Anscheinend wurde der Raum normalerweise für die Aufbewahrung von Besen, Eimern und Putzmittel benutzt und so roch es auch scharf nach Salmiak und Chlor. ‚Na hoffentlich setzt sich der Geruch nicht in meinem Klamotten fest, wofür habe ich denn so ein tolles Rasierwasser aufgetragen?‘, dachte ich und begann in meinem Manuskript zu lesen, um mich auf die Buchlesung einzustimmen, zu der man mich eingeladen hatte.

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Vor vier Monaten hatte mir Herr Paulsen eine Mail geschrieben und angefragt, ob ich zu diesem Termin Zeit hätte. Hatte ich. Es folgten der übliche Mailwechsel und ein paar Telefonate, dann waren die Bedingungen und das Honorar ausgehandelt.
Damit ich nicht so viel erklären muß und damit Veranstalter im Vorfeld ziemlich genau Bescheid wissen, was zu berücksichtigen ist, habe ich eine, aus bisherigen Pannen und Mißverständnissen genährte, Bühnenanweisung verfaßt, die die wichtigsten Punkte enthält, damit eine Veranstaltung mit mir professionell und reibungslos ablaufen kann.
Nun ist diese Liste recht umfangreich und beinhaltet natürlich auch Punkte, die nicht bei jeder Veranstaltung von Bedeutung sind. Deshalb betone ich auch immer wieder, daß diese Liste nicht der Ausdruck eines gehobenen Anspruchsdenkens ist, sondern auf bisherigen Erlebnissen und Pannen beruht.

In den allermeisten Fällen bemüht man sich akribisch, die Punkte einzuhalten, ja, manchmal übererfüllt man sogar meine Wünsche.

Eine Dreiviertelstunde hatte ich schon gewartet und blickte auf die Uhr, es war bald Zeit, anzufangen, außerdem mußte ich mal auf die Toilette. Normalerweise reicht man mir ein Getränk und etwas Gebäck. In dem Kabuff gab es aber bloß Kernseife und Putzmittel.
19 Uhr. Die Veranstaltung soll beginnen und tatsächlich, genau Schlag 19 Uhr reißt Frau Siebermann die Tür des Verschlages auf und strahlt mich an: „Es geht lohooos!“
Umständlich schließt sie die Besenkammer ab und überreicht mir den Schlüssel. „In Ihrer Liste steht ja, daß Sie eine abschließbare Garderobe wünschen. Hiermit überreiche ich Ihnen den einzigen Schlüssel. Das heißt, unser Hausmeister, der Herr Brömmelkamp, der hat noch einen, aber der Herr Brömmelkamp, der ist in Urlaub, das erste Mal seit, warten Sie, lassen Sie mich überlegen, ich glaube seit zwölf Jahren. Also der Herr Brömmelkamp, der ist jetzt seit 1998 bei uns und war, lassen Sie mich rechnen, 2002 das letzte Mal in Urlaub, da war er auf Korfu, das war ja, als es den Griechen noch nicht so schlecht ging, und jetzt fährt er nach Dänemark, da haben die ein Ferienhaus gemietet …“

„Okay, ich glaube, wir müssen …“

„Ja, ja, ja, es geht gleich los. Der Herr Paulsen senior hält noch eine Ansprache. Wir haben also ein paar Minuten Zeit. Nehmen Sie erst mal den Schlüssel.“

Mit diesen Worten überreicht sie mir den Schlüssel zur meiner ‚Garderobe‘, an den man mit einer Kordel ein etwa 20 Zentimeter langes Kantholz gebunden hatte. Ich schaue den Knüppel ratlos an und Frau Siebermann lacht: „Damit ihn keiner einsteckt. Sonst ist der immer weg. Ach, was wir da schon erlebt haben.“

Jetzt ist Kantholz nicht der richtige Ausdruck für das Gebilde. Irgendjemand, wahrscheinlich einer von den dort beschäftigten Männern, hat sich einen Jux daraus gemacht, das Ding rund zu schmirgeln, es rosa anzupinseln und dem Ende das Aussehen eines Penis zu verleihen. Sicherlich unter Männern der Brüller, doch für mich eher peinlich.

„Ich kann doch nicht mit einem solchen, äh, Knüppel in der Hand auftreten“, protestiere ich.

„Tja, einen anderen Schlüssel haben wir nicht.“

Ich versuche den Knoten der Kordel zu lösen, doch der ist so alt und so fest, der geht nicht auf. Also stecke ich den Penisprügel seufzend in meine Umhängetasche.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, daß es schon 19.10 Uhr ist und ich mahne Frau Siebermann zur Eile.

„Ach was, Herr Wilhelm, wenn der Senior erst mal angefangen hat, dann dauert das, wir haben jede Menge Zeit. Das letzte Mal hat er auch einen Hauch überzogen, das kennen wir schon. Der war noch in Stalingrad dabei und jetzt wird er gerade bei der Stelle sein, wo ihm der kleine Finger am Gewehrlauf angefroren war.“

„Ich müßte mal wohin …“

„Eine Toilette haben wir hier unten nicht. Das heißt, da vorne wäre doch eine, aber die ist abgeschlossen und den Schlüssel hat nur …“

„… der Herr Brömmelkamp.“, vervollständige ich den Satz der netten Frau. „Aber ich müßte jetzt wirklich mal.“

„Ja dann, dann müssen wir nach oben, quer durch den Veranstaltungsraum und da wäre dann ein Klo.“

Die Vorstellung, jetzt durch den Saal huschen zu müssen, widerstrebte mir, aber mir blieb ja wohl nichts anderes übrig, meine Blase drückte nämlich schon gewaltig.
Nun muß man sich das so vorstellen, daß man in der Firma Paulsen einen Lagerraum leergeräumt und recht hübsch dekoriert hat, die Gäste sitzen in zwölf Reihen auf Stühlen und lauschen mehr oder weniger gelangweilt den Ausführungen des ehrwürdigen Firmengründers, der schon bei der russischen Kriegsgefangenschaft angekommen ist und gerade eindrucksvoll erzählt, wie verfaulte Kartoffelschalen schmecken.

„Da drüben die kleine Tür, das ist die Toilette“, raunt mir Frau Siebermann zu und ich umrunde leise die ganzen Zuschauer und es gelingt mir nahezu unbemerkt, das Klo zu erreichen.
Die Tür zu dieser Örtlichkeit muß es in einem Liliputanerladen zum Schnäppchenpreis gegeben haben, so schmal ist sie; ich kann mich nur seitwärts in den Raum dahinter zwängen. Dort hat der Innenausstatter eines Wohnmobilherstellers sein Meisterstück abgeliefert und quasi eine Dusche, ein WC und ein Waschbecken auf 1 Quadratmeter untergebracht. Wenigstens sauber ist es und so folge ich brav dem Schild, das zum Sitzpullern auffordert. Meine Jacke habe ich ab und quer über das Waschbecken gelegt, an das ich im Sitzen mit den Knien stoße. Oben drauf liegt meine Umhängetasche.
Nach der Erleichterung will ich den Deckel des Klos schließen, das geht aber nicht ohne weiteres, es ist so einer, der sich ganz langsam automatisch absenkt.
Ich drücke auf die Spartaste der Spülung und statt einer Spülung erfolgt nur ein hohles Gurgeln, so als ob das Wasser erst von ganz weit weg heranplätschern müsse.
Unterdessen ziehe ich mir meine Jacke wieder an und hänge meine Tasche um. Händewaschen! Ich nehme von der Flüssigseife und drehe den Hahn auf. Doch auch da nur Rauschen und Gurgeln, es kommt kein Wasser.
Mit der klebrig-schlüpfrigen Seife an den Händen zupfe ich ein Papiertuch aus dem Spender. Normalerweise sind die im Zickzack gefaltet und das entnommene Blatt zieht das nächste raus. Nicht so dort, da kommt das von der Rolle und man muß es an einer gezackten Kante abreißen, ich will das tun, hinter und vor mir gurgelt es immer noch, doch die Rolle ist nicht richtig im Gehäuse befestigt und als ich ein genügend großes Stück Handtuchpapier mit Schwung an der gezackten Kante abtrennen will, versetze ich stattdessen die Rolle im Inneren des Spenders in schnelle Umdrehungen und sie spult an die 20 Meter grünes Handtuchpapier ab. Das schlingelschlängelt sich auf den Boden, auf meine Schuhe und an meinen Beinen entlang.
Im gleichen Moment hat sich das Wasser entschieden unter rauschendem Getöse anzukommen. Im Klo bricht quasi ein wässriger Vulkan aus und eine Fontäne schießt mir von hinten unten unter die Jacke bis ins Genick, gleichzeitig spritzt mit der vermaledeite Wasserhahn von vorne in den Schritt.
Das alles geschieht nicht lautlos, sondern die Spülung bedient sich einer Geräuschuntermalung, die dem Weltuntergang in einem Endzeitszenario von Roland Emmerich gut zu Gesicht gestanden hätte.

Es hilft alles nix, ich muß irgendwie in die Garderobe zurück, um meine Klamotten auf der Heizung zu trocknen, sollen die Leute doch etwas warten, der alte Paulsen wird sicher noch eine Weile reden.
Also öffne ich die Klotür und während ich feststelle, daß der Alte mitnichten noch redet, und daß alle Anwesenden mit offenem Mund in meine Richtung schauen, ruft Frau Siebermann: „Und da ist er ja, der beliebte Schriftsteller, Peter Wilhelm!“
Ja und als die Leute zögerlich anfangen zu klatschen, poltert auch noch der riesige Holzpenis mit dem Garderobenschlüssel aus meiner Tasche auf den Boden.
Ruckzuck ist Frau Siebermann zur Stelle, hebt das Ding auf und marschiert, den Holzlümmel wie einen Tambourmajorstab schwingend vor mir her zur Bühne.
Dort stehe ich dann im Scheinwerferlicht, mit nassem Hosenschritt und feuchtem Rücken.
Statt ins Mikrophon spricht Frau Siebermann versehentlich in den Penis, weshalb man von ihrer Ansage nichts hört.

Die Leute gucken komisch…
Woran das bloß wieder liegt?

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