Geschichten

Die Nacht der langen Messer

Chef, wir haben ein Problem!“

Mit diesen Worten betrat Manni mein Büro und hielt mir seine ausgestreckte Hand hin. Auf seiner Handfläche lag etwas. „Gucken Sie sich das mal an!“

Ich schaute und sah kleine schwarze Stäbchen, vielleicht 2 bis 3 Millimeter lang. „Und?“, fragte ich.

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„Ratten, Chef, Ratten, ganz eindeutig!“

Ich schaute wieder auf Mannis Hand, setzte vorsichtshalber die Brille auf und betrachtete diese schwarzen Klümpchen näher. „Nee, Manni, das sind keine Ratten, das sind kleine schwarze Klümpchen.“

„Aber Chef, das hier ist Rattenkacke. Die habe ich in der Werkstatt gefunden, direkt bei den Hobelspänen.“

Hobelspäne, auch als Kleintierstreu bekannt, verwendeten wir in großer Menge. Wir polsterten und füllten damit die unteren Teile der Särge. Manni konnte also durchaus Recht haben. So ein Material ist bei Nagetieren sicher sehr beliebt, um Nester zu bauen, oder so.
Aber bauen Ratten Nester?

„Gibt’s denn sonst noch Hinweise auf die Anwesenheit von Ratten?“

„Ja, Chef. Dem Otto haben die Biester gestern eine Stulle geklaut. Eben noch lag die Stulle auf dem Tisch in unserem Aufenthaltsraum, wir mußte nur für zehn Minuten weg, und als wir wiederkamen, waren nur noch ein paar Krümel da. Und neben dem leeren Butterbrotpapier lagen auch diese kleinen schwarzen Köttel.“

„Hm, dann unternehmen Sie was. Stellen Sie ne Falle auf oder streuen Sie irgendein Gift. Sowas gibt es doch.“

„Ich kann da unten doch kein Gift ausstreuen, wissen Sie, wie gefährlich das ist?“

„Und für wen soll das gefährlich sein? Ihr wißt doch wo das Gift liegt und könnt Euch davon fernhalten; und unsere Verstorbenen werden sich kaum noch vergiften können.“

Manni stutzte kurz und meinte dann: „Nee, es geht doch nicht um die Leichen, äh, Verstorbenen. Ich meine unsere Kätzchen.“

Das sah ich ein. Seit Jahren pflegten die Männer in der Werkstatt einige Katzen. Irgendwann war mal eine aufgetaucht und nicht mehr gegangen und inzwischen müssen es drei oder vier Katzen sein, die da ein und ausgehen. An die hatte ich nicht gedacht. Aber dann kam mir ein anderer Gedanke. „Wie kann es eigentlich sein, daß wir da unten Ratten haben, obwohl da Katzen sind? Sollten die Viecher nicht eigentlich Mäuse, Ratten und andere Nager aufessen?“

„Das weiß ich auch nicht, jedenfalls haben wir das hier“, sagte Manni und streckte mir wieder die flache Hand mit den Rattenkötteln hin: „Und Ottos Brot ist auch verschwunden.“

„Gut, Manni, dann ernenne ich Sie jetzt zum offiziellen Schädlingsbeauftragten. Kümmern Sie sich darum, treffen Sie alle diesbezüglichen Entscheidungen und beseitigen Sie das Problem.“

Es ist immer klug, seinen Mitarbeitern Titel und Pöstchen zu geben. Das motiviert und bindet. Mit dieser Methode habe ich über Jahrzehnte sehr gute Erfahrungen gemacht. Nicht gerechnet hatte ich mit Mannis Habgier. Er fragte nämlich sofort: „Und krieg ich jetzt mehr Geld?“
Ich grinste. Eigentlich hatte er ja Recht. So entschied ich: „Auf manchem Dorf am Neckar werden Prämien für erlegte Bisamratten bezahlt, die machen die Dämme kaputt. Also will ich auch eine Prämie zahlen, wenn Ihr die Ratten beseitigt. Wenn die Werkstatt wieder rattenfrei ist, machen wir auf meine Kosten eine Werkstattfete mit leckerem Essen und Trinken.“

Ich reichte Manni die Hand und er schlug ein.

Scheiße…

Manni verließ frohgelaunt das Büro und ich suchte nach Feuchttüchern, um mir die braunen Schmierdinger von den Händen zu wischen.

Am nächsten Morgen komme ich runter ins Büro und es ist nur Frau Büser da. „Wo sind die anderen?“, frage ich und Frau Büser schaut mich nur verständnislos an. Deshalb bohre ich nach: „Wo sind Sandy, Antonia, Nadine, Toni und Jochen?“

„Ja aber Chef, Sie haben doch die Rattenjagd ausgerufen.“

„Was hab‘ ich?“

„Sie haben Manni doch den Auftrag gegeben, der Rattenplage Herr zu werden. Er ist doch unser Schädlingsbeauftragter.“

„Ja, äh, und?“

„Und? Na, er hat die anderen heute Morgen zu einem Seminar in die Werkstatt gebeten. Er klärt über die Anzeichen des Rattenbefalls auf und stellt die Maßnahmen vor. Eine Stunde soll das gehen.“

Nun gut. Das hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber meinetwegen. Eigentlich hatte ich gedacht, Manni fühlt sich durch den Titel des offiziellen Schädlingsbeauftragten in humorvoller und nicht ganz ernstzunehmender Weise etwas gebauchpinselt und legt deshalb mehr Elan beim Aufstellen von zwei Rattenfallen für Dreieuroneunzich an den Tag. Daß er die allgemeine Mobilmachung ausrufen würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Auf der anderen Seite sagte einer meiner Professoren immer: „Viele Hände schaffen ein schnelles Ende.“
Möglicherweise konnte also der personelle Gesamteinsatz die Rattenplage tatsächlich besonders schnell stoppen. Also ließ ich Manni gewähren. Schon knapp eine Stunde später waren die Vermißten alle wieder bei der Arbeit.
Der Tag verlief mit lauter Kleinigkeiten. Alles nur so zeitraubende Anzeigenbestellungen, Schleifenbestellungen, Telefonate und Faxe; und die einzige Verstorbene, die an diesem Tag zu uns geholt wurde, war auch nur knapp Einsfuffzich.

In den nächsten Tagen erstattete Manni regelmäßig Bericht von der Rattenfront. Immer wieder verschwanden auf geheimnisvolle Weise Ottos Butterbrote. Auch von den schwarzen Krümeln fanden sich immer mal wieder welche. Neuderings vor allem auf dem Tisch im Aufenthaltsraum, an dem die Männer ihre Pausenmahlzeiten einnahmen. Manni versprach aber, das Problem binnen kürzester Zeit in den Griff zu bekommen. Da die beiden Rattenfallen aus dem Baumarkt nichts gebracht hätten, habe er sich was Besseres einfallen lassen.

An diesem Tag ging ich um fünf Uhr am Nachmittag dann hoch in die Wohnung. Ich hatte mir ein paar Folgen einer spannenden Zombieserie aus Amerika aufgenommen und wollte diese entspannt in aller Ruhe schauen.
Dazu machte ich mir einerseits eine Schnittchenplatte und andererseits es mir gemütlich.

Nun ist das, wenn man eine Frau und zwei Kinder hat, mit der Gemütlichkeit so eine Sache…
Die Allerliebste versprach, mich nicht zu stören. „Warum haben die alle so blutige Gesichter?“ „Können die nicht sprechen?“ „Warum wackeln die so beim Laufen?“ „Ih, die stöhnen aber gräßlich herum!“ „Warum ist der Mann jetzt nicht tot?“ „Ach guck mal, was die fürn tollen Rock an hat, meinst Du, mir würde sowas auch stehen?“ „Wie viele Folgen hast Du davon noch aufgenommen?“ „Daß die den armen Menschen immer in den Kopf schießen müssen.“ „Mein Gott, das viele Blut, wer macht da bloß immer sauber?“

Ich beschloss, ins Bett zu gehen und die restlichen zwei Folgen im Schlafzimmer anzuschauen.

Als ich das Wohnzimmer verließ, begegnete mir meine herzallerliebste kleine Tochter im Flur und als sie ins Wohnzimmer gegangen war hörte ich, wie das durchtriebene kleine Luder zu ihrer Mutter sagte: „Und? Können wir jetzt ‚Bauer sucht Frau‘ gucken? Hast Du ihn ins Bett geredet?“ Und die Allerliebste sagte: „Ach Schatzl, Du weißt doch, das klappt immer.“

Ich glaube, diese Tips und Tricks, die Frauen so auf Lager haben, gehören zu den Dingen, die in dem großen, streng geheimen Buch stehen, das auf Damenklos ausliegt und in dem die beiden Frauen, die immer zusammen aufs Klo gehen, dann lesen.

Nun kam es so, daß die vorher verzehrte Schnittchenplatte, das weiche warme Bett und die in Endlosschleife angeschauten Zombiefilme bald schon ihre Wirkung zeigten. Müdigkeit zerrte mich in einen rasch einsetzenden Tiefschlaf und die bald schon vor meiner inneren Leinwand flimmernden Traumbilder waren von Zombies beherrscht. Ich konnte, wie so oft, fliegen, aber wie ebenso oft war ich zu schwer, hob kaum ab, kam immer gerade so auf zwei Meter Flughöhe und hatte Mühe, den nach mir greifenden Zombies zu entgehen. Auch heftiges Flattern mit den Armen half nicht. Gegen 23 Uhr wachte ich auf.
Ich ging rüber in die Küche, um was zu trinken, machte vorher noch einen Umweg zur Toilette und als ich dann so vor mich hin trank, vernahm ich polternde Geräusche von weiter unten aus dem Haus. „Zombies!“

Schnell schüttelte ich den Gedanken an untote Menschenfresser ab, grinste über mich selbst und begab mich nach unten. Im Schein meiner Taschenlampe fand ich die Büroetage im Erdgeschoß leer, ruhig und friedlich vor. Nur die Lämpchen eines Netzwerkadapters zauberten ein irres grünes Blinken an eine Wand.

Wieder polterte es. Das Geräusch kam eindeutig aus dem Keller.

Ich ging die Treppe hinunter, auf Zehenspitzen. Am Eingang zur Werkstatt tastete ich nach dem Lichtschalter und als ich ihn erreichte, zuckte flackerndes Leuchtstoffröhrenlicht durch den Raum. Ich wich zurück. Vor mir standen drei Endzeitkämpfer. Apokryphe Apokalyptiker in Kampfuniform! Ein Schrei entfuhr mir. Dann hob eine der Gestalten ihre Hand: „Chef, wir sind’s doch!“

Vor mir standen Manni, Antonia und Sandy. Sandy war, wie immer, komplett in Schwarz gekleidet; sie braucht sowieso nichts, um gefährlich zu wirken. Antonia hatte sich ein Küchensieb vors Gesicht geschnallt und eine struppige Felljacke angezogen. „Ja, Chef, ich hab gehört, daß Ratten einem immer zuerst in die Augen springen und die ausbeißen. Deshalb trage ich das Sieb zum Schutz. Und bei Karl May habe ich gelesen, daß Ratten nicht durch Felljacken durchbeißen können.“

Manni trug einen Armeeanzug, Kampfstiefel und eine Art Samuraischwert.

„Mein Gott“, entfuhr es mir: „Was macht Ihr hier?“

Sie antworteten gleichzeitig: „Ratten jagen!“

„So wie Ihr ausseht, wollt Ihr den Teufel austreiben oder den Yeti fangen!“

Kurz darauf saßen wir im Aufenthaltsraum unserer Männer. Die drei Samuraimusketiere hatten Teile ihrer Ausrüstung abgelegt. Manni hatte tatsächlich ein rasiermesserscharfes Ninjaschwert dabei. Sandy hatte sich von einem Kumpel eine Luftpistole geliehen und Antonia setzte auf einen verbogenen Gummiknüppel, den sie von ihrem Opa hatte.

Die Drei hatten sich nun also zur gemeinsamen Rattenjagd verabredet. Ich grinste. „Okay, Leute, so hatte ich mir das irgendwie nicht so ganz vorgestellt. Ich dachte, Manni würde ein paar Rattenfallen aufstellen und nach einigen Tagen könnte er mir dann stolz die toten Nager präsentieren.“

Manni verteidigte sich: „Ja, aber das hat doch nicht funktioniert. Die Fallen stehen ja da drüben, da ist leckerer Speck drin. Aber immer wenn ich nachschaue, sind die unberührt. Aber Ottos Brote kommen immer noch weg und überall liegen diese schwarzen kleinen Krümel, das ist Rattenkacke, eindeutig.“
Während er das sagte, fegte er mit der Hand über den Tisch und tatsächlich, er hatte sofort ein kleines Häufchen Rattenkacke zusammengekehrt.

Antonia begann unruhig auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Dann feuchtete sie ihren Zeigenfinger mit der Zunge an, strecke ihn über die Ratenköttel aus, tippte kurz darauf, bis einige Köttelchen an ihrem Finger kleben blieben, und dann leckte sie die Krümel ab und zerkaute sie.

Wir anderen saßen mit offenem Mund da. Sandy brach als Erste das erstaunte Schweigen: „Boah Alter, ich kotz‘ gleich!“

„Wieso?“, fragte Antonia: „Das ist doch Kümmel!“

„Kümmel?“, motzte Manni, „wo soll der den herkommen?“

„Von mir“, sagte Antonia.

„Moment mal“, griff ich in das Gespräch ein: „Das sind gar keine Rattenköttel?“

„Nö“, sagte unser kleines Dickerchen: „Das ist Kümmel.“

„Und wie kommt der da hin?“

Antonia druckste herum.

„Los, raus mit der Wahrheit!“, forderte ich sie zum Sprechen auf.

„Okay, okay, ich geb’s ja zu! Ich war’s! Ich ganz alleine!“

„Was warst Du?“

„Na ja, der Otto bringt immer so leckere Sülzbrote mit. Er hat mich mal abbeißen lassen, und seitdem bin ich ganz süchtig nach diesen Sülzbroten…“

„Ach was?! Und dann wartest Du immer ab, bis die Männer weg sind, gehst runter in die Werkstatt und futterst Ottos Brote auf?“

„Nur die Sülzbrote! Die anderen lass ich ihm ja.“

„Und der Kümmel?“

Antonia zog ein kleines Beutelchen aus der Tasche. „Hier ist er. Ich fand die Brote immer superlecker, aber mit Kümmel sind die viel besser.“

„Dann haben wir also gar keine Rattenplage?“

Langsam schüttelte Antonia den Kopf: „Nee, ich alleine war das…“

Sandy klatschte in die Hände: „Gut, Jungs, es ist jetzt Mitternacht, ich hab‘ heute noch was Besseres vor, im Shangrila ist heute Gothic-Party, ich muß los.“

Und kurz bevor sie die Werkstatt verlassen hatte, drehte sie sich noch einmal um: „Aber die Party, Chef, die machen wir! Ich hab mir hier Stunden mit der Rattenjagd um die Ohren geschlagen.“

„Nix da, Ihr habt keine Ratten gefangen, also gibt es auch keine Party.“

„Moment mal, Cheffe! Du hast gesagt, wenn hier keine Ratten mehr sind, gibt’s ne Party. Und? Haben wir Ratten? Nein, haben wir nicht! Also gibt’s ne Party.“

Wo Sandy Recht hat, da hat sie Recht, vor allem weil für den Bruchteil einer Sekunde ihr Blick auf Mannis Ninjaschwert gefallen war…

Seit dieser denkwürdigen Nacht wurde bei uns an jedem 23. September eine Rattenparty in der Werkstatt gefeiert. Auch so kann man Traditionen stiften.


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 15 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 14. Juni 2017 | Revision: 21. Juni 2017

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Jemand anderes
7 Jahre zuvor

Ha, am 23. September habe ich Geburtstag, da habt ihr mich unwissentlich gefeiert! (Und früher wurde ich auch immer kleine Ratte genannt, jetzt macht mein Leben einen Sinn!!einself!) 😯

Christians Ex
7 Jahre zuvor

Kümmel?? Der stellt doch höchstes Spitzmauskacke dar…
Rattenmöffel gehen so in die Richtung dieser Lakritz-Stafetten, die man an der Tanke in Döschen kriegt (kleiner als die von Haribo).

Nicole
7 Jahre zuvor

Klasse ! Für solche Geschichten liebe ich den Blog

7 Jahre zuvor

Habe mir auch wieder die Zeit genommen, gelesen! SUPER!




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