Geschichten

Eins, zwei oder drei! Ob Ihr wirklich richtig steht…

Wenn spätabends beim Bestatter das Telefon klingelt, ist entweder Tante Else dran, die nicht mehr so genau weiß, wie spät es eigentlich ist, oder aber ein trauriger Mensch möchte den Tod eines Angehörigen melden.

An diesem Abend war es ein trauriger Mensch.

„Ich bin der Torsten Kessler und meine Mutter ist tot, Sie müssen sofort kommen.“

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„Ja, war denn der Arzt schon da?“

„Wozu, die ist doch nicht krank, die ist doch tot.“

„Aber der Hausarzt muss erst den Tod feststellen und bescheinigen.“

„Ach so, ja, der war da. So einen Totenzettel haben wir. Ich dachte, Sie meinen wegen einer Behandlung. Wie gesagt, die ist tot.“

„Gut, dann kommen wir jetzt. Wir sind so ungefähr in 20 bis 45 Minuten da.“

„Bringen Sie aber was zum Tragen mit, wir selbst haben sowas nicht.“

„Selbstverständlich.“

„Und die liegt im dritten Stock.“

Ich denke kurz an meinen schmerzenden Rücken, dann seufze ich unhörbar in mich hinein und sage: „Okay, wir kommen dann.“

„Halt!“

„Ja, was ist denn noch? Das haben Sie verstanden, dass sie was zum Tragen mitbringen sollen, also wo meine Mutter rein soll, so eine Kiste?“

„Wir sollen gleich einen Sarg mitbringen? Normalerweise überführen wir mit einer Trage.“

„Nee, völlig unnötig. Bringen Sie einen Sarg mit, so helles Holz ohne Schnickschnack.“

Das Modell heißt bei uns Kassel, ein schöner, preiswerter und stabiler Sarg ohne Verzierungen.

Wenig später ist Manni da und hat schon den Wagen aus dem Keller geholt. Er hupt. Gott sei Dank ist der direkte Nachbar, Oberstudienrat Nasweis-Lästig, ziemlich schwerhörig geworden und regt sich über das gelegentliche Hupen nicht mehr auf. Ihn hat vor allen Dingen das piepende Geräusch immer sehr genervt, dass die Lastwagen mancher Lieferanten beim Rückwärtsfahren machen. „Ein guter Deutscher weiß immer, wer hinter ihm lauert, der braucht kein piepsendes Vögelchen.“

Ich wuchte im Keller noch das Modell Kassel auf einen Sargwagen und schiebe den Sarg die Rampe hoch. Manni konnte ja nicht wissen, dass wir den Sarg mitnehmen müssen.
Er hilft mir beim Einladen und meint nur mit gerunzelter Stirn: „Hoffentlich Parterre.“

Ich schüttele den Kopf: „Dritter Stock.“

„Scheiße.“

Augen auf bei der Berufswahl, sagt man ja so, wenn sich jemand über selbstverständliche Lästigkeiten seines Berufs beklagt. Ich nutze diese Floskel auch gerne, denn zunehmend begegnen mir Menschen, die sich ausgerechnet über jene Belastungen und Anforderungen ihres Berufs beklagen, die besonders typisch für ihren Job sind. Ich meine, was glaubt ein junger Mann, wenn er Bäcker wird, wann er morgens aufstehen muss? So gegen elf? Was hat einer, der Zusteller bei DHL geworden ist, von seinem Beruf erwartet, wenn er jetzt klagt: „Diese ewige Rennerei!“

Wir Bestatter wissen, dass unser Beruf mit Schlepperei verbunden ist. Nachtarbeit, schweres Heben und Tragen, olfaktorische Belastungen und oft auch hohe psychische Anforderungen gehören dazu, ebenso wie Arbeiten unter Zeitdruck und Stress. Und dieses „Ständig-Bereitsein“ ist auch belastend. Wenn Du Bereitschaft hast, bekommst Du den Kopf nie ganz frei und bist irgendwie immer angespannt, weil ja jede Sekunde ein Einsatz kommen könnte.
Aber das weiß man ja, das kriegt man ja im Laufe der Zeit alles mit. Und trotzdem darf man stöhnen, seufzen und ‚Scheiße‘ sagen, wenn es heißt: Im dritten Stock.

Vor der Brugstraße 41 steht schon einer und winkt. Es ist der Mann, der vorhin angerufen hat: „Sie müssen in den dritten Stock, ich geh‘ schon mal hoch, ich lass Ihnen die Tür auf.“

Manni und ich machen das normalerweise immer so, dass einer von uns erst mal hochgeht und die Lage peilt. Dann erst holen wir die Trage. Aber in diesem Fall machen wir das aus irgendeinem Grund anders, laden den Sarg aus und fangen an, ihn durchs Treppenhaus zu schleppen. Es ist ein gemeinnütziges Treppenhaus, oder wie Manni im Dialekt sagt ‚gemoinitzisch‘. Die ‚Gemeinnützige‘ ist eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft, die in der Stadt zahlreiche Häuser mit Wohnungen für Leute mit und ohne Wohnberechtigungsschein gebaut hat. Wer nicht ganz so viel Geld für die Miete ausgeben kann, wohnt bei der ‚Gemoinitzische‘.

Auf der anderen Seite sehe ich, dass selbst die Wohnungen der ‚Gemoinitzischen‘ in den durch das Fernsehen sehr bekannten Benz-Baracken1 mit Nebenkosten auch schon fast 1.000 Euro kosten sollen. Böse Zungen behaupten, diese Wohnungsgesellschaft spekuliere darauf, dass die Mieten der Bedarfsgeldempfänger vom ‚Amt‘ übernommen werden. Da Sozialleistungen in der Regel zumeist überwiegend vom Bund (SGB II – Bürgergeld/Jobcenter) gezahlt werden, holen die kommunalen oder mit der Kommune verbundenen Vermieter auf diese Weise über die hohen Mieten ordentlich Geld ins Stadtsäckel.
Das ist natürlich sehr kurz gedacht und griffig formuliert, entbehrt auch bei näherer Betrachtung jeglicher vernünftiger Grundlage, bleibt aber doch Gegenstand der unzufriedenen Diskussionen. Jedenfalls ist es kaum zu verstehen, dass Wohnungen in den alten Blöcken der Laubenganghäuser in den sogenannten Benz-Baracken so teuer sein sollen. Es handelt sich bei den Laubenganghäusern, die heute als Benz-Baracken bekannt sind, nicht um die wirklichen Baracken. Diese lagen nahebei, waren ärmliche Holz- und Steinhäuser und sind in den frühen 1980er-Jahren abgerissen worden. Die Laubenganghäuser sind Einfachbauten mit geringster Ausstattung und schlechter Isolierung in nicht ganz einfacher Umgebung.

Was ich aber erzählen wollte: Die Treppenhäuser in den normalen Wohnblocks dieser Wohnbaugesellschaft sind alle sehr ähnlich. Fast überall findet man die gleichen steinernen Treppenstufen, die gleichen Treppengeländer und dieselben Abmaße.
Da wissen wir genau, wie wir einen Sarg durch das enge Treppenhaus jonglieren müssen. Hoch geht ja noch, da ist der Sarg noch leer.

Parterre, dann hoch in den ersten Stock, kurze Pause, einmal durchatmen, zweiter Stock. Im ganzen Haus sind die Wohnungstüren zumindest einen Spaltbreit geöffnet, die Leute haben mitbekommen, dass was los ist. Noch einmal Luft holen und rauf zum dritten Stock. Die Wohnungstür steht halboffen, Manni schiebt sie, rückwärts gehend, mit dem Hintern auf. Den Sarg stellen wir erstmal in den langen Flur. Aus der Küche kommt ein Mann, schaut uns an, greift sich in den Schritt, reibt sich dann an der Nase, wobei er hörbar an seiner Hand schnüffelt. Dann kratzt er sich am Kopf. „Isses jetzt so weit?“

„Bestattungshaus“, sagt Manni.

Der Mann deutet mit dem Daumen über die Schulter nach hinten. „Also vorhin ging es ihr noch ganz gut, aber wenn Sie meinen, können Sie sie auch mitnehmen.“

Irgendwas stimmt da nicht.

„Sie sind doch der Herr Kessler, oder?“

Der Mann atmet hörbar aus, Erleichterung zeigt sich auf seinem Gesicht: „Nee, da seid Ihr falsch, die wohnen eins unten drunter, dritter Stock.“

Moment mal, wir sind im dritten Stock! Manni dreht sich um, nickt mir zu und sagt: „Kommen Sie, Chef, Abmarsch, eins tiefer!“

Im Treppenhaus raune ich ihm zu: „Wir waren doch im dritten Stock.“

„Nee, im vierten!“

„Wieso das denn? „Parterre, erster, zweiter, dritter…“

„Ja, und der Mannheimer zählt vom Keller aus. Parterre unten ist der erste Stock. Also die zählen die Parterre schon mit.“

Ja, jetzt fällt es mir auch wieder ein: Die Eingeborenen hier zählen anders, als es in meiner Heimat im Ruhrgebiet üblich ist2.

Wenigstens nimmt es der Mann von oben mit Humor. Wahrscheinlich hat er aber auch schon den einen oder anderen Jägermeister zu viel intus, jedenfalls steht er jetzt mit einer kleinen Flasche dieses Kräuterschnapses im Treppenhaus, guckt neugierig in die Wohnung, in der wir richtig sind, und greift sich von Zeit zu Zeit in den Schritt.

Er setzt die kleine Flasche immer wieder an. Neben ihm steht eine etwas übergewichtige Frau in einem fleischfarbenen Jogginganzug, der so eng ist, dass man auf den ersten, und auch auf den zweiten Blick meinen könnte, sie hätte gar nichts an. „Holen die jetzt eine Leiche?“, will sie von dem Jägermeister wissen. „Die hebbe ’n Sarsch dabei“, meint er. „Ja, ja, am End‘ komme‘ mir all‘ in die Kischt!“, philosophiert die Frau in der Schweinepelle.
Ich höre noch, wie der Mann sagt: „Die wollte‘ schunn mei‘ Rosel hole, hebb isch gedacht. Die macht ja auch nimmer lang.“
Und die Philosophin sagt: „Is‘ schun besser, wenn man wart‘ bis die wirklich tot sind‘ odda?“
Der Jägermeister greift sich in den Schritt, schnuppert an seiner Hand und nickt bedächtig: „Ja, stimmt schunn, awwa so, wie die sich quält, is‘ des ja auch kei‘ Leben.“
Die Rosafarbene legt einen Arm um ihn und sagt tröstend: „Ach, Werne, isch koch‘ Euch morgen wieder was.“

Und ich finde, solange man jemanden hat, der einem morgen wieder was kocht, ist alles so irgendwie doch noch in Ordnung.

Bildquellen:

  • treppe: Peter Wilhelm ki
  • treppe1: Peter Wilhelm ki

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(©si)