Geschichten

Gier

Abzocker am Werk

Einen Kredit aufzunehmen, hat für die meisten Deutschen immer ein bißchen was Anrüchiges an sich gehabt. Sich Geld leihen zu müssen, galt zumindest für die Generation meiner Eltern als etwas, über das nicht gesprochen wurde, und das etwas war, für das man sich schämen musste.

Nur, wer ein Haus baute und einen entsprechenden Gegenwert schuf, galt nicht als Schuldenmacher. Das hat sich im Zeitalter der Girokonten und der Überziehungskredite geändert. Auch die mannigfaltigen Möglichkeiten, Produkte in Raten bezahlen zu können, tragen dazu bei, dass der eine oder andere Kredit quasi unbemerkt aufgenommen wird. Unsere Nachfolgegeneration begreift ja noch nicht einmal, dass ein „Handy mit Vertrag“ bei dem sie monatlich oft über hundert Euro bezahlen müssen, im Grunde genommen einen Ratenkredit fürs Telefon beinhaltet1.

Anders ist das bei Kaufleuten. Selbst riesige Unternehmen nehmen wie selbstverständlich große Kredite auf, um Produktionsmaterialien vorzufinanzieren. Die Kredite werden dann nach dem Verkauf der Waren zurückgezahlt. Das ist ein ständiger Wechsel oder Kreislauf aus Kreditaufnahme und Rückzahlung zum Vorteil aller Beteiligten.

Werbung

Bei mir liegt der Fall anders. In sehr jungen Jahren habe ich mit einer Bank extrem schlechte Erfahrungen gemacht – Erfahrungen, die mein Verhältnis zu Geldinstituten bis heute geprägt haben.

Ich wurde mit einem angeblich zinslosen Existenzgründerdarlehen gelockt, das über zehn Jahre zurückzuzahlen sein sollte. Ohne eigenes Verschulden geriet ich dadurch in eine Schuldenfalle. Erst später begriff ich, dass es dem Bankmitarbeiter weniger um meine Existenzgründung ging als um die Provision für eine zwingend abzuschließende Lebensversicherung. Nachdem diese Police abgeschlossen war, ließ sein Engagement schlagartig nach. Das eigentlich günstige Darlehen bei der Landesbank wurde nie durchgesetzt. Übrig blieb stattdessen ein teurer Zwischenkredit bei seiner eigenen Bank.

Im Nachhinein meldeten sich mehr als ein Dutzend weiterer Betroffener bei mir, denen es ganz ähnlich ergangen war. Der betreffende Mitarbeiter wurde schließlich tatsächlich entlassen. An den bestehenden Krediten änderte das jedoch nichts – sie blieben bestehen und mussten selbstverständlich zurückgezahlt werden.

Ich selbst hatte nur einen Bruchteil des voreilig bereitgestellten Geldes ausgegeben: für eine Schreibmaschine, einige Büromöbel und ein gebrauchtes Auto. Der eigentliche finanzielle Schaden entstand später – und auf ganz andere Weise.

Das Genick brach mir ein Mann namens Hugo Groschnik. Er hatte mir vorgeschlagen, mit ihm eine Bürogemeinschaft zu bilden, um Kosten zu sparen. Eines Tages bot er an, mir einen Weg zur Bank zu ersparen und für mich Geld abzuheben. Ich stellte ihm dafür eine Kassenanweisung über 100 D-Mark aus. Im Gegensatz zu einem Scheck musste bei einem solchen Zahlschein der Betrag nicht in Worten wiederholt werden.

Groschnik fälschte den Betrag, hängte zwei Nullen an, nahm meinen Personalausweis aus meiner Jacke und hob statt der vorgesehenen 100 D-Mark ganze 10.000 D-Mark ab. Da wir beide bei der Bank persönlich bekannt waren und er meinen Ausweis vorlegte, schöpfte niemand Verdacht.

In unserem Büro ließ er sich nie wieder blicken, an der mir bekannten Privatanschrift war die Familie seit einer Woche unter Zurücklassen der meisten Möbel und eines Haufens Müll verschwunden.

Groschnik wurde später wegen Betrugs und Unterschlagung zu fünf Jahren Haft verurteilt. Mein Fall war vor Gericht noch der unbedeutendste – er hatte zahlreiche weitere Menschen um ihr Geld gebracht. Das Geld blieb verschwunden. Man geht davon aus, dass er insgesamt über 200.000 Mark für Glücksspiel, Frauen und anderen kurzlebigen Luxus ausgegeben hat. Auch nach seiner vorzeitigen Haftentlassung war bei ihm nichts mehr zu holen. Ich sah ihn nach bestimmt 15 Jahren mal vor einem Geschäft und hielt an, um ihn zur Rede zu stellen. Er rannte weg. Ein paar Jahre später sah ich ihn in der Fußgängerzone. Er ging, komplett abgemagert, gekrümmt und ständig mit dem Kopf wackelnd, an einem Rollator … Ich hörte, seine Frau habe ihn verlassen, seine Kinder scheuten den Kontakt und er lebe, an Parkinson und Krebs erkrankt, in einem Männerwohnheim. Ich beschloss, ihn, solange er sich nicht als Postkartenmaler betätigte, in Ruhe zu lassen. Was bringt’s, bei so einem Wrack so etwas wie Geld oder gar Gerechtigkeit zu suchen?

Zurück blieb am Ende nur eine Zahl – und die traf allein mich: 13.000 D-Mark, die ich der Bank vollständig zurückzahlen musste.

Wie gesagt, ich war noch sehr jung, mir fehlten die Menschenkenntnis und die Erfahrung, und ich war zu euphorisch und blauäugig. Trotzdem blieben für mich und meine frisch angetraute Frau einige Jahre mit Schulden.

Das war mir eine Lehre. Ich habe mir nie wieder in meinem ganzen Leben bei irgendwem Geld geliehen. Nicht privat, nicht bei Banken, nicht in Form von Ratenkäufen.

Umgekehrt habe ich es aber immer anders gehalten. Wenn jemand in finanzieller Not zu mir kam, habe ich ihm geholfen. Dabei sind meine Frau und ich immer dem Grundsatz gefolgt, nie so viel zu verleihen oder zu verschenken, dass wir selbst in große Not geraten könnten, falls Geliehenes nicht zurückgegeben wurde. Und trotzdem ist es oft genug so gewesen, dass wir Notzeiten mit Toastbrot und Marmelade überbrücken mussten, während ein ehemals Hilfsbedürftiger uns dreckig aus Mallorca eine Ansichtskarte schickte.

Es bleibt aber dabei: Lieber helfe ich einmal zu viel, helfe ich auch einem, der nur meine Gutmütigkeit ausnutzt, als dass ein wirklich armer Mensch Not leiden muss.

Was könnte mich denn dazu bringen, den Kühlschrank voll zu haben, Autos in der Garage stehen zu haben, zwei Schränke voll Klamotten zu besitzen und in einem schönen Haus wohnen zu dürfen, und dann zu sagen: „Ich gebe von dem, was ich darüber hinaus noch habe, nichts ab, es gehört mir, mir allein!“?

Es liegt in der Natur der Sache und ist wohl elementarer Bestandteil des Systems, dass so jemandem wie mir andersherum nie geholfen wird. Der reiche Onkel sagte: „Wenn ich Dir jetzt helfen würde, würde ich Dich nur zur Bequemlichkeit erziehen; sieh zu, wie Du Dir selbst hilfst!“ Mein reicher Bruder schickte mir, als ich unsere todkranke Mutter über Jahre hinaus pflegte und uns der Pflegedienst und Medikamenten- und Heilmittelkosten die letzten Haare vom Kopf fraßen, einen Scheck über 100 D-Mark. Und solche Geschichten könnte ich in endloser Reihe fortsetzen. Du kennst das bestimmt auch.

Eines Tages kam mal ein Ehepaar zu mir ins Bestattungshaus, so um die 40 herum. Die beiden machten es richtig: Sie sagten mir gleich am Anfang des Gesprächs, dass sie nur das Notwendigste ausgeben wollten. Ich schreibe es ja immer wieder: Bestatter sind Kaufleute und dürfen, ja sie müssen sogar, darauf hinarbeiten, dass der Kunde möglichst gut einkauft. Aber wenn man ihnen sagt, dass es nach oben eine Grenze gibt, werden sie alles tun, diese nicht zu überschreiten, denn Geld, das nicht da ist, kann auch ein guter Kaufmann nicht verdienen.

Um ihr Gesicht nicht zu verlieren, präsentierten die Leute mir überflüssigerweise die beinahe täglich gehörte Geschichte vom einfachen Menschen. „Unser Großvater war ja ein so einfacher Mann, der hatte keinen Sinn für Luxus und Verschwendung. Da wollen wir auch bei der Begrabung (sic!) unter dem Teppich bleiben (sic!).“

Der Mann ergänzte noch: „Geld haben wir ja genug, ich hab’ mein Geld ja in der Gastronomie gemacht. Aber was nicht sein muss, das muss ja auch nicht sein.“

Ich beruhigte das Ehepaar Stemmer und erwähnte auch, dass wir im Zweifelsfall sogar eine Ratenzahlung anbieten.
Heute gibt es Factoring-Unternehmen, die den Bestattern gegen eine kleine Provision die Rechnungen „abkaufen“ und den gesamten Zahlungseinzug, inklusive Ratenvereinbarungen usw. übernehmen.
So etwas hatte ich damals nicht. Wenn wir Kunden gestatteten, ihre Rechnung in Raten zu bezahlen, bedeutete das, dass ich das vorfinanzieren musste und das Risiko auf meine Kappe ging.

Ehepaar Stemmer hatte für den verstorbenen Opa einen einfachen Nadelholzsarg und eine Stahlblechurne ausgesucht. Kleine Trauerfeier in der Kapelle, kein Kaffeetrinken. Bloß keine teure Zeitungsanzeige. Grabstein? Nein danke, bitte nur ein Holzkreuz für 49 Euro.

Dann hörten sie das mit der Ratenzahlung. Ich bemerkte, wie sie sich ansahen, in ihren Augen blitzte es. Mir war klar, was gerade passiert war. Noch mochte ich mich täuschen, aber meine Menschenkenntnis sagte mir, dass die jetzt aufdrehen würden. Sie würden jetzt so richtig viel Geld ausgeben, dann Ratenzahlung anfragen und später würde ich jahrelang meinem Geld hinterherlaufen müssen.
Ich sah förmlich, wie sie abbrannten2.

Denn, wie läuft so etwas ab? Die Leute kaufen viel zu teuer ein. Sie bestellen weit über ihre Verhältnisse. Und wenn es dann ans Bezahlen geht, heißt es, der Bestatter sei ja unverschämt teuer gewesen. Und wenn der Bestatter dann auch noch Mahnungen, Mahnbescheide und den Gerichtsvollzieher schickt, dann erzählen sie herum, wie der betrügerische Halsabschneider ihnen die Luft zum Atmen nimmt. „Der macht Geschäfte mit dem Tod, der schlimme Blutsauger!“

Und? Genau! Das Ehepaar Stemmer schlug zu: Eichentruhe, Doppelgrab, fetter Grabstein, Blumen über und über, dreispaltig in der Zeitung, Kaffeetrinken in der „Letzten Träne“ mit 30 Leuten und natürlich: „Bitte besorgen Sie einen Tenor, den besten, den Sie kriegen können! Muss ja nicht dieser Placebo Flamingo sein, aber ein Guter!“

Frau Stemmer meinte: „Schauen Sie, der Opa hat ja sein Leben lang tüchtig gearbeitet, da soll ihm jetzt doch die Ehre erwiesen werden, nicht wahr?“

Wir sitzen anschließend beisammen, ich rechne zusammen, es kommen fast 10.000 Euro dabei heraus. Die beiden fassen sich an den Händen und lächeln. Es ist aber kein Lächeln der Dankbarkeit, als ich ihnen Raten in Höhe von 278,- Euro ausrechne. Die müssten sie drei Jahre lang bezahlen. Keine Zinsen, keine Gebühren.
Nein, ihr Lächeln ist das verschmitzte Eingeständnis, dass diese Leute vermutlich schon viel zu viel auf Raten gekauft haben, und nun die Gelegenheit beim Schopf ergriffen haben, um noch mehr Schulden zu machen; Schulden die sie gar nicht abbezahlen wollen.

„Und das läuft auch wirklich nicht über eine Bank?“, will Herr Stemmer wissen und wirft seiner Frau wieder einen merkwürdigen Blick zu. „Wir sind ja ehrliche und anständige Leute und wollen uns nichts nachsagen lassen.“

Ich denke mir: „Spiegelberg, ick kenne dir!“3

Freundlich nicke ich, greife zum Telefon und wähle zum Schein eine Nummer. Frau Stemmer fragt misstrauisch: „Wo, wo, äh, wo rufen Sie denn jetzt an?“

„Ach, machen Sie sich keine Gedanken, Sie sind doch ehrliche und anständige Leute, haben Sie doch gerade selbst gesagt.“

Mehr sage ich nicht, ich gebe nicht vor, dass ich bei einer Bank oder Kreditauskunft anrufe, ich rufe überhaupt nirgendwo an. Aus dem Hörer tutet es nur leise und müde und gleichmäßig, weil die Telefonanlage mit der halbgewählten Nummer nichts anfangen kann. Ich lege wieder auf. „Ach, da ist besetzt, ich probier’ es gleich noch einmal.“

„Ja, wo wollten Sie denn anrufen? Etwa wegen uns?“, fragt nun Herr Stemmer.

Ich lächele unverbindlich, schreibe noch ein paar Zeilen auf meinen Bestellbogen, dann greife ich wieder zum Hörer. Währenddessen sehe ich, wie die beiden einfrieren4.

„Ach, wissen Sie was? Wir haben uns das überlegt!“, unterbricht mich der Mann. „Schauen Sie, der Opa war doch so ein einfacher Mann, der hat sich selber nie was gegönnt und der würde sich ja in der Marmelade herumdrehen (sic!), wenn wir jetzt das schöne Geld für seine Beerdigung verschleudern. Wir wollen dann doch lieber alles so, wie wir es anfangs besprochen haben, ganz einfach, ohne alles.“

Etwas übertrieben theatralisch nehme ich den gelben Auftragszettel mit den teuren Sachen und zerreiße ihn in kleine Fetzen.

Der Mann unterschreibt den Auftragsbogen für den einfachen Nadelholzsarg und die kleine Beerdigungsvariante. Ich sage: „Und denken Sie daran, mir die Hälfte des Rechnungsbetrags heute noch als Anzahlung zu bringen, gell?“

„Was?“ Entsetzen in den Augen des Ehepaars.

„Wir drei sind doch anständige und ehrliche Menschen, und da wissen wir doch, dass das so üblich ist. Steht auch auf dem Auftrag drauf.“

„Was steht da?“

„Na hier! Da, wo ich das Kreuz gemacht habe: 50 % des Rechnungsbetrags sind als Anzahlung bei der Auftragsvergabe fällig. Unter so ehrlichen und anständigen Leuten wie uns, ist das ja eine Selbstverständlichkeit und sollte ja wohl auch kein Problem sein, oder?“

Er dreht den Auftragsbogen zu sich herum, schiebt ihn seiner Frau hinüber, die beiden studieren den Zettel fast schon ein wenig zu lange. Dann meint sie: „Ach wissen Sie was, dieses popelige Holzkreuz für 49 Euro, das lassen wir auch noch weg. Ist doch bloß Angeberei. Wir wissen ja, wer da begraben liegt.“

Merke: Sei hilfsbereit und großzügig. Aber lass Dich nicht verarschen!

Bildquellen:

  • abzocker_800x500: Peter Wilhelm KI

Fußnoten:

  1. Hinzu kommt, dass viele gar nicht begreifen, dass fast alle Angebote, die eine monatliche Gebühr kosten, z.B. Streamingdienste, nur in den ersten Wochen oder Monaten günstig sind, und dann drastisch teurer werden. (zurück)
  2. Mit „Abbrennen“ bezeichnen Ermittler und Detektive das verdächtige Verhalten von Tätern unmittelbar vor der Tat. Bei Ladendieben etwa ist es das unauffällige Umsehen nach anderen Leuten oder Überwachungskameras. (zurück)
  3. Spiegelberg ist eine der zentralen Nebenfiguren im Drama „Die Räuber“ (1781) von Friedrich Schiller. Er gehört zur Räuberbande um Karl Moor, ist aber kein idealistischer Rebell, sondern ein zynischer, intrigierender und machtgieriger Charakter. Die Aussage „Spiegelberg, ich kenne dich!“ wird Karl Moor zugeschrieben (nicht wortgleich, aber inhaltlich eindeutig), als dieser erkennt, dass Spiegelberg nicht aus Freiheitsdrang rebelliert, sondern aus Neid, Ehrgeiz und Machtgier handelt, und selbst gern Anführer der Bande wäre. Karl Moor durchschaut ihn – daher der Sinn der Aussage: „Ich weiß genau, wer und was du bist.“ Wenn heute jemand sagt: „Spiegelberg, ich kenne dich“, dann meint er: Ich durchschaue dein falsches Spiel. (zurück)
  4. Wie das oben beschriebene Abbrennen, gibt es auch das Einfrieren. Wenn Täter während des Abbrennens Gefahr wittern oder sie der Mut verlässt, und sie kurz vor Tatausübung einen Rückzieher machen, dann nennen erfahrene Ermittler das das Einfrieren. (zurück)

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#betrug #Gier #Großzügigkeit #Gutmütigkeit #Habgier #hohe Bestatterrechnung #nicht zurückzahlen wollen #Raten #Ratenzahlung #Respekt #sich verschulden #teure Beerdigung #zu viel Geld ausgeben

Lesezeit ca.: 15 Minuten | Tippfehler melden


Das Bestatterweblog informiert und unterhält – ganz ohne Google- oder Amazon-Werbung

1,4 Millionen Besucher im Jahr, aber nur etwa 15 spenden. Dabei kostet der Betrieb rund 20.000 € jährlich. Wurde Dir hier schon geholfen? Hattest Du etwas zu lachen? Dann sei eine der seltenen Ausnahmen und gib etwas zurück. Schon 5 € – der Preis einer Tasse Kaffee – helfen weiter. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)