Geschichten

Günther -XXX-

Der Tag hatte für Günther schlecht begonnen. Er war nämlich von einem Tropfen Wasser geweckt worden, der auf seine Nase getropft war, während er noch schlief.
Mit aufgerissenen Augen starrte er an die Decke seines Bauwagens und sah dort eine ganze Ansammlung von Tropfen. Er erkannte, daß es sich um Kondenswasser handelte und während er noch verärgert aus dem Bett krabbelte, beschloß er, neben dem kleinen Fenster an der Stirnseite des Anhängers einen elektrischen Lüfter einzubauen.

Inzwischen hatte Günther nämlich auch eine richtige Stromleitung mit Zähler und allem Drum und Dran. Bis dahin gab es zwar die Möglichkeit, vom Nachbargrundstück mittels eines Verlängerungskabels gelegentlich mal Strom zu holen, aber die meiste Zeit mußte ein altersschwacher Benzingenerator für die nötige Energie sorgen, den Günther in einem entlegenen Winkel seines Grundstücks in eine kleine Hütte verbannt hatte, damit er das durchgängige Brummen nicht hören mußte.
Eines Tages hatte sich aber die Gelegenheit geboten, direkt vom Schaltkasten, der nicht weit vom Eingang zu seinem Garten stand, einen eigenen Anschluß zu bekommen.
Ein Arbeiter von der Stadt hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß bald der Weg neu asphaltiert würde und jetzt doch eine gute Gelegenheit wäre, einen Antrag auf einen Hausanschluß zu stellen.
800 Euro hatte Günther sich von Horst geliehen und zwei Wochen später hatte Günther eine eigene Abnahmestelle mit Zähler, ein Glücksfall, wie sich noch zeigen sollte.

Denn, um es genau zu erzählen, hatte Horst Günther das Geld nicht geliehen, sondern die beiden hatten den Stromanschluß auf Horsts Namen schreiben lassen. Immer noch hatte Günther Angst, das Jugendamt oder eine andere Behörde könne Wind davon bekommen, daß Günther nicht wirklich in der zur Verfügung gestellten kleinen Wohnung wohnte, sondern in seinem Garten.

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Eines Tages kam Horst zu Günther in den Garten und hatte einen mit dem Daumen aufgerissenen Briefumschlag dabei.

„Hier, die haben wir die Rechnung geschickt, wegen dem Stromanschluß. Kannst ja mal schauen, ob das alles seine Richtigkeit hat“, sagte er und warf Günther den Umschlag über den Tisch hinweg zu.

Günther kratzte sich am Kopf, rückte seine Brille zurecht und begann die Blätter zu studieren.

„Nö, scheint alles in Ordnung zu sein“, sagte er nach einer Weile und fügte hinzu: „Das Geld kriegste wieder, versprochen!“

Horst nickte nur und lächelte. „Na klar.“
Dabei wußte Horst, daß er vielleicht die erste Rate von Günther nehmen würde, damit dieser sein Gesicht nicht verliert, dann würde er ihm aber, wie schon so oft zuvor sagen: „Laß mal, ist schon gut so.“

Die beiden Freunde quatschten noch über dies und das und tranken ein paar Flaschen Bier, was für Günther schon etwas Außergewöhnliches war, denn ansonsten trank er so gut wie gar nichts.
Gerade hatten sie sich dem Thema Erdbeeren und Tomaten zugewandt, da stockte Günther plötzlich mitten in der Unterhaltung und forderte den verdutzten Horst auf: „Gib mir nochmal den Umschlag!“

Horst gab Günther den Brief, den er bereits wieder eingesteckt hatte, zurück und schaute zu, wie Günther diesen drehte und wendete, den Absender studierte, den Briefkopf betrachtete und dann hielt Horst es nicht mehr aus: „Was ist denn Günther? Los sag schon!“

„Du, guck mal Horst! Dieser Brief ist nicht von den Stadtwerken gekommen, sondern von den Stromwerken der Nachbarstadt.“

„Stimmt!“ staunte Horst, nachdem er sich die Unterlagen genau angesehen hatte.

„Ja und weißt Du, was das bedeutet?“

„Nee.“

„Das bedeutet“, erklärte Günther, „daß hier nicht die Stadt zuständig ist, wo ich gemeldet bin, sondern die Nachbarstadt.“

„Wie jetzt?“

„Ja, keine Ahnung, aber für mich sieht das aus, als ob das hier alles schon zur anderen Stadt gehört.“

„Das können wir ja schnell herausfinden“, sagte Horst und zog Günther am Hemdsärmel mit sich aus dem Bauwagen. Am Gartenzaun stieß Horst einen gellenden Pfiff aus und rief so den Gartennachbarn von Günther herbei.

„Du, sag mal, was ist das hier? Sind wir mit dem Garten hier in A.-Stadt oder schon in B.-Stadt?“

„A.-Stadt?“ sagte der Nachbar spöttisch, wir sind doch keine A.-Städter hier, wir sind stolze B.-Städter! Sagt bloß ihr wißt das nicht? Da vorne, da wo die Trauerweiden stehen, wo der asphaltierte Weg beginnt, da fängt B.-Stadt an. Wo gibt’s denn sowas, hat hier einen Garten und weiß nicht wo er ist!“

Wenig später saßen Horst und Günther auf einer Bank am alten Eisenbahnwaggon und Horst fragte: „Und was fangen wir jetzt mit dieser Erkenntnis an? Ich meine, okay, du hast einen Garten in B.-Stadt und hast das bisher gar nicht gewußt, weil das alles hier direkt an deine Stadt angrenzt. Aber warum macht dich das so verrückt?“

„Mensch, Horst, kapiert Du das denn nicht?“

„Was denn?“

„Wenn das hier B.-Stadt ist, dann muß ich mich hier nur anmelden und dann ist ein ganz anderes Jugendamt für mich und die Kinder zuständig!“

„Was?“

„Ein anderes Amt, andere Sachbearbeiter, neues Spiel, neues Glück!“

„Moment, Moment, Moment!“ bremste Horst Günthers überschwengliche Reaktion etwas ab: „Zuerst einmal glaube ich nicht, daß Du Dich hier auf einem Gartengrundstück anmelden kannst und dann ist doch gar nicht mal klar, daß das neue Jugendamt nicht genau so entscheidet, wie das von A.-Stadt.“

„Mal ehrlich, Horst, hast Du schon mal gehört, daß eine Behörde genau so entscheidet wie eine andere?“

„Immer, die entscheiden immer gleich, da hackt doch eine Krähe der anderen kein Auge aus.“

„Mag ja auf normale Behörden zutreffen, aber bei den Jugendämtern arbeiten doch nur so Sozialfuzzis und die wollen doch sowieso alles besser wissen. Wenn ich es schaffe, daß die sich hier alles angucken und bewerten, bevor die die Akten aus A.-Stadt zu Gesicht bekommen, dann habe ich doch gute Karten.“

„Na ja“, blieb Horst skeptisch, „einen Versuch wär’s wert.“

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