Menschen

Im Viertel

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Manche müssen ja nicht einmal den Fernsehapparat ausschalten, wenn der Bestatter zum Beratungsgespräch kommt.
„So sind Leute“, hat der alte Michlinksy, den man nicht kennen muß, immer gesagt, wenn so etwas erzählt wurde und er fasste damit alle Absonderlichkeiten, die sich Menschen einfallen lassen, in drei Worten zusammen.

Ich komme mit Nadine zu einer Familie deren Opa im Krankenhaus gestorben ist. Nadine habe ich mitgenommen, damit sie auch in Hausbesuche eingeführt wird und ganz bewußt habe ich sie mitgenommen, weil uns dieser Besuch in „Viertel“ führt.

Im Wohnzimmer lümmelt sich ein 15-jähriger in einem vollgekotzten T-Shirt vor dem Fernseher herum. „Das ist nicht vollgekotzt“, raunt Nadine mir zu: „Das ist von Ed Hardy, das muß so aussehen.“ Der 15-jährige wirft uns einen bösen Blick zu, fast schon habe ich das Gefühl, er hat die kurze Diskussion zwischen Nadine und mir mitbekommen, dagegen spricht aber, daß er plötzlich mit sich selbst zu reden scheint. Des Geheimnisses Lösung ist aber ein blau blinkender Stöpsel in seinem Ohr, er telefoniert offenbar…

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…und fühlt sich erkennbar durch unsere bloße Anwesenheit gestört.
Dabei stehen wir nur da, wie bestellt und nicht abgeholt und warten darauf, daß der Mann, der uns die Tür geöffnet hat und von dem ich annehme, daß er Herr Nümpenrath, unser Auftraggeber und der Anrufer von vorhin, ist, uns einen Platz anbietet.

Wäre da irgendwo ein sitzbarer Platz gewesen, so hätte ich vermutlich einfach Platz genommen, aber es liegt alles voll mit Zeitschriften, Boulvardzeitungen und Pizzaschachteln.

„Steht nicht so rum, setzt Euch doch!“ sagt der Mann dann auch, haut dem mit der Ed-Hardy-Jacke kurz und trocken ein paar hinter die Ohren, der sagt nur „Arsch“ und trollt sich in eine Ecke des Zimmers, um lautstark mit einem gewissen „Ey Alder“ weiterzutelefonieren.

Der Mann fegt die Pizzaschachteln von einem Sessel und schiebt mit dem Fuß die Zeitungen und Zeitschriften auf dem Sofa so zusammen, daß noch ein Sitzplatz entsteht. Wir nehmen Platz.

„Wollt Ihr was zu trinken?“ fragt der Mann und Nadine und ich schütteln nur mit dem Kopf. Das hindert ihn aber nicht daran, vom Balkon vier Flaschen Bier hereinzuholen, von denen er eine mit dem Feuerzeug aufmacht. Er sagt: „Falls Ihr Durst bekommt, da steht was.“
Dann setzt er sich auch und schaut uns fragend an.
Der Fernseher blubbert irgendeine deutsche Dauerserie vor sich hin, in der Ecke wird immer noch „Ey Alder“ geschrien und ich frage mal vorsichtig, ob wir es mit Herrn Nümpenrath zu tun haben. Jau, er ist es und als Nächstes sagt er uns: „Das zahlt alles das Amt, ich unterschreib‘ hier nichts.“

Zwei Frauen kommen vom Einkaufen zurück, beide auffallend unecht schwarzhaarig und sehr vollbusig. Ich halte sie für Schwestern, beide Mitte Dreißig, doch dann stellt sich heraus, daß es Mutter und Tochter Nümpenrath sind.
Sie stellen die Einkaufstüten mitten ins Wohnzimmer und setzen sich zu uns. „Habt’er schon alles besprochen?“

Von irgendwo springt eine Katze aufs Sofa und fängt an, mein Knie zu beschmusen.
Herr Nümpenrath sagt zu der Schwarzhaarigen, von der ich annehme, daß es seine Frau ist: „Nee, ich hab bloß gesagt, daß das alles vom Amt bezahlt wird.“

„Ach, Du bist doch doof, der Herr Wagner vom Amt hat gesagt, daß das vom Oppa nich‘ bezahlt wird. Der Oppa hat doch Geld auff’em Konto, erzähl‘ doch nich‘ immer so’n Scheiß!“

Aus der Ecke: „Ey Alder!“

Die Familie bestellt eine Feuerbestattung und ein kleines Reihengrab für die Urne. Nicht den billigsten Sarg, nicht die günstigste Urne und Anzeige in der Zeitung und ein Kranz kommt auch hinzu. Bei der Aufnahme des Schleifentextes und der Anzeige, das lasse ich Nadine machen, erfahre ich, daß die älter aussehende Frau die Tochter ist und Jessica heißt, der „Ey-Alder-Ed-Hardy“ heißt ganz klischeefern Paul und Mutter und Vater Nümpenrath heißen Jutta und Jürgen. In der Anzeige soll der Vater Willi heißen, Wilhelm hat nie jemand zu ihm gesagt.

Gut, ich schreibe das alles auf, Nadine notiert die gewünschten Texte, dann rechne ich mal zusammen.
Die Summe ist nicht hoch, aber auch sie will bewältigt werden.

Frau Nümpenrath unterschreibt für alles. „Machen Sie sich kein‘ Kopf, Sie kriegen datt Geld.“

Wenn Frau Nümpenrath wüßte, was ich in diesem Moment denke.
Ich bade manchmal in Klischees, ich schreibe manchmal genüßlich alles auf, aber es müßte noch der Tag kommen, an dem mich Leute aus dem „Viertel“ nicht bezahlt hätten.

Frau Nümpenrath kommt am nächsten Tag mit ihrer Tochter vorbei und bezahlt aus einem mit einem Gummiband umwickelten Briefumschlag in bar. „Is‘ von Oppas Konto, gleich abgehoben bevor die erfahren, datt’er tot is‘.“

Seit 18 Wochen warte ich auf die Begleichung einer Rechnung aus der Südstadt. Denen war nichts teuer genug und der Auftraggeber ließ mich jede Sekunde spüren, daß ich sein Lakai bin und für ihn arbeite. Und? Wo ist meine Kohle?

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(©si)