Ich bin damit groß geworden, mit meiner Mutter die 4 Kilometer zum Friedhof mit den Gräbern ihrer Eltern zu gehen. Zu gehen bedeutet hier zu laufen. Das war für ein kleines Kind schon eine ordentliche Strecke. Man musste nach getaner Arbeit ja auch wieder zurück.
Bald kannte ich auf dem Weg dorthin jedes Haus, jede Einfahrt, jeden Pflasterstein. Wenn irgendjemand von den Anwohnern an der Strecke ein neues Auto hatte, fiel uns das auf. Denn wir liefen diese Strecke jede Woche.
Später bekam ich einen Roller. Und wenn ich Roller sage, dann meine ich einen ordentlichen Puky-Roller1 und nicht so ein klapperiges Alu-Gelumps, wie es heute verkauft wird. Ein Puky-Roller war damals gebaut, als solle er im Krieg dienen, und hätten wir ihn nicht irgendwann an einen Cousin weitergegeben, würde er heute noch existieren.
Diese Robustheit hatte ihren Preis, der Roller war sehr schwer und wollte auch erst mal bewegt werden. Und dann haben Roller ja den grundsätzlichen Nachteil gegenüber einem Fahrrad, dass man die ganze Zeit stehen musste, was ja auch anstrengend ist.
Überdies durfte ich natürlich mit dem Teil nicht einfach nur drauflosfahren, sondern konnte immer nur so schnell fahren, wie meine Mutter zu Fuß unterwegs war. Ja und dann brachte der anfangs als Erleichterung bejubelte Roller noch eine Bürde mit sich: Meine Mutter wusste von einem klugen Handelsvertreter, der etwa auf halber Strecke in seiner Keller-Doppelgarage einen Non-Food-Großhandel betrieb und auch an Privatleute verkaufte. Waschpulver, Toilettenpapier, Badeschaum und all so ein Zeug.
Auf dem Rückweg vom Friedhof ging es immer dorthin und der überaus freundliche Herr Sürth und seine Frau verkauften uns dann das Benötigte, das dann alles auf meinen Puky-Roller geschnallt wurde, den ich dann hochbeladen nach Hause schieben durfte.
Aber das ist schon der Rückweg, den wir immer am frühen Abend antraten. Der Hinweg war mit weitaus mehr Hürden versehen.
Denn auf dem Hinweg ging es immer durch die Straße in Essen-Freisenbruch, in der meine Mutter geboren worden war und abgesehen vom Nazi-Pflichtjahr, ihr ganzes junges Leben bis zwei Jahre nach meiner Geburt verbracht hatte. Dort hatte sie mit meinem Vater ihre beiden Eltern bis zum Tode gepflegt. Natürlich kannte sie in der ganzen Straße schlicht und ergreifend jeden.
Wie im Ruhrgebiet damals noch üblich, lagen die Frauen in Fenster.
Was anderswo eine durchaus anrüchige Bedeutung haben könnte, wenn man so hört „da liegen Frauen im Fenster“, bedeutete das im Kohlenpott allerdings etwas völlig Anständiges.
Nach getaner Arbeit, zwischendurch in der Pause oder wann immer es einem nach etwas Gequatsche gelüstete, machte man ein zur Straße gerichtetes Fenster auf, platzierte ein dickes bequemes Sofakissen auf der Fensterbank und lehnte sich, auf die verschränkten Unterarme (oder wahlweise die enorm dicken Hupen) gestützt, etwas aus dem Fenster.
Meist dauerte es nicht lang, bis der erste gesprächsbereite Passant aus der näheren oder weiteren Nachbarschaft stehenblieb und einen mit den allerneuesten Geschichten versorgte. Im Fenster liegen, das war Nachrichtenbörse, Nachbarschaftspflege und Ersatz für das heute den ganzen Tag laufende Fernsehgerät. Man brauchte schlichtweg kein Reality-TV, denn die Realität kam direkt ans Fenster.
Wenn wir also nach dem Mittagessen aufbrachen, uns durch die größte Mittagshitze gequält hatten und endlich in Freisenbruch ankamen, wartete dieser Fenster-Spießrutenlauf auf uns. Für mich als kleines Kind waren die Gespräche, die meine Mutter mit den Fensterliegerinnen führte, natürlich nach ganz kurzer Zeit uninteressant. Eine gewisse Langeweile machte sich breit und das Kind wurde unruhig. Daher hatte ich den Ruf weg, sehr nervös zu sein.
Dazu muss man wissen, dass Kinder damals noch das Anhängsel ihrer Eltern waren und sich nicht die ganze Welt um die verwöhnte Nachkommenschaft zu drehen pflegte.
Wäre da nicht Oma Nadler aus Oberschlesien gewesen, die mich immer mit einer emaillierten Blechtasse voller heißer Suppe unterstützt hatte, die eigentlich nur aus einem aufgelösten Maggi-Brühwürfel bestand, hätte ich die endlosen Fenstergespräche nicht überstanden.
Die heiße Suppe war mir vor allem im Winter sehr willkommen, im Sommer machte sie eher nur Durst. Aber ich liebte Oma und Opa Nadler, die mir immer etwas die Langeweile vertrieben.
Ich weiß gar nicht, wie wir das damals überstanden haben. Vermutlich funktionierte bei uns dieses seit Neandtertalertagen bewährte System der Flüssigkeitsspeicherung noch sehr gut.
Wir konnten damals, man mag es heute kaum glauben, zu Hause etwas trinken, die Flüssigkeit in unserem Körper speichern und uns stundenlang ohne weitere Flüssigkeitsaufnahme in der rauhen Welt bewegen, bevor wir Stunden später wieder etwas zu trinken bekamen. Das haben wir überlebt, ernsthaft!
Die Evolution ist ja inzwischen vorangeschritten und die Menschen, vor allem die jüngeren, haben sich ja enorm weiterentwickelt, sodass diese eigentlich ganz segensreiche Form der Flüssigkeitsspeicherung komplett verlorengegangen ist. Moderne Menschen erleiden unwiderrufliche Nierenschäden, Gehirnaustrockungen und multimetabolistische Kollapse, wenn sie nicht permanent eine Plastikflasche mit einem isotonischen Energydrink mit sich führen, an der in sehr kurzen Abständen immer wieder mit dem Mundwinkel genuckelt werden muss. Auch das mittige Trinken ist ja in Vergessenheit geraten, heute zählt der Mundwinkel.
Insgesamt brachte meine Mutter so an die anderthalb Stunden mit diversen Fenstergesprächen zu. Besonders anstrengend waren für sie die Gespräche mit Frau Engelke, die im ersten Obergeschoss wohnte und was meiner Mutter abverlangte, den Kopf in den Nacken zu legen, um mit der lieben Frau sprechen zu können. Das war ziemlich anstrengend. Aber immerhin warf mir Frau Engelke ab und zu ein Klümpken runter. Klümpkes, abgeleitet von Klümpchen, war der Ruhrgebietsausdruck für das, was hier im Süddeutschen die Gutsel, im Rheinland die Kamelle und im allgemeinen Sprachgebrauch die Bonbons sind.
Ein saures Campino-Bonbon ersetzte nach der damaligen Ansicht der Erwachsenen einen halben Liter Getränk. Quengelte ein Kind, weil es Durst hatte, schob man ihm ein saures Bonbon in den Mund: „Lutsch das, das stillt den Durst.“
Auf dem Friedhof selbst war gar nicht viel zu tun. Etwas Blumengezupfe, zwei, drei Kannen Wasser schleppen und ein bißchen die Erde harken. Die größeren Arbeiten erledigte sowieso mein Vater, der alle paar Wochen mit dem Auto hinfuhr und alles machte, was mehr Aufwand bedeutete.
Man könnte ja denken, dass der Gesprächsbedarf meiner Mutter durch das Fensterln bereits gedeckt gewesen sei. War er aber nicht. Denn meine Mutter ist – und Gott sei Dank war das so, das ist ja heute auch nicht mehr so selbstverständlich – eine Frau.
Und Frauen kriegen nie genug vom Reden. So. Steinigt mich. Nennt mich wieder Nazi. Mir egal. Es ist so.
Auf dem Friedhof trafen wir nämlich auch wieder Leute. Und auch mit denen musste geredet werden. Wer ist alles in der letzten Zeit gestorben? Haste schon gehört? Weisste was von dem und dem? Und Schneiders Ute hat jetzt einen Italiener, stell Dir das mal vor!“
Wenn dann der Rückweg angetreten wurde, führte der immer an Friedhelms Friseurgeschäft vorbei.
Friedhelm ist ein ganz famoser Kerl, der heute noch lebt. Er ist der Cousin meiner Mutter. Sein Vater hatte vor dem Krieg den Friseursalon gegründet und Friedhelm hatte ihn dann übernommen. Der gutaussehende Friseurmeister war bei den Frauen sehr beliebt, was seinem angeschlossenen Damensalon eine rege Kundschaft bescherte. Bekannt geworden war mein Großcousin unter anderem dadurch, dass er lange den Weltrekord für die Überquerung des Ärmelkanals auf einem Surfboard inne hatte, wenn er nicht sogar derjenige war, der das zum ersten Mal gemacht hatte.
Trotz seiner vielen Arbeit hatte Friedhelm auch immer Zeit für ein kleines Quätschchen und als Friseur, man kann es sich denken, wusste er mehr Neuigkeiten, als alle anderen zusammen.
Und ihr könnt Euch auch vorstellen, wie sich die Zeit für mich als Kind in die Länge zog.
Wenn ich Pech hatte, ging meine Mutter auf dem Rückweg noch einmal durch unsere ehemalige Straße und wir kehrten dann noch mal eben, ganz kurz, nur auf einem Sprung, bei einem der ehemaligen Nachbarn ein.
Manchmal war es dann schon dunkel, als wir wieder nach Hause kamen.
Und wißt ihr was? Ich habe mich trotzdem immer darauf gefreut, mit meiner Mutter auf den Friedhof zu gehen. Wegen Frau Engelke, wegen der Klümpkes, wegen Opa und Oma Nadler und der Tasse Brühwürfelsuppe und weil man als Kind sowieso nicht gefragt wurde.
- essen-freisenbruch1967: Peter Wilhelm KI
Fußnoten:
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Ein zeitgeschichtliches Kleinod!
Danke.
Hach, da werd ich ganz wehmütig… bin vor 17Jahren ausm Pott weg gezogen… ja, das war nich kurz nachm Krieg, aber das Ruhrgebiet war immer noch was besonderes, so viel hat sich da nicht verändert. Die Frauen in den Fenstern kenn ich auch… genau wie die friedhofsgänge mit Mutter, Oma, Opa etc…. Auch die Buden vermisse ich total… einfach aner ecke Süßigkeiten, Zeitschriften, ein Eis kaufen etc… das gibt’s hier im bergischen alles nicht… auch die Herzlichkeit, grad noch „ey pass doch ma auf du arsch“, und kurze Zeit später hilft dir der gleiche Nachbar beim Auto reparieren/anschieben… das waren einfach ganz unbekümmerte Zeiten. Hier aufm Dorf ists auch schön, aber irgendwie haben viele nen Stock im Arsch 😀
Ich wollte die Bude noch in den Text aufnehmen, habe es mir dann aber wegen der Länge anders überlegt. Falls Du ihn aber noch nicht kennst, ich habe hier einen schönen und lesenswerten Text über „ANNE BUDE GEHEN“ geschrieben:
https://dreibeinblog.de/eine-bude-ist-eine-bude-ist-eine-bude/
Entweder kannte ich es schon, oder es ist mir zu geläufig als das es mir unbekannt vorkommen könnte 😉 Bei uns war es übrigens ganz artfremd eine Frau… Ich bin quasi auf ner alten Zeche groß geworden, eine die sehr früh schon geschlossen wurde, der ehemalige Schacht war nur 100-200 entfernt, erstes Haus in der Siedlung (Hausnummer ganz klassisches emailleblech, weiße Schrift auf blauen Grund, mit blauen Punkt dadrunter), neben uns die Wäscherei und die Bude war in einem der Häuser wo wohl die Büros der Wäscherei gelegen haben mögen. Weingummi kosteten zwischen 1-10 Pf… Brötchen 25Pf, eine Bockwurst 50Pf, ein Eis 30Pf-1,50DM… hab da noch so viele Bilder und Momente vorm inneren Auge… bin da sehr oft alleine gewesen, war halt nur ein Haus weiter, keine Straße dazwischen, da wurdeste auch als stöppken schon alleine losgelassen… von Opa gabs drei Groschen die in Süßigkeiten investiert werden durften… Auch total typisch, die gartenparzellen hinterm Haus, jeder hatte schön ordentlich seinen gartenanteil mit Beeten, früher mit Gemüse, später mit Blumen… einen Gemeinschaftsteil gabs auch, genau wie… Weiterlesen »