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Mein Bruder ist tot

Vorgestern ist mein Bruder mit 78 gestorben.

Ich habe einen älteren Bruder, einen wesentlich älteren. Mein Bruder wurde 16 Jahre vor mir geboren und hat das Elternhaus mit 18 verlassen, als ich 2 Jahre alt war.
So kam es, dass ich zwar ein Geschwisterkind bin, aber als Einzelkind aufwuchs. Meinen großen Bruder kannte ich nur durch wenige Besuche in meiner frühen Kindheit, durch die Erzählungen meiner Mutter und durch spätere Besuche bei ihm.

Aber so richtig kennenlernen konnte ich ihn nie. Selbst wenn ich mal zwei Wochen bei ihm war, blieb mir verborgen, wie er dachte, wie er empfand und was für ein Mensch er war. Mehr als einen oberflächlichen Eindruck konnte ich nicht gewinnen.
Was ich immer feststellte, waren die Unterschiedlichkeiten, die mehr auffielen, als die Gemeinsamkeiten. Erst spät in meinem/unserem Leben erfuhren wir von unserer Mutter, recht kurz bevor sie starb, dass wir aus kriegstechnischen Gründen zwei unterschiedliche Väter hatten.

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Hut ab vor meinem Vater, der nicht eine Sekunde gezögert hat, den Bub aus anderen Lenden als sein Kind anzuerkennen, großzuziehen und aufs Leben vorzubereiten.

Mein Bruder hatte das große Glück, eine richtig tolle Frau zu finden, die ihn perfekt ergänzte, unglaublich fleißig und geschäftstüchtig war und ihn zu lenken, anzuspornen und zu bremsen verstand. Sie überlebt ihn nun.
Zwei Kinder hatte er, ein Junge und ein adoptiertes Mädchen. Beide sind wohlgeraten, erfolgreich und haben eigene Familien/Partner.

Die meiste Zeit seines Lebens lebte mein Bruder im Ausland. Als Botschaftsangehöriger in Asien, danach als extrem erfolgreicher Unternehmer in Kanada. Seinen Altersruhesitz wählte er am Chapalasee in Mexiko, wo es ganzjährig Frühling ist.
Corona und diverse Altersbeschwerden veranlassten ihn und seine Frau dann aber letztes Jahr, doch wieder nach Deutschland zurückzukehren. Es ist halt doch nicht alles Gold, was glänzt, vor allem wenn es um die Kompatibilität von Gesundheit und Altsein mit ausländischen Gesundheitssystemen geht.

Wegen einer Beerdigungsreise hielten mein Bruder und seine Frau sich hier an meinem Wohnort bei einer Schwippschwägerin auf. Beiden ging es schon ein paar Tage nicht gut, so wurde mir berichtet. Vorgestern ist er morgens nicht mehr aufgewacht.

Ich bin glücklich darüber, dass mein Bruder so gestorben ist, dass ihm monatelanges oder jahrelanges schmerzbehaftetes Siechtum und auch Demenz erspart geblieben sind. Ich weiß, dass er einfach im Schlaf sterben wollte, das hat er mir mal selbst erzählt.

Zeitlebens haben mein Bruder und ich uns gemocht. So richtige Bruderliebe…, nein, die gab es nicht, die konnte sich aufgrund des Altersunterschieds, der seltenen Kontakte und der räumlichen Entfernung nicht entwickeln.

Wir sind im Alter auch aneinandergeraten, ich will es nur grob umreißen. Im Wesentlichen ging es um ein biographisches Buch, in dem er seine Lebensstationen für die Nachwelt festhalten wollte.
Als Autor sollte ich ihm dabei zur Hand gehen, was ich auch tat. Er stellte mir eine fürstliche Entlohnung in Aussicht. Ich ließ alles stehen und liegen und widmete mich dem Projekt. Aber wie das manchmal so ist, war man dann, als das Meiste geschafft war und der vereinbarte „Lohn“ näher rückte, auf einmal unterschiedlicher Auffassung über dies und das…
Ich, der nichts gefordert, nichts verlangt und nichts erwartet habe, stand einmal mehr in meinem Leben als Buhmann da, fühlte mich ungerecht behandelt und übervorteilt; und er fühlte sich allein gelassen und von mir enttäuscht.
Es gehören immer zwei dazu….

So kam es, dass wir die letzten Jahre den Kontakt gemieden haben, das war für beide am besten und bildete zu früher keinen allzu großen Unterschied. Vor allem im Alter hatte mein Bruder seine andere Herkunft mehr herausgestellt und die Rolle meines Vaters in einem anderen Licht erscheinen lassen, was mich sehr verletzt hat.
Auch über unsere Mutter wurde in seinem Buch ein in meinen Augen erschreckendes Kapitel veröffentlicht, das Vorgänge beschreibt, die für mich jenseits des Vorstellbaren liegen.

Nun denn. Nicht nur die Zeit, auch der Tod heilt alle Wunden. Die nicht so guten Ereignisse werden immer verschwommener werden und die wenigen schönen Erinnerungen werden sich in den Vordergrund schieben.

Ich bin traurig.

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(©si)