Ameisen im Wohnzimmer
Alle waren sie dagewesen: Der Geist der künftigen Weihnacht, den ich in allen Filmen synchronisiert habe, um mir mitzuteilen, dass ich kein künftiges Weihnachten habe. Gut, meine Familie hat um mich getrauert, in sofern nicht gar so garstig wie im Original. Und vielleicht deswegen nicht wirklich glaubwürdig, denn auch wenn meine Familie sicher um mich trauert, bin ich mir sicher, dass der Geist der künftigen Weihnacht mir das nicht zeigen darf. Der darf mir nur mein einsames Grab zeigen.
Dann der UPS-Mann mit Sense… zumindest habe ich ihn in meinem noch nicht wirklich wachen Zustand – wir sprechen hier schließlich von Wochenende und vor zehn Uhr früh – für einen UPS-Boten gehalten. Hat UPS sich eben eine neue Uniform zugelegt. Aber wer bitte bei mir im Haus bestellt eine Sense? Ich nicht, denn das Modell, das jetzt im Flur in einer Ecke steht und auf seine Abholung wartet, ist ein Rechtshändermodell und somit lebensgefährlich für einen Linkshänder wie mich, wollte ich damit ernsthaft ein Feld mähen. Wobei der jetzt wachere Zustand mich glauben lässt, dass ich den Tod seiner Sense beraubt habe…
Schließlich die einschlägigen Horrorskope, die ich an jedem anderen Tag wie ein Slalomskifahrweltmeister umkurve (ohne wirklich Ski fahren zu können), die sich mir heute aber immer wieder aufdrängten. Erst mit einer Werbung auf meiner Lieblingsinternetseite, obwohl ich dort eigentlich werbefrei surfe, dann mit dem U-Bahn-TV, das plötzlich statt Shopping-Wetter mir weißmachen wollte, ich würde demnächst vom Diesseits ins Jenseits überwechseln und zu guter Letzt auch noch die Störung im Kabelfernsehen, wo einzig ein Homeshopping-Kanal mit einer Tarot-Dauerwerbesendung klar zu empfangen war.
Ob mich diese Ereignisse stutzig gemacht haben? Sicher. Ob ich mich damit auf meinen nahenden Tod vorbereitet fühlte und triumphal davon überzeugt war, dass ich Montag aufgrund von akutem Totsein nicht zur Arbeit müsste? Nicht wirklich. Ich bin eben Skeptiker, was Übernatürliches betrifft. Vermutlich würde ich sogar bezweifeln, dass Gott vor mir stünde, wenn er mir erschiene, obwohl ich prinzipiell an Gott glaube. Außerdem bin ich Optimist. Und als Optimist ist es geradezu meine Pflicht fest daran zu glauben, dass ich am nächsten Tag wieder aufwache. Auch wenn Aufwachen an fünf von sieben Tagen viel zu früh geschieht und von Arbeit gefolgt wird. Egal! Als skeptischer Optimist bin ich also nicht davon überzeugt, morgen sterben zu werden. Wäre ja auch viel zu einfach.
Dann aber kamen die Ameisen. In meiner Nicht-Erdgeschoss- und Nicht-Kellergeschoss-Wohnung. Also eine Wohnung, wo man eigentlich keine Ameisen hat, höchstens mal Spinnen. Und schon gar nicht eine ganze Ameisenstraße samt sämtlicher Verkehrsteilnehmer. Und mehr als definitiv keine Ameisen, die sich plötzlich zu den Buchstaben D U S T I R B S T M O R G E N formieren. Zumal ich in meiner Wohnung nicht erst seit gestern wohne und auch nicht frisch renoviert habe, also Halluzinationszustände von Farb-/Kleberdämpfen auszuschließen sind. Ich hatte auch keine Kekse von Fremden angenommen, in denen sich vielleicht Drogen hätten verbergen können, die mir das nun vorgaukelten. Und doch stand da klar und deutlich DU STIRBST MORGEN (Anagramm-Rätsel aufgrund der Offenkundigkeit ausgeschlossen).
Gut, der Optimist in mir wollte immer noch nicht glauben, dass diese Botschaft für mich war und der Wissenschaftler in mir, versuchte den Beweis zu führen, dass die Nachricht eigentlich für meinen sicherlich mittlerweile verschiedenen Vormieter bestimmt gewesen war, die Ameisen aber so klein und ihr Weg so weit gewesen war, dass sie es nicht pünktlicher hatten schaffen können.
Was aber, wenn…
Und genau dieses ‚Was aber, wenn‘, ließ mich letztlich doch zum Telefon greifen, um meine Oma anzurufen. Nicht, weil ich das dringende Bedürfnis empfand, mich von ihr verabschieden zu wollen. Schließlich war ich von meinem herannahenden Tod nicht gänzlich überzeugt. Aber Oma wusste, wie man ein Testament aufsetzte, das gültig war, auch wenn es nicht vom Notar beglaubigt war. Und da Vorsorgen bekanntlich besser war als Nachsorgen – etwas, das im Zustand des endgültigen Totseins schwerlich zu bewerkstelligen wäre – wäre es vermutlich nicht verkehrt ein Testament aufzusetzen und somit dafür zu sorgen, dass mein Onkel seine Bratsche, die ich als Dauerleihgabe hatte, zurückerhielt, meine Eltern über mein Konto verfügen durften, da ich ihnen für mein letztes Auto eh noch einen Restbetrag schuldete und all die Ideen für Geschichten, Weltübernahmen und Regency-Blogs, die auf meinem Laptop schlummerten, noch eine Überlebenschance bekamen, indem ich meiner besten Schreibfreundin und Fernmusenchearleaderin das Passwort vermachte. Gerade letzteres war besonders wichtig, denn Bratsche und Geld würde die Familie eh auf diese Weise klären. Aber meine Ideen… Wenn ich schon sterben musste, dann wollte ich wenigstens mit meinen Ideen unsterblich werden.
Nachdem das erledigt war, war der Tag zuende, hatte ich doch reichlich lange gebraucht, die Möglichkeit meines baldigen Ablebens überhaupt in Erwägung zu ziehen, und ich ging ins Bett. In der festen Überzeugung, morgen wieder aufzuwachen, mir zu befehlen, mich darüber zu freuen, dass Sonntag wäre und ich somit noch frei hätte, auch wenn ich bügeln müsste und Sonntag ja unwiderruflich das Ende des Wochenendes bedeutete und ansonsten eben einen freien Tag zu genießen.
Ob ich wieder aufwachte? Weiß man, wenn man tot ist, dass man nicht mehr aufgewacht ist? Ich weiß es nicht. Und wenn ich nicht wieder aufwachte, dann doch zumindest in der Gewissheit, vorgesorgt zu haben und sogar am letzten Tag meines Lebens nachmittags in meinem Lieblingscafé noch ein Stück meines Lieblingsapfelkuchens gegessen zu haben.
Tot.
von chaotizitaet
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