Es ist schade, dass das gemütliche Kaffeetrinken nach einer Beisetzung immer mehr aus der Mode kommt. Früher war das mal ein selbstverständlicher Bestandteil jeder Beerdigung. Man kehrte anschließend gemeinsam in ein Restaurant ein und die Feier hatte erst dann ihren Höhepunkt erreicht, wenn einige besoffen waren.
Heute liest man immer häufiger, dass die Beisetzung im engsten Familienkreis stattfindet und das in weiten Teilen der Republik früher übliche Kaffeekärtchen gibt es so gut wie nicht mehr. Sicher haben auch die Preise in der Gastronomie mit dazu beigetragen, dass die Leute die Ausgaben für eine solche Familienfeier scheuen. Aber mehr noch scheint es mir so, dass man die Prioritäten anderswo sieht und einer Beerdigung nicht mehr den Stellenwert einräumt, den sie früher einmal hatte. Eigentlich schade, denn so eine Beerdigungskaffeetafel ist ein Stück deutsches Kulturgut.
Cousin Hans erwies sich anlässlich der Beerdigung seiner Mutter damals als Arschloch. Er ließ die von weither angereiste Verwandtschaft buchstäblich nach der Beerdigung im Regen stehen und verpisste sich mit seiner Familie. Die recht große Trauergesellschaft blieb ratlos zurück, war man es doch gewohnt, dass es selbstverständlich anschließend Kaffee, Streuselkuchen und belegte Brötchen gab. Viele hatten sich seit Jahren nicht gesehen und eine lange Reise auf sich genommen, um zur Beerdigung zu kommen.
Meine Mutter nahm damals das Ruder in die Hand und lud alle einfach zu uns nach Hause ein.
Einige gingen rasch einkaufen, andere kochten in der Küche Kaffee und schmierten Brote und vom benachbarten Jugendhaus wurden ein paar Tische und Stühle geholt. Ich weiß bis heute nicht, wie die über 50 Personen in unserer Wohnung Platz gefunden haben.
Auf jeden Fall war es ein denkwürdiges Ereignis und alle waren glücklich und zufrieden.
Auf so einer Feier wird das Leben des Verstorbenen gefeiert, es wird ausgelassen gegessen und getrunken und die Witwe oder der Witwer werden vom traurigen Verlust abgelenkt und auf andere Gedanken gebracht. Manche bringen Fotoalben mit, andere präsentieren ihre Kinder, die seit der letzten Familienfeier hinzugekommen waren und man wurde nicht müde, zu betonen, dass das Leben weitergeht.
Als Familie Schneider bei mir im Bestattungshaus war, freute ich mich, dass die Witwe Schneider wie selbstverständlich auch ein Kaffeetrinken bestellte. Ihr Mann sei mit seinen Jagdgenossen gerne im Jägerhaus gewesen, das sie selbst gar nicht kenne, aber ich solle doch mal probieren, ob wir dort nicht am Beerdigungstag das Hinterzimmer bekommen könnten.
Ein wirklich bunt zusammengewürfelter Haufen fand sich zur Kaffeerunde ein. Weil Witwe Schneider so nett darum gebeten hatte, waren auch der Pfarrer und ich ihrer Einladung gefolgt.
So an die 25 Personen waren außer uns erschienen, ältere, jüngere, Verwandte und Bekannte.
Das Jägerhaus hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht gekannt. Es stellte sich als Fachwerkbau am Rande eines Ausflugsgebiets heraus. Das Innere lässt sich am besten mit einem Wort beschreiben: düster.
Wie von einem Restaurant mit diesem Namen nicht anders zu erwarten, war das gesamte Lokal mit Geweihen, ausgestopften Wildschweinköpfen und allerlei präparierten Kleinsäugern geschmückt. Sämtliche Ausstopfungen mussten schon vor Generationen erfolgt sein, denn die Felle waren stockig, ausgebleicht und die toten Glasaugen hingen zum größten Teil halb aus den Augenhöhlen, wenn sie nicht ganz fehlten. Motten oder andere Viecher hatten einigen Präparaten auch schon die Nasen und Ohrenspitzen abgefressen.
Über dem großen Stammtisch, den man für uns eingedeckt hatte, hing eine Art Kronleuchter. Ein langes Teil, gefertigt aus den Geweihen irgendwelcher Hirsche. Dabei hatte der Konstrukteur dieser Lampe darauf geachtet, dass möglichst viele der spitzen Enden nach unten und außen zeigten und dass die Lampe auch so tief über dem Tisch hing, dass jeder Zweite beim Aufstehen mindestens einmal Bekanntschaft damit machen musste. Ganz wichtig war es dem Lampenbauer aber auch gewesen, dass nur drei funzelige 40-Watt-Birnen aus dem Gehörn heraus für Beleuchtung sorgten.
Der Wirt war ein mittelgroßer, dicker Mann mit einer schlecht sitzenden Perücke, unter der er heftig hervorschwitzte. Er trug ein T-Shirt, das über und über mit Fett- und Saucenflecken verziert war. Um die Hüften trug er eine Lederschürze.
Hinter der Theke tat eine junge Frau Dienst, der man ansah, dass sie überhaupt keine Lust hatte, hinter einer Theke Dienst zu tun.
Den Service hatte die Frau des Wirtes übernommen, die jeden duzte und ein Kommando führte, wie ein Hauptfeldwebel auf dem Kasernenhof.
Auf dem Tisch standen vier Platten mit belegten Brötchen. Es waren keine schönen, frischen Brötchen vom Bäcker, sondern klitzekleine Aufbackbrötchen aus der Tiefkühltruhe, sehr hell und kurz gebacken.
Der Käse auf den Brötchen hatte schon außenrum einen angetrockneten Rand und wölbte sich an den Ecken nach oben. Auf den Käsescheiben gab es Schwitztropfen und ich fragte mich, ob die aus dem Käse kamen oder vom Wirt stammten.
Wurst gab es auch, allerdings nur eine Sorte, eine Art Blutwurst mit Kräutern. Jedenfalls war da was Grünes an der Wurst…
Der Kaffee, das muss ich sagen, war hervorragend. Den Streuselkuchen servierte die Wirtin in den schmalen Aluschalen, wie er eben bei ALDI so zu haben ist.
Warmes Essen gäbe es auch, erklärte die Wirtin und verteilte Speisekarten.
„Au, Rumpsteak!“
„Für mich Schnitzel mit Rahmsoße!“
„Gibt’s auch Eis zum Nachtisch?“
„Ich esse ja immer eine Suppe vorher.“
„Vegetarisch haben die gar nicht.“
„Wenn schon, denn schon, Rumpsteak nehmen wir alle vier.“
Die Witwe Schneider beugte sich zu mir herüber. „Sie, das habe ich so aber nicht mit denen vereinbart. Ich hab gesagt, dass es belegte Brötchen und Streuselkuchen geben soll. Wenn jetzt jeder ein Menü bestellt, muss ich das ja alles bezahlen.“
Der Pastor, der das gehört hatte, legte beschwichtigend seine Hand auf ihre und erhob sich. „Liebe Trauergäste, schön, dass Sie alle der Einladung von Frau Schneider gefolgt sind. Wir wollen hier gemeinsam das Andenken an Herbert Schneider feiern. Dazu hat die Witwe zu Kaffee, Streuselkuchen und Brötchen eingeladen. Bitte greifen Sie zu, es ist genug da. Wenn Sie noch etwas anderes bestellen möchten, Schnaps, Wein oder anderes von der Speisekarte, können Sie das natürlich herzlich gerne machen, müssen das aber dann auch selbst bei der Wirtin bezahlen. Herzlich willkommen und noch einen schönen Tag.“
Betretendes Schweigen, irgendjemand macht „Uff“ und vom anderen Tischende kommt ein enttäuschtes „Oooooh“.
Als die Wirtin mit ihrem Block und gezücktem Kugelschreiber kommt, bestellt die Runde lediglich vier große Flaschen Wasser mit acht Gläsern, viermal Pils und einmal Export, sowie Limo für die Kinder. Nur Oma Hedwig will gerne Ochsenmaulsalat, doch ihre Tochter nimmt ihr die Speisekarte weg. „Oma, wir haben Dein Insulin nicht dabei, iss Brötchen!“
Maulend zog die Wirtin wieder ab und von der Theke bekommen wir das Gemaule des Wirtes mit. „Wofür hab ich die Fritteusen eingeschaltet?“
Jemand schlägt mit einem Löffel an ein Glas. Das untrügerische Zeichen, dass jetzt jemand um Gehör bittet, weil er eine Rede halten will. Es ist Onkel Ferdinand.
„Als Familienoberhaupt ist es mir eine Ehre…“
„Ja, wieso das denn, ich bin zwei Jahre älter“, ruft ein anderer Mann, doch Ferdinand fährt fort:
„…ist es mir eine Ehre, Euch alle hier in dieser schönen Runde, äh, dass Ihr gekommen seid. Als Vorsitzender des Beamten-Briefmarkenvereins von 1871 kommt es mir zu, eine Rede hier und heute für Euch, meine lieben, äh, und äh, dass Ihr gekommen seid.
Wir sind hier gekommen, weil unser lieber Hermann…“
„Herbert“, riefen alle.
„…äh Herbert, äh Hermann, genau, von uns gegangen ist. Ihm wollen wir ein ehrendes Andenken bewahren und seine Witwe, unsere liebe, äh, Dings äh, dass Ihr alle gekommen seid. Danke schön.“
Nun erhob sich die Witwe Schneider und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. Sie wollte gerade etwas sagen, da betreten Wirt und Wirtin den Raum. Sie hat eine Kuhglocke in der Hand und bimmelt, und er ruft „Weinprobe!“
Dann stellt er einen Korb mit Weinflaschen direkt vor der Witwe auf den Tisch und seine Frau drapiert einige Gläser rundherum. Sie verkündet: „Jede Flasche 12 Euro, greifen Sie zu!“
Witwe Schneider setzt sich wieder und unternimmt auch keine Anstalten, nochmal etwas zu sagen. Alle fangen an zu essen und zu trinken. Der Wein bleibt unangetastet.
Wie das denn mit dem Schnaps sei, will die Wirtin nun von der Witwe wissen. Einige der Herren seien an die Theke gekommen und hätten sich Cognac und Kurze bestellt. Die müsse ja auch jemand bezahlen. Die Witwe schaut den Pastor und mich hilfesuchend an und der Pastor ergreift abermals die Initiative. Er sagt der Wirtin, dass jeder ein, zwei Schnäpse haben dürfe, dass sie dann aber vehement den weiteren Ausschank verweigern solle, es sei denn die bezahlen das sofort jeder selbst. Die Witwe lächelt dankbar. „Ja, so machen wir das, ein Schlückchen in Ehren kann niemand verwehren, aber besaufen müssen die sich auf meine Kosten nicht.“
Während die Wirtin zur Theke zurückstiefelt, ruft sie der gelangweilten Bedienung zu: „Wasser Marsch, Olga!“
Unterdessen hat sich Onkel Ferdinand, der mittlerweile dreimal an der Theke war, an einen neben ihm sitzenden jüngeren Mann gewandt: „Nee, is nicht schlimm, ihr seid ja auch Menschen.“ Dann klopft er dem daneben sitzenden zweiten jungen Mann jovial auf die Schulter. „Aber man wird doch fragen dürfen, wer von Euch den Popo hinhält, oder?“
Oma Hedwig bleibt dabei: „Wenn der Hitler das mit den Juden nicht gemacht hätte, gäb’s heute keinen Stau auf der Autobahn. Dass der ne Frau gehabt haben soll, ich glaub’s ja bis heute nicht, der Hitler war mit seinem Volk verheiratet. Und Neger hat’s auch keine gegeben.“
„Oma!“, rufen mehrere Personen und ihre Tochter sorgt dafür, dass Oma wieder die Klappe hält.
Neffe Uwe ruft: „Uns wird ja die Wahrheit vorenthalten, Deutschland ist eine GmbH! Jawoll!“
Eine jüngere Frau meint: „Ich bin ja kein Nazi, aber das muss ja wohl mal gesagt werden dürfen.“
Mehrere Personen stimmen zu und Cousine Lydia meint: „Dass unsere Autokennzeichen einen schwarzen Rand haben, habt Ihr darüber schon mal nachgedacht? Ja, denkt da mal drüber nach, vielleicht kommt ihr dahinter. Man will uns ja als Volk dumm halten.“
Ich sage, durchaus für alle vernehmbar, zum Pastor: „Und abgerundete Ecken haben die Kennzeichen auch immer.“
Der Pastor nickt vielsagend. „Was da bloß dahintersteckt.“ Ich sage: „Meist ein Kennzeichenhalter.“
Allgemeines Geraune der Zustimmung, wir sind angekommen in der Runde.
Ein etwa 45-jähriger Mann, der von allen Beppo genannt wird, meint: „Das ist ja Nazi-Gequatsche. Der Hitler war ein Verbrecher. Da beißt keine Maus einen Faden ab. Obwohl: Für Napoleon und Stalin haben sie Denkmäler gebaut, die waren auch nicht besser.“
„Und sowas hat’s damals auch nicht gegeben!“, ruft Onkel Ferdinand und zeigt auf die beiden jungen Männer neben ihm. „Wir haben damals Eierlikör-Bubis zu denen gesagt. Aber gegeben hat es sowas nicht.“
„Es ist eine Schande, dass wir damals Mallorca gegen Helgoland getauscht haben“, ruft eine Tante, erhält allgemeine Zustimmung und ihr Mann fügt hinzu: „Dann könnten wir die jetzt alle nach Helgoland schicken.“
Cordula, eine weitere Nichte, protestiert: „Was Ihr alle habt, unseren Kindern hat es damals in Dänemark sehr gut gefallen im Helgoland.“
„Was Du meinst, ist Lego“, ruft jemand.
Ferdinand wird laut: „So ein Unsinn, so etwas wie Lego hat’s beim Hitler nicht gegeben! Wer erzählt denn so was? Ein anständiger deutscher Junge spielt mit Blech und Holz, jawoll mit Blech und Holz!“ Ein anderer älterer Herr hakt Ferdinand unter und zieht ihn mit sich: „Komm wir trinken an der Theke einen Reichsjägermeister.“ Die beiden lachen sich scheckig.
Reichsbürger-Lydia sagt: „Wenn man Lego rückwärts liest, heißt das Ogel. Denkt mal drüber nach, wird alles verschwiegen.“
Witwe Schneider blättert in einem Fotoalbum und erzählt dem Pastor, was sie und ihr verstorbener Mann alles gemeinsam erlebt haben.
Irgendeiner ruft: „Jetzt hätte ich aber doch Hunger auf ein Rumpsteak mit Pommes. Wie sieht’s aus, Tante?“
Frau Schneider hat gar nicht mitbekommen, was los ist und will schon nicken, da sagt der Pfarrer: „Bestellen Sie sich ruhig zwei oder drei Rumpsteaks, wenn Sie so einen Hunger haben. Zur Einladung hier gibts Streuselkuchen und belegte Brötchen, alles klar“?
Die Wirtin bringt Nachschub. Diesmal Mettbrötchen. Augenzwinkernd meint sie zur Witwe, zum Pfarrer und zu mir: „Die bring ich immer erst nachher, sonst fressen die das teure Mett wie die Blöden. Die sollen erstmal Käse und Wurst in sich reinstopfen, dann erst gibt’s das gute Mett.“
Mettbrötchen sind was Gutes. Und wenn es dann noch, so wie in diesem Fall, große Schüsseln mit fein geschnittenen Zwiebeln dazu gibt, hmmmm, lecker.
Einzig die graue Farbe der Gehacktesauflage hat mich und auch den Pastor abgehalten, davon zu essen. Auf dem grauen Papp schimmert es wie Ölschlieren in einer Pfütze. Mit Genugtuung sehe ich, dass vor allem die Reichsbürgerfraktion tüchtig zulangt beim ölschlierenbunten Mett. Sollen sie nur erleben, was Braun wirklich bedeutet, denke ich.
„Sieht ja schrecklich aus“, raunt mir der Geistliche zu. „Haben Sie überhaupt schon was gegessen?“
„Zwei Streifen von dem ALDI-Streuselkuchen“, sage ich.
„Ich auch.“
Wir schauen uns einen kurzen Moment an, dann haben wir uns ohne jedes weitere Wort verstanden.
Zwanzig Minuten später stehen wir bei Matze am Imbisswagen und essen Currywurst. Kauend meint der Pastor: „Und wissen Sie was? Wenn Hitler ein Afrikaner von Helgoland gewesen wäre, dann würde Wurst nach Eierlikör schmecken.“
Ich nicke: „Weiß doch jeder, dass der mit einem vegetarischen Schäferhund namens Ogel verheiratet war.“
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Meisterhaft, wie Sie der Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Hut ab!