Bei meinem Lieblingsitaliener gibt es Eis, Kuchen und Pizza.
In seiner Kuchenvitrine stehen meist drei verschiedene Kuchensorten. Alle liebevoll gebacken von seiner Frau.
Ganz unten steht immer Tiramisu. Das hat die Frau in schöne gleichmäßige Vierecke geschnitten.
Die meisten Menschen nennen diese italienische Süßspeise Tiramisu.
Nur einer nicht: Ebenezer Scrooge.
Ebenezer Scrooge ist ursprünglich die Hauptfigur aus Charles Dickens Weihnachtsgeschichte. Man kennt sie. Es ist die Geschichte, in der ein hartherziger alter Mann von den vier Geistern der Weihnacht heimgesucht wird, die ihn in seine Erinnerungen zurückführen und ihm die Zukunft zeigen. Daraufhin verändert sich der grantelige Alte in einen eher liebenswürdigen Menschen.
Gezeichnet und dargestellt wird Ebenezer Scrooge meist als großer, hagerer und faltiger alter Mann mit einer auffällig großen Hakennase.
Und unser Ebenezer Scrooge sah genau so aus. Der 80jährige lebte in unserem Ort und man sah ihn allenthalben, wie er zu allen möglichen täglichen Besorgungen schlurfte. Dabei legte er stets großen Wert auf seine Kleidung. Ein Anzug, Hemd und Lederschuhe, sowie im Winter Schal und Mantel waren für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Nur waren diese Kleidungsstücke mit ihm gealtert und so wie er befanden sie sich nach all den vielen Jahren nicht mehr in der allerbesten Verfassung. Hinzu kam, daß Ebenezer an einer gewissen Form der Altersverwirrung zu leiden schien. Ander ließ es sich nicht erklären, daß er oft genug zwei verschiedene Schuhe, nur einen Socken oder Hose und Jackett von verschiedenen Anzügen trug.
Überhaupt sahen seine Kleider schon arg strapaziert aus. An den Ärmeln war der Stoff abgestoßen und speckig, die Säume der Hosen waren etwas ausgefranst.
Aber nicht nur an seinen Kleidern war die Zeit nicht spurlos vorüber gegangen. Ebenezer selbst, ein großer hagerer Mann mit langen Gliedmaßen, ging gebeugt und machte einen etwas ungepflegten Eindruck.
Immer war er alleine, ich habe nie gesehen, daß sich irgendwann mal irgendwer mit ihm unterhalten hätte. Er machte aber auch nicht den Eindruck, als ob er Gesellschaft suche oder an einem Gespräch interessiert sein könnte. Ebenezer gehörte zu den alten Menschen, die mitunter mit sich selbst reden, und das auch in der Öffentlichkeit, und zwar so, daß man sicher ist, sie wissen nicht, daß sie so laut sprechen, daß andere es hören.
Natürlich hieß Ebenezer nicht Ebenezer und auch nicht Scrooge. Diesen Namen hatte ich ihm verpaßt, weil er ach so gut in mein Bild von Charles Dickens Erzählfigur passte. Bald schon hatten meine Frau und meine Kinder diesen Namen übernommen. Und andere, die das mitbekommen hatten, setzten das fort und so kam irgendwann der Zeitpunkt, ab dem jeder nur noch von Ebenezer Scrooge sprach, wenn es um diesen Mann ging.
Meist sahen wir ihn in der Nähe des Eiscafés oder wenn er in diesem mal zu Gast war. Und wenn er dort war, bestellte er immer eine kleine Flasche Bier, ein Brötchen mit Salami und zum Abschluß ein Stück Quadratkuchen. Mit Quadratkuchen meinte er das in schöne Vierecke geschnittene Tiramisu.
An einem Tag saß ich vor einen Tässchen Espresso und Luigi, der stehend genau so groß ich, wie ich im Sitzen, erzählte mir einen seiner zweihundertfünfundsechzigtausend Witze.
In 43 Jahren Deutschland hat Luigi alle deutschen Wörter gelernt, nur mit der Aussprache hapert es gewaltig.
„Kommte Mann in die Lotto. Hatte der Mann sein Frau. Einmal! Ja? Verstehe? Mann in die Lotto, dann machen die Blume. Er sagen: ‚Hallo!‘ Sein Frau sagen: ‚Du trinken!‘. So machte Mann in die Lotto eine Kawuschtassi und nehme wie sizilianische Auto.“
Er krümmte sich vor Lachen, schlug sich auf die Schenkel und ich starrte ihn ratlos an. Bis heute ist es mir trotz reger Phantasie nicht gelungen, den Witz von „die Mann in die Lotto“ zu entschlüsseln.
Ich mußte aber trotzdem lachen, denn Luigi konnte prima Witze erzählen, seine Gestik, seine Mimik und die abenteuerlichen Schritte, mit denen er seine Erzählungen unterstrich, machten jeden seiner Witze zum Erlebnis.
Weil Luigi besonders auf Männerwitze und Blondinenwitze steht, erzähle ich ihm den vom Löwenbändiger.
In einem Varieté führt ein Löwenbändiger einen Löwen auf die Bühne, öffnet dann seine Hose und hält dem Löwen sein Gemächt hin. Trommelwirbel, dann schnappt der Löwe zu.
Der Löwenbändiger schlägt ihm dreimal fest mit der Faust auf den Kopf und der Löwe öffnet sein Maul. Dem Gemächt des Löwenbändigers ist nichts passiert.
„Meine Damen und Herren, ich biete demjenigen, der auf die Bühne kommt und das nachmacht 3.000 Euro!“
Niemand meldet sich.
Also erhöht der Löwenbändiger sein Angebot: „Okay, will es jemand für 5.000 Euro probieren?“
Da meldet sich in der mittleren Reihe eine Blondine und ruft: „Okay, ich mach’s, aber nur wenn Sie mir nicht so fest auf den Kopf schlagen.“
Luigi lachte sich kringelig und verschwand hinter seiner Theke.
Rudi kam. Rudi hinkt, weil er ein künstliches Bein hat. Er nahm an einem der Tische Platz und Luigi brachte ihm die Karte. Sofort mußte Luigi den eben gehörten Witz weitererzählen.
„Kommte Mann mit die Löwe. Sagen zu blonde Frau: ‚Ich gebe Dir 5.000 Euro. Sagen die Frau zu die Mann mit die Löwe: ‚Aber nicht auf Kopf hauen!'“
Luigi krümmte sich und hielt sich den vom Lachen schmerzenden Bauch. Ein wahres Witzetalent, dieser Luigi.
Kurz darauf wurde es voll. Alle möglichen Leute waren von der Frühjahrssonne hinausgelockt und von Luigis Eis angelockt worden.
Kotz! Frau Birnbaumer-Nüsselschweif und zwei ihrer Freundinnen vom Menstruationskreis alternder Mütter nahmen an einem der Tische in der Ecke Platz.
„Luigi, drei Espressi und zwei Pizzi Salami!“, rief die Birnbaumer-Nüsselschweif quer durchs Lokal, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß Luigi gerade an eine Horde biologisch gezüchteter Kinder laktosefreies Eis verkaufte.
„Und drei Vini tinto, muchas gracias!“
Mit dem Italienischen hatte sie es wohl nicht so.
Auch Ebenezer Scrooge kam an diesem Nachmittag ins Eiscafé. Still nahm er an einem der Tische Platz und sortierte vor sich sein Brillenetui, seinen Geldbeutel und seinen Schlüsselbund. Geduldig wartete er, bis Luigi die Kinderschar abgefertigt und den Menstruierenden ihren Rotwein gebracht hatte. „Bitte ein kleines Pils und ein Stück vom Quadratkuchen“, bestellte er dann.
Der Kopf von Frau Birnbaumer-Nüsselschweif war sofort in seine Richtung gereckt und sie beäugte, wie Luigi aus der Kühlvitrine eine Form mit dem Tiramisu entnahm. Dann konnte sie nicht länger an sich halten und mußte sich, wie das so ihre Art ist, einmischen. „Quadratkuchen?“, rief sie mit spitzer Stimme. „Was bitteschön soll das denn sein?“
Sie konnte nicht umhin, sich von ihrem Stuhl zu erheben und zu Ebenezer Scrooge hinzugehen. „Wenn Sie schon beim Italiener sind, sollten Sie wenigstens wissen, daß das Tiramisu ist. Quadratkuchen! Wenn ich sowas schon höre. Ein kleines bißchen können auch Sie gefälligst zur Inklusion unserer ausländischen Mitbürger beitragen.“
Ebenezer Scrooge schaute die Zweizentnerfrau mit ängstlichem Blick an. Er war sich keine Schuld bewußt. Immer hatte er nur Quadratkuchen bestellt, und Luigi hatte ihm dann immer genau das Gewünschte serviert und niemals hatte sich jemand an dem Ausdruck ‚Quadratkuchen‘ gestört. „Ent-, Ent-, Entschuldigung“, stammelte der Alte nur, packte hastig seine Siebensachen wieder ein und wollte gehen.
Luigi war inzwischen herbeigeeilt und drückte ihn wieder auf seinen Platz zurück: „Sitze, Mann, sitze! Ich bringe gleiche die Kuche.“
„Na, hören Sie mal!“, herrschte die Birnbaumer-Nüsselschweif nun Luigi an: „Was fällt Ihnen eigentlich ein? Es geht doch schließlich um Ihre Kultur. Hat man dafür Töne? Da komme ich daher und will Ihre Rechte als Ausländer durchsetzen, und Sie fallen mir in den Rücken? Das heißt Tiramisu und Tiramisu bedeutet ‚Spring in den Mund‘! Das weiß doch jedes Kind!“
Voller Entrüstung schaute sich die Dicke im Café um, auf der Suche nach Zustimmung. Sie erwartete offenbar fest, daß alle Anwesenden ihr jetzt Beifall klatschen würden. Aber die meisten schauten nur betreten auf ihre Füße. Peinlich berührt schauten manche auch bewußt weg. Aber durch so etwas ließ sich die Birnschweiferin noch nie aus dem Konzept bringen. Sie hob ihre Stimme sowohl hinsichtlich der Lautstärke, als auch der Frequenz an und klatschte in die Hände: „Ja, ja, das hat man von seinem unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte. Tiramisu heißt das, Tiramisuuuuuu!“
Auch ihre Freundinnen hatten erst peinlich berührt geschaut, doch als sich die Dicke wieder zu ihnen setzte, sah man, daß sie sofort ihrer Wortführerin beipflichteten. „Da hast Du aber Recht!“, sagte die eine und die andere meinte: „Wenn Du nicht aufgestanden wärst, dann hätte ich dasselbe gesagt.“
Luigi brachte dem alten Mann sein Bierchen und einen Teller mit einem quadratischen Stück Tiramisu. Er hatte noch etwas Sahne draufgetan und zur Feier des Tages eine Kugel Vanilleeis. „So bitteschäne, eine Stücke Quadratekuchen, prego.“
„Tiramisuuuuuu!“, rief die Nüsselschweiferin erneut. „Ein bißchen Reinheit der Sprache ist ja wohl das Mindeste!“
Luigi hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon abgewandt und wollte hinter seine Theke zurück. Doch nach den letzten Worten der Birnbaumer-Nüsselschweif hielt er inne, wandte sich ganz langsam um und ging an den Tisch des Müttervereins. Dort baute er seine 156 Zentimeter zur vollen Größe auf und nahm den Damen ihre Rotweingläser weg. „So, jetzte makke ich Reinheit. Wir makke Reinheit von Lokal. Sie gehe raus und alles iste reine. Tschüss.“
Das Maul der Birnbaumerin stand offen, ihre Augen waren geweitet. Sie wollte noch etwas sagen, doch Luigi machte nur eine Kopfbewegung in Richtung Tür. „Ciao!“
„Also wirklich….“, begann die Birnbaumer-Nüsselschweif, doch Luigi war in dieser Sekunde wohl bereit, zu töten. Offensichtlich stand diese sizilianische Mordlust auch in seinen Augen, denn die Damen packten hurtig ihre Sachen und gingen in Richtung Ausgang.
Nun brandete endlich der Beifall auf, den die Birnbaumerin sich erhofft hatte. Alle Anwesenden klatschten. Eine Frau rief der Birnbaumerin zu: „Tiramisu heißt auf Deutsch ‚zieh mich hoch‘, was Sie meinen ist Saltimbocca!“ Ein Mann rief: „Es lebe der Quadratkuchen! Mir bitte auch ein Stück, Luigi!“
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So menschlich, so schön und so mutig von Luigi. Leider wird die Dummheit nie aussterben.
Was für ein schön geschriebener Blogpost! Und ich freue mich, mal wieder von „alten Bekanntne“ zu lesen.
Nach der Einführung von Ebenezer hätte ich ja aher erwartet, dass ebenjener sich über das Tiramisu echauffiert oder schimpfend im Lokal sitzt. Aber dass die Birnbaum-Nusskracher-Rüffelschweiß das ganze so für sich vereinnahmt…herrlich!
Warum wird der arme Ebenezer eigentlich immer so falsch verstanden??
Ich mag die Geschichte sehr aber nur bis zum Besuch des ersten Geistes,dem armen alten Mann so zu zusetzen bis er sein ganzen hart erarbeitetes Geld unter die Leute bringt………………..
Hat mir viel Freude bereitet beim Lesen. 🙂
DANKE!