Scheidensehnenentzündung, meint die neugierige Frau Ruckdäschl von gegenüber.
Frau Ruckdäschl, das muß man wissen, verfolgt uns seit 10 Jahren.
Als wir noch zur Miete wohnten und unsere mannigfaltig-kulturellen Nachbarn mir Anlässe genug für mein Buch „Zum Hieressen oder zum Mitnehmen“ gaben, bewohnte Frau Ruckdäschl die Wohnung im Parterre. Dort lauerte sie ganztags, durchaus auch nachts, immer zugriffsbereit zwischen der stets spaltbreit geöffneten Wohnungstür und dem zur Straße gehenden Balkon.
Nur so konnte sie ihre strategisch wichtige Aufgabe der permanenten Mitbewohnerüberwachung 24/7/365 aufrecht erhalten.
Damit nun ihre Überwachungstätigkeit, die in permanentem Ansprechen aller Hausbewohner gipfelte, nicht als Neugierde entlarvt werden konnte, tarnte sich die knochenfingrige Alte immer als Geranienzupferin. Aus Norddeutschland stammend, aber schon 45 Jahre hier im Nordbadischen lebend, hat sich die verwitwete und selbsternannte Concierge nur noch wenige Wörter ihres norddeutschen Heimatdialekts bewahrt, ansonsten spricht sie den etwas breitmäuligen und vorwiegend aus den Lauten SCH und L bestehenden Dialekt der hiesigen Flußuferbewohner.
Eines der Worte, das sie norddeutsch ausspricht, ist das Wort Geranie, das sie irgendwie so ähnlich wie Scherohnie ausspricht.
Man könnte auch so sagen: Aus dem ganzen „Kanschumollomuschulalla jada jada“ höre ich vor allem immer Scherohnie heraus.
Kein Wunder also, daß wir die Alte nur die Scherohnie nennen.
Fünf Jahre lang war sie für uns im ersten Obergeschoß die Frau, die überm Keller wohnt und jeden unserer Schritte mit Argusaugen überwachte. NSA, BND, FBI, BKA, CIA, Verfassungsschutz und der örtliche Gemeindevollzugsbeamte können uns nicht schocken, alles was wir sagen, tun oder bleiben lassen, erfährt sowieso in kürzester Zeit, völlig unelektronisch die gesamte restliche Wohnbevölkerung unseres Ortes. Frau Ruckdäschl ist quasi die lebende Überwachungswanze einer 15.000-Seelen-Gemeinde.
In Zusammenarbeit mit der Gemüsefrau sorgt die omnipräsente Scherohnie für die Verbreitung der Wahrheit und nichts als der Wahrheit.
Wir glaubten uns schon den Stasifängen der Scherohnie entzogen zu haben, als wir vor fünf Jahren aus dem dauerüberwachten Haus ausgezogen und in ein Einfamilienhaus übersiedelt sind. Doch weit gefehlt!
Was wir nicht ahnten: Die Alte betreibt direkt am Ende unserer „neuen“ Straße einen Kleingarten, in dem sie täglich was tat? Scherohnien zupfen! Und da mußte sie natürlich 26,8 mal am Tag an unserem Haus vorbei.
Da sie gleichzeitig aber auch die Dauerüberwachung des Mietobjekts nicht aufgeben konnte, glaubten wir schon an einen Ruckdäschl-Klon.
Nun sind wir abermals weggezogen, in unser eigenes Haus, etwa 5 Kilometer weg von der Scherohnie, zu weit als daß sie das mit ihren wackeligen, dürren Beinen auf dem noch wackeligeren Fahrrad bewältigen könnte.
Hier muß man einfügen, daß das Fahrrad nicht etwa wackelt, weil es alt und klapprig ist, so wie seine Lenkerin, sondern weil die Frauen hier in der Gegend das Fahrradfahren mit minimaler Tretkurbelumdrehung praktizieren.
Dabei schiebt man das viel zu große Fahrrad, an dessen Lenker vollbepackte Tüten und Einkaufsnetze hängen, neben sich her, steigt dann mit dem völlig falschen Fuß auf das Pedal und schwingt sich mit einer sehr merkwürdig anmutenden Körperdrehung irgendwie auf den Sattel.
Dabei kommen Fahrrad und Lenkerin in abenteuerliche Schwankungen, die in mir immer sofort den Reflex auslösen, ich müsse anhalten, aus dem Wagen springen und die stürzende Frau auffangen.
Doch die fallen nicht.
Die treten.
Aber dieses Treten der Pedale geschieht in einer Art verlangsamter Zeitlupe. Das heißt, mit bloßen Auge kann man die Tretbewegung gar nicht wahrnehmen. Nur wenn man seine Augen stroboskopisch ganz schnell auf und zu macht, kann man erkennen, daß da tatsächlich das physikalische Gesetz von Weg mal Arbeit gleich Fahrradfahren eingehalten wird.
Durch den Mangel an Vorwärtsbewegung ist die ganze Fahrradfahrt mehr ein permanentes Gewackel. Es wird nur ein Bruchteil der Trittenergie in Vorwärtsbewegung umgesetzt, zwei Drittel der Kraft dienen dem Schwanken.
Diese gefährliche Schlingerfahrt in Zeitlupe wird auch dadurch nicht sicherer, daß am Lenker auf jeder Seite rund 15 Kilogramm Einkaufslast hängen.
Als Autofahrer kannst du da nichts machen. Du bist gezwungen, hinter denen zu bleiben. Man kann nämlich schon deshalb nicht an diesen alten Wackelfahrerinnen vorbei fahren, weil sie jederzeit irgendwas oder irgendwen sehen, das oder der Anlaß für ein sofortiges Anhalten und Absteigen sein könnte.
Und dieses meist anlaßarme Absteigen geschieht immer völlig ohne jede Vorwarnung aus der eben noch wahrnehmbaren Fahrbewegung heraus durch eine Art Abspringen und Neben-dem-Fahrrad-Auslaufen.
Und sie springen immer zur Fahrbahnseite ab, immer!
Doch ich komme ins Schwadronieren…
Also jene Frau Ruckdäschl ist nicht der Grund weshalb wir umgezogen sind, aber wir haben es als sehr angenehm empfunden, daß wir Wochen der scherohnienfreien Zeit erleben durften.
Ja, ich schreibe in der Vergangenheitsform.
Man ahnt es, nicht wahr?
Gegenüber hier, da wohnte nämlich der Herr Schallenbruch. Der war alt, kam vor sechs Wochen in ein Pflegeheim und dort hat man ihn so gut versorgt, daß er vor zwei Wochen gestorben ist.
Der Verlustschmerz hält sich allenthalben in Grenzen, der Mann war wohl nicht sehr beliebt und die erbenden Nichten und Neffen hatten schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu dem misanthropischen Alten gehabt.
Über die Verteilung des Erbes, das im wesentlichen aus jenem kleinen Haus gegenüber von uns besteht, konnten sich die Nichten und Neffen indes nicht einigen und so beschlossen sie, das Haus erst einmal zu vermieten.
Und da die alte Ruckdäschl vor zwei Jahren mit ihren Scherohnien den Balkonkasten-Wettbewerb gewonnen hatte, gilt sie als gute und ordentliche Mieterin und hat sofort den Zuschlag für das Objekt bekommen.
Das heißt mit anderen Worten: Ich wohne jetzt direkt gegenüber von der örtlichen Stasizentrale.
„Ei, was hawwe sie dann do?“ fragte mich die Scherohnie gestern Nachmittag. „Is des Altpapier?“
„Nein, liebe Frau Ruckdäschl, das sind Kartons mit Büchern.“
„Ei, babbele sie net! So viele Bischer?“
„Ja, da muß ich überall meinen Namen reinschreiben, ich muß sie signieren. Das sind 500 Stück.“
„Ja, mache sie des mol! Des is wischtisch! Mein Verstorbener hat aach immer sei Name in die Bischer geschriwwe, da klaut sie dann keiner.“
„Ich schreibe ja nicht meinen Namen da rein, damit sie mir niemand klaut, sondern weil meine Leser gerne ein Buch mit meiner Unterschrift hätten.“
„Hauptsach‘ die klaut kääner!“
„Mir tut schon das Handgelenk weh, so viele habe ich unterschrieben. Hoffentlich ist das keine Sehnenscheidenentzündung.“
„Ah nä, gehen’se weg! Nä, Scheidensehnenentzündung is schlimmer!“
Ich habe glücklicherweise keine Entzündung bekommen. Nur meine Synapsen brennen etwas. Aber das liegt nicht am vorweihnachtlichen Signierstreß, sondern an der in mir lodernden Ruckdäschl-Angst.
Was da noch alles auf uns zu kommt!
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: Antonia, Büser, Sandy
Mir brennen die Synapsen vor allem von der Vorstellung, woher und wie überhaupt und erst recht DASS Frau Scheronidäschl Scheidensehnenentzündungen kennt…
Muss jetzt einfach raus: danke für die Freude-macht-Freude-Geschichte!
Dankesehr! (Ich habe übrigens auch eine Kommentarfunktion 😉 )
*g*
Das hat was von Stephen King: „Manchmal kommen sie wieder“ 🙂
Ich vermute mal stark, dass so gut wie jeder Ort so ein „Gewächs“ wie diese Dame hat. 😉
Aber hab Mitleid mit ihr: anscheinend ist ihr eigenes Leben so langweilig, dass sie sich viel lieber für das fremder Menschen interessiert! 😉
Im Internet wird sowas ein Troll. Anderes Verhalten, vergleichbarer Hintergrund.
Meintest Du nicht: Anderer Hintergrund, gleiches Verhalten? Ach, auch egal.
😉 *Kopfkino an* Gevatterin Ruckdäschl erinnert mich doch sehr an meine Oma, *Gott hab sie selig*, die zu Beerdigungen von Menschen, die in unserer Straße wohnten ging, um zu schauen, ob die Trauergesellschaft auch wirklich traurig guckt und ob sich daraus ableiten lässt, wer die/den Verstorbene(n) mochte, oder nicht.:-)
Ich hasse solche Nachbarinnen.
Danke. Verstanden. 😉
Ich fühle mich da spontan an ein Hörspiel erinnert…
Nachbarin: „Ist das etwa Staub da auf dem Regal?!?“
Protagonist: „Nein, das sind Bücher.“
Danke für den Lacher des Tages.