Allgemein

Vandalismus der anderen Art

Man liest es ja immer wieder: Vandalen, Übermütige, Pubertierende, Problembehaftete, Besoffene, Bösartige und Neider neigen manchmal dazu, anderen Menschen etwas kaputtzumachen oder wegzunehmen und besonders fiese Exemplare scheuen nichtmal vor den liebevoll gepflegten Grabstätten auf den Friedhöfen zurück.

Sind es ganze Grabreihen oder Gräberfelder, die da verwüstet werden, spricht die Polizei oft von Friedhofsschändung und man kann wohl in erster Linie jugendlichen Übermut für so etwas verantwortlich machen. Ganz selten sind es politische Motive, wie sie zum Beispiel im Falle jüdischer Friedhöfe manchmal zugrunde liegen.

Konzentriert sich die blinde Zerstörungswut hingegen immer wieder auf ein und dasselbe Grab, dann darf man fast davon ausgehen, daß es da draußen irgendjemanden gibt, der speziell gegen diesen einen dort Bestatteten oder seine Angehörigen etwas im Schilde führt.

Werbung

Auf unserem Friedhof hier in der Nähe wurde seit Monaten das Grab eines Kindes zum Ziel solcher Attacken. Schon sechs Jahre ist es her, daß der kleine Christian dort im Alter von nur 15 Monaten bestattet werden mußte. Mutter und Großmutter pflegten das Grab besonders liebevoll und wenn ich ganz ehrlich bin, mir war besonders diese Grabstelle manchmal zu bunt und überladen, aber bitteschön: Jedem das Seine.(1)

Daß auf Kindergräbern manchmal Spielzeuge, Babyschuhe oder Kuscheltiere liegen, das ist ja nichts Ungewöhnliches, aber auf Christians Grab häuften sich Gummienten, Stofftiere und Holzbausteine und es drehte sich ein wenigstens 50 cm großes Riesenrad aus Plastik im Wind. Vom Grab selbst sah man eigentlich nichts mehr und man mußte schon ganz genau hinschauen, um erkennen zu können, daß es da auch noch einen Grabstein mit einem in einen kleinen Metallrahmen eingelassenen Foto des Kindes gab.

Immer wieder wurde das Spielzeug erneuert und man sah auch gelegentlich kleine Spruchbänder oder Zettelchen mit den Grüßen der Mutter an ihr totes Kind.

Mir ist es vergönnt, und dafür bin ich Gott und der modernen Medizin sehr dankbar, kerngesunde Kinder zu haben, wenngleich wir in den ersten Jahren um unsere Kleinste sehr bangen mußten, weil sie schon als Kleinkind am offenen Herzen operiert werden mußte.
Jeder der Kinder hat, wird es den Müttern und Vätern gestorbener Kinder wenigstens ansatzweise nachfühlen können, wie sie sich fühlen. Es liegt mir also völlig fern, mich über die Trauer dieser Eltern lustig zu machen oder sie in ein -wie auch immer geartetes- Licht zu rücken.
Jedoch denke ich manchmal: Nu isses genug.
Erst neulich veröffentlichte ich die Zuschrift einer Mutter in der Zusammenstellung der kuriosesten Zuschriften des Jahres 2008. Das hat mir recht viele beleidigte Mails von Betroffenen eingebracht.
Ich hätte die „Sternenkinder“ und „Sternenmütter“ zutiefst beleidigt und mich über eine „arme Frau“ lustig gemacht.
Ja, wo leben wir denn?
Es ging in dieser Zuschrift um eine Frau, die vor einer ganzen Generation ein Kind verloren hat, was sicherlich sehr bedauerlich ist, die sich aber in der Folge jeder weiteren Schwangerschaft (und wer weiß was sonst noch) enthalten hat, um sich Andenken und Trauer an dieses längst vergangene Wesen zu bewahren. Hätten unsere Vorfahren alle angesichts der früher hohen Kindersterblichkeit und anläßlich eines Kindstodes jeglicher weiterer Reproduktionsversuche enthalten, wäre unsere Welt irgendwann einmal voll von ewig trauernden Alten gewesen und es gäbe uns heute überhaupt nicht.
Ja direkt in meiner Vorfahrenlinie und gar nicht mal zeitlich weit entfernt, sind meiner Großmutter innert einer Woche gleich zwei Kinder an Scharlach gestorben und hätte sie danach nicht noch vier weitere Kinder zur Welt gebracht, hätte es meine Mutter nie gegeben und ich wäre heute nicht da.

Ich habe große Sympathie und Empathie für die Mütter und Väter, die ein Kind bestatten müssen, jedoch sollte man irgendwann auch mal wieder auf ein normales Level zurück- bzw. herunterkommen. Das Leben bietet so viele Aspekte und Anreize, daß es zu schade und wertvoll ist, es sich über Jahrzehnte mit immer wieder aufgewärmter Trauer zu versauern und zu verschwärzen. Man muß auch loslassen können.

Dieses Loslassen fiel aber in dem hier zu erzählenden Fall, zu dem ich nach diesem Exkurs wieder zurückkehren möchte, der betroffenen Mutter äußerst schwer. Ja man kann sagen, daß sie es bis heute nicht geschafft hat.
Zuerst kam mir vor etwa vier Jahren zu Ohren, daß sich die Mutter des verstorbenen Christian mit ihrer Schwiegermutter, der Großmutter des Kindes, am Grab schwer zerstritten hat. Die Oma hatte auf dem Grab mal Ordnung gemacht, neues Spielzeug angebracht und altes, längst sonnenverschossenes Zeug entsorgt. Hierüber sind die beiden Frauen so heftig in Streit geraten, daß Corinna, so heißt die Christians Mutter, es ihrer Schwiegermutter sogar untersagen ließ, an diesem Grab pflegend tätig zu werden.

Immer mal wieder kam Corinna zu uns ins Haus, um verschiedene Artikel, wie zum Beispiel kleine weiße Holzkreuze, batteriebetriebene Grablichter und Dekorationsartikel zu kaufen. Mir erschien es aber schon nach kurzer Zeit so, als ob Corinna das nur als Vorwand benutzte, um sich unsere Zeit und Aufmerksamkeit zu erkaufen. Mein Gott, was macht man in einem solchen Fall? Ein solches Bedürfnis haben viele Angehörige, weil sie denken, daß ja niemand mehr Verständnis für ihre besondere Lage haben muß, als ein Bestatter. Und in gewisser Weise haben sie ja auch Recht.
Aber normalerweise ist das so, daß dann irgendwann der Punkt kommt, an dem die Sache bewältigt und die erste Phase der Trauer überwunden ist, dann lassen diese Besuche nach oder hören ganz auf.
Manchmal muß man den Leuten ein wenig auf die Sprünge helfen und wenn einer so gar nicht über seinen schweren Verlust hinwegkommt, dann vermitteln wir Trauergruppen, seelsorgerische Gespräche oder verweisen an geeignete Therapeuten. Ja, einmal in der Woche findet gar bei uns im Haus ein Trauergesprächskreis statt, es gibt also eine ganze Reihe von Angeboten, die einem dabei helfen können, die Situation zu bewältigen.
Kommt einer aber gar nicht mehr in die Pötte, ja dann gehört er in die fach- und sachkundigen Hände eines psychologisch geschulten Behandlers.
Ich sage immer: Das ist wie beim Autofahren, der Rückspiegel ist klein und wird nur gelegentlich benutzt, die Hauptblickrichtung sollte durch die große Windschutzscheibe nach vorne gerichtet sein.
Wer sich nur noch mit dem kleinen Rückspiegel beschäftigt und das Vorne, das Kommende außer Acht läßt, der wird im Leben verunglücken.

Auf und an Christians Grab kam es also seit Monaten zu Beschädigungen. Spielzeug wurde zerschlagen, Pflanzen zertreten und oft wurde einfach alles verwüstet und weitherum verstreut.
Corinna hatte mehrfach die Polizei aufgesucht, Anzeige gegen Unbekannt erstattet, jedoch muß man sagen, daß die Beamten irgendwann die Meldungen nur noch routinemäßig aufnahmen, denn was sollten sie schon tun? Eine Weile hatte man nachts ein paarmal einen Streifenwagen am Friedhof vorbeigeschickt und die Beamten haben angeblich auch mal mit der Lampe über den Friedhof geleuchtet und kontrolliert ob die Tore verschlossen sind, alles ohne Ergebnis.
So leid ihnen die betroffene Mutter tat, es gab wohl Bedeutenderes für die Polizei zu tun, als einen Rund-um-die-Uhr-Polizeischutz für ein Kindergrab bereitzustellen.
Bald schon kümmerte sich niemand mehr wirklich um den „Fall“.

Letzte Woche aber fiel dann doch einer zufällig vorbeikommenden Streife das flackernde Licht einer Taschenlampe auf dem Friedhof auf und die Beamten verließen ihr warmes Gefährt um nach dem Rechten zu sehen. Am Grab trafen sie eine Person an, die dabei war, die liebevoll aufgebauten Spielzeuge zu zerstreuen und Plastikblumen zu zerreißen. Die Person wurde festgenommen und auf die Wache gebracht.

Na, kommt schon jemand drauf?
Es war Corinna, die da aufgegriffen worden war. Offenbar litt sie erheblich darunter, daß sie als Einzige noch die Trauer für ihr verstorbenes Kind bewahrte und sich sonst niemand mehr um das Kind, das Grab und vor allem um sie scherte. Man nimmt an, daß die Mutter auf diese Weise eine Art Hilferuf ausgesandt hat, um auf sich und ihre Lage hinzuweisen.
Ich kann nur hoffen, daß Corinna nun den Schritt packt und einen erfahrenen Therapeuten aufsucht.

(1) (Für Nieten- und Popelzähler: In meinem derben Kohlenpottdeutsch steht ‚jedem das Seine‘ für ‚jedem so wie es ihm gefällt‘.)

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#anderen #vandalismus

Lesezeit ca.: 10 Minuten | Tippfehler melden | Revision:


Hilfeaufruf vom Bestatterweblog

Das Bestatterweblog leistet wertvolle Arbeit und bietet gute Unterhaltung. Heute bitte ich um Deine Hilfe. Die Kosten für das Blog betragen 2025 voraussichtlich 21.840 €. Das Blog ist frei von Google- oder Amazon-Werbung. Bitte beschenke mich doch mit einer Spende, damit das Bestatterweblog auch weiterhin kosten- und werbefrei bleiben kann. Vielen Dank!




Lesen Sie doch auch:


(©si)