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Was neues Altes

Mehr als einen Bleistift und ein Stück Papier brauche ich nicht, um ein paar Texte zu Papier zu bringen. So habe ich das immer schon gehalten, auch wenn ich heute eher meine Ideen, Gedanken und Erlebtes in einen PC eintippe. Aber neben meinem Kopf als, mich selbst erstaunendes Archiv, sind es eben die Notizbücher und Zettelsammlungen aus Jahrzehnten, die mir den Stoff liefern.

Gestern schrieb ich wieder etwas auf und mein Sohn nervte mich zum wiederholten Male mit seinem 21.-Jahrhundert-Grinsen, weil er das Schreiben, außer zu schulischen Zwecken, für etwas völlig Überkommenes hält, daß ich beschloss, ihm und seiner Schwester eine kleine Lektion in Sachen nichtelektronische Lebensweise zu erteilen.

„Kommt mal mit!“ kommandierte ich die beiden hinauf auf den Dachboden und machte absichtlich das elektrische Licht da oben nicht an.

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„Uh, willst Du uns mal wieder erschrecken? Boah, jetzt hab‘ ich aber soooo Angst!“ spöttelte der Große und die Kleine machte große Augen, sie ist nämlich ein äußerst empfindsames, ja man könnte sagen, empfindliches Kind. Gruselige Filme, laute Geräusche, schlechte Gerüche und auch schlechte Stimmung nimmt sie wesentlich stärker wahr als andere. Manchmal ist das ein Segen, manchmal aber auch Fluch.

„Nein, keine Bange, ich will Euch nur was zeigen, was von früher“, sagte ich und bugsierte meine beiden Hübschen soweit wie das Licht aus dem einen kleinen Dachlukenfenster reicht. Am Haken am Balken hängt eine Petroleumlampe und ich hatte den Exkurs in die Vergangenheit so sorgfältig vorbereitet, daß diese mit Lampenöl gefüllt und brennbereit war.
Im flackerigen Schein der Lampe führte ich die Kinder weiter in die Tiefen des Dachbodens und bedeutete ihnen, sich auf zwei Holzkisten niederzusetzen. Die beiden Kisten sind olivgrün, aus Holz und haben graue Deckel, die mit schwarzer Schablonenschrift bemalt sind. „US-Army Sugar“ steht darauf, sie dienten also vor mehr als 60 Jahren zum Transport von Zucker und haben danach schon wer weiß was alles beinhaltet. Heute sind da Zeitungen und Zeitschriften aus der Hitler-Zeit drin, die ich irgendwann mal beim Aufräumen gefunden habe.

Brav nahmen die Kinder Platz und die anfängliche Haltung „was will der Alte denn nun schon wieder“ war gespannter Neugierde gewichen.
Die Lampe hängte ich an einen Deckenbalken und zog aus dem Dunkel hinten rechts einen Tisch weiter hervor, auf dem sich unter einer alten Plane, aber so gut vor Staub und dem Zahn der Zeit geschützt, das Objekt unseres Anschauungsunterrichts befand. Gespannt schauten die Kinder und beobachteten jede meiner Bewegungen, doch bevor ich die Plane entfernte, holte ich noch eine andere Kiste, an der eben besagter Zahn der Zeit außen schon kräftig genagt hat, die aber innen noch dicht und trocken ist.

„So, jetzt passt mal auf, Ihr kleinen MP3-verwöhnten Elektronikblagen, jetzt zeige ich Euch mal, wie das früher war.“

Mit einer durchaus als galant und schwungvoll zu bezeichnenden Handbewegung zog ich die Plane weg und präsentierte meinen Kindern stolz, was ich da oben schon seit Ewigkeiten hüte und mir nur vielleicht einmal im Jahr ganz alleine und ganz für mich zu Gemüte führe: Mein altes Grammophon.

„Was ist das denn?“ fragte mein Sohn erstaunt und meine Tochter, ganz die Mutter, klugscheißerte sogleich: „So’ne Art Telefon glaube ich!“

„Nichts da, das ist kein Telefon, das ist ein Grammophon“, erklärte ich und blickte in rat- und verständnislose Gesichter. Das kommt davon, wenn man nur Zeichentrickfilme guckt!

„Stellt Euch vor, wir könnten eine Zeitreise machen, in eine Zeit noch vor dem Zweiten Weltkrieg, als meine Großeltern noch lebten und als die Leute noch keinen elektrischen Strom in ihren Häusern hatten. In dieser Zeit wollten die Menschen aber auch gerne Musik hören und wenn sie das tun wollten, ja da konnten sie entweder selbst singen oder musizieren oder sie mußten irgendwohin gehen, wo eine Kapelle spielte oder so. Manche hatten auch mechanische Musikinstrumente, aber die waren so teuer, daß sie fast nur in Wirtshäusern oder auf Jahrmärkten zu sehen waren.“

„Warum nimmt man kein Radio?“ fragt mein Sohn, doch die kleine Klugscheißerin von Schwester würde ja nicht so plossiv klugscheißern, hätte sie nicht meist Recht und würde sie nicht auch in den meisten Fällen etwas Kluges sagen. Und so erklärte sie ihm, daß auch Radios meist was mit Strom zu tun haben und daß er ein Doofmann sei.

Dann steckte ich den Trichter auf das Grammophon, setzte eine neue Nadel ein und zog das Uhrwerk langsam auf. Zwanzig Mal muß man die Kurbel drehen, dann hat die Feder genug Kraft für eine Plattenseite gespeichert. Die Platten hatte ich Tag vorher sorgsam gereinigt und auch dem Grammophon mal wieder etwas Öl und Fett gegönnt. Für diese Vorführung hatte ich mir Richard Tauber ausgesucht, der in einer Aufnahme von 1939 „Lorelei“ singt.

Allein schon die Vorbereitungen faszinierten meine Kinder, eine Schellackplatte hatten sie noch nie gesehen und andächtig strichen ihre Fingerkuppen vorsichtig über die Rillen, während ich ihnen erklärte, wie man so eine Schallplatte macht, wie man die Stimme auf die Platte bekommt und wie jetzt gleich das Wunderwerk des Grammophons funktionieren würde.
Dann legte ich die Platte auf, setzte die Nadel vorsichtig in die Rille und löste die Tellerbremse des alten Apparates.

Vor allem waren die Kinder erstaunt, wie laut so ein Grammophon ist und es war in erster Linie mein Sohn, der an einen miesen Trick glaubte und standfest behauptete, so etwas könne ohne Kabel und Batterien gar nicht funktionieren. Aber erstaunlicherweise wurden die Kinder leiser und andächtiger und noch erstaunter war ich, daß sie bezüglich der Stimme Richard Taubers kein Wort verloren, hören sie doch sonst ganz andere Sachen und verfluchen ihren Opa, der in seinem Auto werksmäßig den Volksmusiksender eingestellt hat und sich nicht traut den zu verstellen, weil sonst die Elektronik vom Auto kaputtgeht…

Die nächste Platte, die ich auflegte heißt „Morgen“ und hat unter anderem folgenden Text:

Und morgen wird die Sonne wieder scheinen,
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die ]1, sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde . . .

Und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes grosses Schweigen.

Ohne Strom, ohne Elektronik, keine Lampen, keine Kabel, alles analog, altmodisch und nur angetrieben von einer kleinen Kurbel und einem Federwerk.

Ich erzählte meinen Kindern von den langen Bombennächten, wie die Menschen in den Kellern ausharrten und voller Angst und Verzweiflung waren. Selbst habe ich das nicht miterlebt, aber ich hatte eine Mutter, die sehr anschaulich erzählen konnte und die mir auch eines Tages erzählte, so wie ich es jetzt meinen Kindern erzähle, was so ein Lied, so eine Textzeile im Herzen eines ängstlichen Menschen, der nicht weiß was noch kommen wird, auslösen kann: „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen!“

„Da saßen wir, dicht aneinandergedrängt und lauschten auf das Brummen der Motoren der Bomber“, hatte meine Mutter erzählt, „würden die Bomben dieses Mal unser Haus treffen? Was wird mit meinen Verwandten und Freunden, werden sie es alle überleben? Es war stickig, dunkel, wir alle hatten einen Kloß im Hals und nur der alte Nowak fehlte, der ging nie in den Keller, blieb immer oben in seiner Wohnung und an einem Tag, als es ganz besonders schlimm war, als die Bomben so nah einschlugen, wie noch nie zuvor, als wir die Erschütterungen durch die Erde spürten, da kommt auf einmal von oben aus Nowaks Wohnung dieses Lied vom Grammophon „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen“. Weißt Du, da haben wir uns alle an den Händen gefasst und geweint, alle!“

Krch, krach, krch, macht die Nadel auf der letzten Rille der Platte und ich stelle das Grammophon ab.
Meine Kleine schnieft, aber sie strahlt auch.

Platte um Platte lasse ich die Jahre Revue passieren, spiele alte Volkslieder aber auch die Schlager der 50er Jahre. Peter Alexander weiß etwas über die langen Beine der Dolores und die schönen Beine der Elisabeth, Caterina Valente singt in einer Sprache, die entfernt an Portugiesisch erinnert und schließlich finde ich auch noch ein paar meiner alten Jazz- und Dixie-Platten.

Während ich meinen Kindern die Platten nach und nach vorspiele, zwischendurch brav Nadeln wechsle und immer wieder die Kurbel drehe, kommen in mir die Erinnerungen hoch, wie ich als kleiner Junge vor der Musiktruhe meiner Eltern gesessen habe und diese alten Platten immer und immer wieder abspielte. Ganz besonders in Erinnerung geblieben sind mir die langen Nachmittage der Vorweihnachtszeit, wenn ich die sieben oder achte Weihnachtsplatten spielen durfte. Aus der Küche drang der Geruch von frischem Spritzgebäck und Lebkuchen ins Wohnzimmer und auf dem Plattenteller drehten sich die Schätze aus schwarzem Schellack.

Die Eltern gibt es nicht mehr, die Musiktruhe sowieso nicht, aber die Musik ist immer noch da und mit ihr die Erinnerung an liebe Menschen und eine längst vergangene Zeit…

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(©si)