Ich schlafe die ganze Nacht sehr schlecht, stehe um 4 Uhr auf und mache mir einen Kaffee. Es hat keinen Zweck, mir geht Leonie nicht aus dem Kopf und ich hoffe, daß an diesem Tag alles in Ordnung kommen wird.
Einerseits habe ich einen unterschriebenen Auftrag vom leiblichen Vater auf dem Tisch und andererseits die Wünsche der Mutter und ihres Mannes entgegen genommen.
Völlig ungewohnt treffen meine Mitarbeiter an diesem Tag auf einen kurz angebundenen und muffeligen Chef. „Au weh, der Chef ist wohl mit dem linken Bein aufgestanden“, müssen sie wohl gesagt haben und ich kann es verstehen.
Manni quatscht nicht viel herum, er steht ab kurz nach sieben vor dem Krematorium um den ersten Arbeiter abzufangen und alles zu versuchen, Leonie da erst einmal wieder heraus zu holen.
Ich bin nervös und ertappe mich dabei, wie ich die ganze Zeit nervös mit den Fingern an irgendwelchen Gegenständen herum spiele.
Endlich kommt der erlösende Anruf, Manni hat den Sarg mit dem Kind wieder eingeladen und ist auf dem Weg zurück ins Bestattungshaus. Euphorie macht sich bei mir breit und wenn mich in diesem Moment jemand nach einer Lohnerhöhung, Beförderung oder bezahltem Sonderurlaub gefragt hätte, ich hätte vor lauter Freude und vor allem Erleichterung sofort zugestimmt.
Glücklicherweise fragt mich aber keiner.
Als Manni und ein Kollege den Sarg ausgeladen und im Versorgungsrum geöffnet haben, erwartet uns eine unangenehme Überraschung. In Erwartung des Amtsarztes haben die Männer vom Krematorium dem Mädchen das weiße Totenhemdchen komplett vom Leib gezogen, sodaß es jetzt auf links über dem Gesicht hängt. Außerdem haben sie das Kind auf die Seite gerollt.
Wir bringen das recht schnell wieder in Ordnung und Manni kämmt der Kleinen noch die Haare und pudert sie etwas.
Anschließend bringen wir Leonie wieder in einen der Aufbahrungsräume und schalten die Kühlanlage ein.
Es ist ja klar, es vergeht keine Stunde, da steht Herr Leuschner auf der Matte und will wissen wann die Einäscherung stattfindet.
Ich schwanke hin und her ob ich ihn beschwindeln soll und so tun soll als würde alles den von ihm gewünschten Gang gehen oder ob ich ihn damit konfrontiere, daß wir seinen Auftrag im Moment mit Füßen treten.
Lange muß ich nicht überlegen und entscheide mich dafür, ihm die Wahrheit zu sagen, schließlich muß er ja sowieso damit rechnen, daß seine Frau ebenfalls ihre Wünsche äußert und andererseits haben wir ja auch Frau Leuschner gesagt, daß er bei uns war.
Der Mann reagiert zunächst sprachlos, dann nickt er mehrmals und sagt: „Gut, gut, gut…“
Dann läuft er nervös auf und ab und knirscht hörbar mit den Zähnen bis er sagt: „Okay, Sie können ja nichts dafür, daß sich diese Verrückte da einmischt, aber Sie haben meinen Auftrag angenommen, also erfüllen Sie auch Ihre vertraglichen Pflichten!“
Es fällt mir nicht schwer, sehr überzeugend zu sein und auch aufgeregte und vor lauter Blutdruck pumpende Menschen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen, aber bei dem Kerl versagen meine fast schon magischen Kräfte der Diplomatie und Deeskalation.
Während ich noch auf ihn einrede unterbricht er mich rüde und brüllt durch die Eingangshalle: „Wenn Sie nicht wollen, daß ich in einer Stunde mit einer einstweiligen Verfügung hier stehe und ein halbes Dutzend Polizisten im Schlepptau habe, dann tun Sie gefälligst was ich sage. Sie bringen sofort Leonie ins Krematorium und veranlassen die Urnenbestattung. Ich werde in einer halben Stunde beim Krematorium und dem Friedhofsamt anrufen und wenn ich dann nicht höre, daß alles läuft, wie ich es bestellt habe, dann gnade Ihnen Gott!“
Wütend stampft er mit dem Fuß auf, schüttelt eine Faust in meine Richtung und dreht sich mit wehender Jacke um. Als er die große Eingangstür erreicht, die seit einigen Wochen endlich auch elektrisch aufschwingt, weil wir so viele Rollstuhlfahrer und Rollwägelchen-Renter unter den Trauergästen haben, stößt er fast mit seiner Ex-Frau und deren Ehemann, Herrn Wittrock, zusammen.
Wittrock kennt Leuschner gar nicht, das merke ich daran, daß er ihn höflich begrüßt und beinahe unbehelligt an ihm vorbei gegangen wäre. Erst als er merkt, daß seine Frau wie angewurzelt stehen bleibt, dreht er sich zu ihr um und sieht ihr Gesicht, das Schrecken, Verärgerung und viel Leid auf einmal ausdrückt.
„Was willst Du hier?“ fragt Leuschner und sie stößt ihn, der einen Schritt auf sie zu gegangen war, mit beiden Händen von sich weg und ruft: „Warum mischt Du Dich in Leonies Beerdigung ein? Was soll das denn?“
„Unterhaltet Euch mit dem da“, sagt Leuschner, deutet mit dem Daumen über die Schulter auf mich und eine Sekunde später ist er verschwunden.
„Was war das denn für ein Auftritt?“ fragt mich Herr Wittrock kurz darauf, als wir in der Halle auf der bequemen Ledergarnitur sitzen. „Das war ER“, sagte Frau Leuschner: „Das war der Leuschner.“
„So ein Arsch“, meint Wittrock und schüttelt den Kopf. „Was ist denn nun Sache?“
„Was soll ich sagen?“, fange ich an: „Ich weiß auch nicht was wir machen sollen. Wer hat denn eigentlich das Sorgerecht?“
„Ich, das habe ich“, sagt Leonies Mutter, die heute erstaunlich gefaßt wirkt. „Damals vor Gericht, das war so eine Sache. Eigentlich tun sich die Familienrichter ja schwer damit, nur einem Elternteil das Sorgerecht zuzusprechen. Früher war das mal anders, aber heute meinen die, jedes Kind brauche einen Vater und eine Mutter und da es so etwas wie ein Schuldprinzip bei den Scheidungen ja nicht mehr gibt, bekommen immer beide das Sorgerecht gemeinsam. Aber ich habe mich so auf die Hinterbeine gestellt und nachgewiesen, daß Leuschner sich seit der Trennung über ein Jahr lang nicht bei uns gemeldet und Leonie besucht hat, und da hat der Richter mir das alleinige Sorgerecht gegeben.“
Gerade will sich Erleichterung in mir breit machen, da schüttelt Wittrock den Kopf und sagt: „Maria, Du irrst Dich. Sei mir nicht böse, aber ich habe die Akten und das Scheidungsurteil ganz genau durchgelesen. Du wirfst da ein paar Sachen durcheinander. Das Sorgerecht habt ihr beide zusammen und könnt nur gemeinsam über Leonie bestimmen. Leuschner hat nur kein Aufenthaltsbestimmungsrecht. Du allein konntest entscheiden wo Leonie lebt und brauchtest seine Genehmigung nicht falls Du mal weggezogen wärst. Und der Richter hat keinerlei Absprachen und Verfügungen wegen des Besuchsrechts getroffen. Da hast Du alle Karten in der Hand, aber nicht beim Sorgerecht insgesamt.“
Frau Leuschner zuckt nur mit den Achseln und meint mit betrübter Stimme: „Ich kenne mich ja nicht so aus und war nur froh, daß der nichts bestimmen durfte. Ich habe den nie wegen irgendetwas gefragt. Der hat seinen Unterhalt überwiesen und wir haben in all den Jahren dreimal telefoniert, weil das Geld mal nicht gekommen ist.“
Wittrock seufzt und sagt: „Ja, ja, der Unterhalt. Kaum die Hälfte von dem, was er hätte zahlen müssen, hat er überwiesen. Aber ehrlich gesagt, war mir das egal, ich verdiene genug. Eigentlich hätten wir den Unterhalt gar nicht gebraucht, aber wenn ich schon sein Kind groß ziehe, kann er wenigstens finanziell etwas dazu beisteuern. Zu einfach sollte er es auch nicht haben. Der hat sich aus jeglicher Verantwortung herausgestohlen und nie gemeldet. Wer hat denn alles gemacht? Wer ist nachts raus und hat sie gewickelt, wer war mit ihr in Urlaub, wer hat sie in den Kindergarten gebracht und dafür gesorgt daß sie ernährt, gekleidet und versorgt wurde? Der doch nicht! Deshalb bin ich auch Leonies richtiger Vater, da kann der jetzt meinen was er will.“
So gesehen haben die beiden natürlich vollkommen Recht und ich bin sowieso auf ihrer Seite. Mir ist auch nicht klar, was Leuschner dazu bewegt, sich da einzumischen. Sind es wirklich irgendwelche Gefühle, die er für seine Tochter hatte oder was steckt dahinter.
„Nein“, sage ich, „der hat kein Recht sich so zu verhalten. Wenn er denn meint, er müsse da irgendetwas mitbestimmen, dann könnte man sich doch gemeinsam jetzt hier an einen Tisch setzen und alles gemeinsam besprechen, einvernehmlich. Ich bin mir sicher, da würde auch irgendwas Vernünftiges dabei herauskommen. Wir werden eine Lösung finden. Ich weiß noch nicht wie, aber wir werden eine finden.“
Das Ehepaar ist wieder einmal etwas beruhigt und als ich anbiete, daß sie Leonie jetzt besuchen können, will Herr Wittrock sofort zustimmen, Frau Leuschner lehnt aber erschrocken ab.
Die beiden gehen und kurz vor dem Verlassen unseres Hauses sagt Herr Wittrock leise zu mir: „Meine Frau will Leonie bestimmt noch einmal sehen, aber sie braucht noch etwas Zeit.“
Ich sehe den beiden lange nach, während sie die Straße hinuntergehen und schließlich hinter der übernächsten Ecke aus meinem Blick entschwinden.
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Vielleicht ist sie ja gar nicht durch ihre Erkrankung gestorben, sondern der Erzeuger wollte sich die Unterhaltskosten sparen und will durch die Kremierung alle Spuren verwischen.
Klingt wie ein Krimi, aber bin hier ja schon einiges gewohnt 😀
So krass kanns nicht sein, glaube ich. Aber es ist schon heftig, wenn erwachsene Menschen nicht mehr fähig sind, sich normal zu unterhalten. Das Theater ist schon ziemlich unwürdig.
Wie ist bei sowas eigentlich die Rechtslage, ich hätte gedacht, die Mutter hat in dem Fall mehr zu sagen, da sie das Kind ja primär großgezogen hat und dem Vater die Rolle als Zahlmeister gereicht hat.
Ich bin sprachlos. Unglaublich, wie hart manche Leute sein können/sind. Erst zeugt dieser Mann ein Kind, haut ab und jetzt taucht er wieder auf und will dieses Kind ruckzuck unter die Erde bringen…unglaublich. Selbst die Kremierung scheint dem Kerl ja nicht schnell genug zu gehen…ich bin fassungslos. Ich habe schon viel erlebt, aber so etwas boshaftes…schrecklich.
Mir tut die Mutter leid und auch ihr 2. Mann.
Verdächtig ist, dass der leibliche Vater zeitnah vom Tod des Kindes wusste. Wenn da kein Sorgerecht, kein Kümmern, kein nix war, hätte ihn die Mutter wirklich informiert und das Beerdigungsinstitut genannt? Irgendwas ist da faul.
Ich stimme Claudia zu, da ist was faul.
Vielleicht ist ja auch alles ganz anders, und der Erzeuger hat alleiniges Sorgerecht…?
Ja, das der Vater gleich aufgetaucht ist, obwohl er sich ja nie um sie gekümmert hat, finde ich auch merkwürdig.
Wenngleich auch diese Beerdigungsart von dem VAter recht merkwürdig ist. Es ist fast wie ein vernichten.
Hm, finde ich auch merkwürdig, dass der leiblicher Vater so gut informiert war. Vielleicht ist aber da die Tatsache, dass die Tochter Mukoviszidose hatte, von Bedeutung. Das ist eine schwere, chronische Erkrankung, und wenn die Lungenfunktion immer schwächer wird, wird man merken, wie sich der Tod schleichend ankündigt. Von daher könnte es evtl. sein, dass Verwandte den leiblichen Vater informiert hatten?
Aber mal sehn, was No. 5 an weiteren Ent- und Verwicklungen (und selbstverständlich weiteren Cliffhangern) bringen wird…