Geschichten

Der doofe Hannes

Den doofen Hannes kannte jeder bei uns im Dorf.
Und wenn ich von einem Dorf schreibe, so handelt es sich in Wirklichkeit gar nicht um ein Dorf, sondern um einen Stadtteil einer größeren Stadt, der schon vor 90 Jahren eingemeindet wurde. Seine Selbständigkeit indes hat man sich innerlich bewahrt, indem man auch weiterhin vom Dorf spricht und sich in die Eingemeindungsurkunde hat eintragen lassen, daß die Eingemeindung nur unter der Bedingung erfolgen kann, daß eine ständige Straßenbahnanbindung gewährleistet ist und daß jährlich der städtische Besamungseber durchs Dorf getrieben wird, um die Säue zu beglücken.
Nun hat die Zahl der Säue in den letzten 90 Jahren so stark abgenommen, daß der Eber sich wahrscheinlich bei der ergebnislosen Suche nach begattungswilligen Muttertieren eine Hodenverhärtung und abgelaufene Hufe zuziehen würde, weshalb man auf diesen Teil der damaligen Abmachung heutzutage verzichtet. Indes fährt die Bahn immer brav hin und her und trägt nun ihrerseits dazu bei, daß begattungswillige Abkömmlinge der Dorfbevölkerung männlichen, weiblichen und beiderlei Geschlechts bequem von hier nach da gelangen können, um auf viele Arten Beglückung zu finden.

Also, in Wirklichkeit ist das gar kein Dorf mehr und in Wirklichkeit war der Hannes auch nicht doof, viele Leute nannte ihn hinter vorgehaltener Hand nur so.
Hannes, oder Hans, wie er eigentlich hieß, war körperlich und geistig behindert. Obwohl er damals schon 15 Jahre alt war, hatte er das Gemüt und den Verstand eines vielleicht vier- oder fünfjährigen Kindes. Doch war dieses Gemüt freundlich und Hannes war jedermann in kindlicher Herzlichkeit zugewandt und winkte alle Leuten immer lachend zu, wenn er auf seinem dreirädrigen, grünen Fahrrad in beinahe selbstmörderischem Zickzackkurs durch die Straßen strampelte.

Richtig laufen konnte Hannes nämlich nicht, seine dürren Beine gehorchten ihm nicht oder waren zu schwach, ihn zu tragen, genau weiß ich das nicht. Man sah ihn immer nur auf seinem Fahrrad und genau mit diesem Fahrrad hätte er mich einen Morgen im Juni beinahe umgefahren, als ich mit der Zeitung unterm Arm und einer Tüte voller Obst den Laden unserer Gemüsefrau verließ.
„Vorsischt, hier kummt der Bulldog!“, rief Hannes und ein schmaler Streifen Speichel lief ihm dabei aus seinem rechten Mundwinkel. Bulldog, das war der Name eines frühen Traktors der Firma Lanz, der hierzulande vor allem bei Dialektsprechern synonym für Trecker aller Art verwendet wird.

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„Mensch Hannes, beinahe hättest Du mich umgefahren“, schimpfte ich scherzend mit dem Jungen: „Du hast aber ein schönes Fahrrad.“

„Des isch ä Bulldog, isch liebe Bulldogs, fahr immer Bulldog, den ganzen Tag.“

„Ja, Hannes, bist Du denn schon mal mit einem echten Bulldog gefahren?“, erkundigte ich mich.

„Nee, will isch aber!“, sagte er, strahlte mich an und entblößte seine schiefen Zähne, hinter denen er etwas unkontrolliert seine Zunge hin und her bewegte.

Ich streichelte dem Jungen über den Kopf und sagte: „Weißt Du was, ich ruf‘ mal einen Freund an, der so einen echten Lanz-Bulldog hat und dann fahren wir mal Traktor. Okay?“

„Aber der muß grün sei‘. Weischt du, Grün is‘ nääämisch dem Hans seine Lieblingsfarbe!“

Ich nickte und nahm mir fest vor, gleich vom Büro aus bei Spargel-Hossing anzurufen. Michel Hossing schuldete mir noch einen Gefallen und ich war mir sicher, daß er Freude daran hätte, wenn ich mit Hannes mal vorbeikommen und ein paar Runden auf dem neuen großen Traktor mit ihm drehen würde.

Aber wie das eben so ist, bis ich zu Hause im Büro war, hatte ich Hannes schon wieder vergessen, Frau Büser bestürmte mich gleich mit einem Haufen Fragen und in einem der Beratungszimmer wartete schon eine Familie wegen einer Beratung.

Irgendwann, vielleicht so drei Wochen später, fiel mir bei einer Fahrt durch die Stadt einer dieser Männer auf, die als Hobby einen alten Traktor durch die Gegend fahren und da fiel mir auch Hannes wieder ein und ich bekam auf der Stelle ein schlechtes Gewissen. Mensch, da hätte ich mich doch schon längst drum kümmern können! Na ja, beruhigte ich mich selbst, der Hannes wird das sicherlich inzwischen längst vergessen haben.

Aber da hatte ich mich getäuscht.

Etwa so Ende Juli, Anfang August, ich kam gerade vom Morgenspaziergang mit den Hunden zurück, stand eines Morgens eine Frau vor dem Bestattungshaus und an den Unterlagen in ihrer Hand erkannte ich sofort, daß sie einen Sterbefall anmelden wollte.
Wenig später saß ich ihr im Beratungszimmer gegenüber und die sehr gefaßt wirkende Frau schob mir ihre Unterlagen über den Tisch. Hans Marquardt war gestorben, ihr Sohn, und erst nach einer ganzen Weile begriff ich, daß es sich um den Hannes handelte.
Und in genau der selben Sekunde fiel mir ein, daß ich mein Versprechen nicht eingelöst hatte. Scheiße!
Ich machte mir große Vorwürfe, denn es wäre ein Leichtes gewesen, eben mal bei Bauer Hossing anzurufen, aber klar, mir war vieles anderes wichtiger gewesen… Ich hätte mich ohrfeigen können, aber nun war es zu spät, dem Jungen seinen Wunsch zu erfüllen.

Eine Erdbestattung wünschte sich Frau Marquardt für ihren Sohn, denn vor drei Jahren erst war die Oma gestorben und in deren Grab sei noch genug Platz.
Beim Aussuchen des Sarges entschied sich Hannes‘ Mutter für einen hellgrauen Sarg und ich hatte das schon notiert, da fiel mir wieder ein, daß Grün doch die Lieblingsfarbe des Jungen war. „Wir hätten da auch noch ein Modell in Grün, das war doch die Lieblingsfarbe Ihres Sohnes, oder?“ Und weil ich sah, daß die Frau nach den Preisschildern schielte, deutete ich zuerst in eine andere Richtung, leitete ihren Blick fehl, schnipste schnell das Schild vom teuren, grünen Sarg zur Seite hinter die Heizung und meinte: „Der grüne Sarg steht hier, der kostet das Gleiche wie der Graue.“

„Och, dann nehme ich den“, sagte die Frau und wir gingen wieder ins Besprechungszimmer. Nein, Hans habe nicht leiden müssen, es sei absehbar gewesen, daß er nicht besonders alt werden würde, eigentlich hätten ihm die Ärzte damals kaum ein paar Monate gegeben. „Aber Hans war für uns immer der Sonnenschein. Immer fröhlich, immer gut gelaunt und so ein lieber Junge. Der hatte so viel Liebe in sich, das hätte für die ganze Welt gereicht. Wenn es mehr von seiner Sorte gäbe, dann hätten wir wahrscheinlich schon längst den Weltfrieden.“

Nun begann sie doch zu weinen und ich setzte mich neben sie und tröstete sie.
Auf einmal sagte sie: „Aber daß Sie das mit der Farbe wissen, ich meine, daß er Grün mochte, das ist erstaunlich. Normalerweise hat sich nie jemand gemerkt, was Hans gesagt hat. Da war ja auch noch dieser Mann, der Hans ’ne Treckerfahrt versprochen hatte. Was meinen Sie, wie oft Hans davon geredet hat. Aber der Mann hat sich nie bei uns gemeldet, so ist daraus leider nie etwas geworden.“

Ich hatte einen Kloß im Hals und mir schossen die Tränen in die Augen. Ich gebe es offen zu, ich hatte nicht den Mut, Frau Marquardt zu sagen, daß ich dieser Mann gewesen bin.

In der darauffolgenden Nacht schlief ich unruhig, träumte von Hans und irgendwann in der Nacht wachte ich schweißgebadet auf. Meine Frau knipste ihre Leselampe an und schimpfte erst, weil ich sie geweckt hatte, doch dann nahm sie mich in den Arm und bat mich, ihr doch zu erzählen, was mich dermaßen umtrieb, daß ich nachts nicht richtig schlafen konnte.
Also erzählte ich ihr von Hans und fing mir auch gleich einen Rüffel ein: „Du Dödel! Warum hast Du dich denn nicht gekümmert? Das hättest Du doch machen können, hast doch sonst für jeden Mist Zeit!“
Dabei hielt und drückte sie mich aber und so konnte ich dann trotzdem einschlafen.

Am nächsten Morgen beim Frühstück hatte sie schon einen Plan und schimpfte liebevoll weiter: „Männer! Typisch Männer! Da muß ich erst kommen und Dir sagen, wie das geht!“

Vier Tage später war Hans‘ Beerdigung. Es waren sehr viele Leute gekommen. Zum einen hatte er eine sehr große Verwandtschaft, zum anderen waren viele behinderte junge Leute mit ihren Eltern da. Ich wußte, daß er zweimal in der Woche in einer sozialen Einrichtung war und dort viele Freunde hatte. Doch daß es so viele würden, damit hatte ich nicht gerechnet.

Alle waren instruiert und fast alle waren dem kurzen Satz auf der Trauerkarte gefolgt. Und so kam es, daß an diesem Freitagmorgen an unserem Bestattungshaus der wohl seltsamste Trauerzug startete, den man im Dorf je gesehen hatte.
Erlaubt war das so zwar nicht, aber es muß auch mal möglich sein, alle Ge- und Verbote mit Mißachtung zu strafen, wenn es darum geht, einem Jungen seinen größten Wunsch zu erfüllen.

Dreizehn grüne Trecker waren gekommen, der größte und neueste von ihnen war der von Spargelbauer Hossing und an dem hing hinten ein grüner Anhänger auf dessen Ladefläche Hans‘ grüner Sarg stand.
Aus Lautsprechern tönte Helge Schneiders „Fitze, fitze, fatze“, das Lieblingslied des Jungen, nicht die schönste Musik, aber irgendwie paßte sie.
Und unter diesen Klängen traf die Traktorenkarawane einige Minuten später am Friedhof ein.

Fast alle Trauergäste hatten etwas Grünes angezogen, der eine eine grüne Hose, die andere ein grünes T-Shirt. Viele winkten mit grünen Tüchern, als Hans auf seinem großen, grünen Bulldog vor der Trauerkapelle vorfuhr.
Gut, er hatte das nicht mehr erleben dürfen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, mein Versäumnis ein kleines Bißchen wieder gut gemacht zu haben. Und vielleicht gibt es irgendwo eine kleine grüne Wolke mit drei Rädern, von der aus Hans uns zugesehen hat, wer weiß das schon?

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(©si)