Menschen

Belästigende Objekte, allen Leuten recht getan…

Die Stadtverwaltung will moderner werden. Bürgernähe und Bürgerservice hat man sich auf die Fahnen geschrieben und ob der ganzen Freundlichkeit vergisst so mancher Bürger, daß er ja eigentlich was von denen will.
Mal so am Rande: Mein Ausweis ist letzte Tage abgelaufen und ich müsste jetzt eigentlich einen neuen beantragen. Aber lieber würde ich bis zum November abwarten, dann gibt es endlich Ausweise im Scheckkartenformat. Ich habe nie verstanden, warum die uns mit einer mittelalterlich-großen Kennkarte ausgestattet haben. Dieses Format bringt doch keinerlei Vorteile.

Gut, ich muß demnächst nach Amerika und brauche sowieso einen Reisepass, also hole ich mir jetzt so einen und im November dann den niedlichen Kleinen.

Aber das erzähle ich nur, weil mir in diesem Zusammenhang aufgefallen ist, daß ich nie aufs Bürgeramt gehe. Vielleicht alle drei Jahre mal, weil eines der Kinder irgendeinen Stempel braucht oder weil es unumgänglich ist.
Aber sonst? Was soll ich da?

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Da wundert es mich also umso mehr, daß manche Leute jede Woche irgendetwas auf dem Amt zu erledigen haben und sich auch noch fürchterlich wichtig vorkommen, wenn sie dort anderthalb Stunden zubringen, um dann eine Rolle kostenloser Müllbeutel in Empfang nehmen zu dürfen.
Naja, ist ja ’ne echte Alternative zu unnötig-beim-Arzt-Rumsitzen; kostet wenigstens keine 10 Euro pro Quartal…

Kommen wir aber zum eigentlich Kern der Nudel, sozusagen also zu des Nudels Kern:

Frau Nashian Üsgünül ist Türkin. Sie ist hier geboren und arbeitet bei der Stadtverwaltung, Abteilung Friedhofswesen. Zu ihr kommen die Leute, die ein Grab verlängern lassen wollen oder vorzeitig aufgeben möchten.
Nun hat sich Frau Üsgünül, deren viele Üs nur der türkischen Vokalharmonie geschuldet sind, sich ihr kleines, dringend renovierungsbedürftiges Büro etwas gemütlicher gestaltet. Ein paar Topfpflanzen auf der Fensterbank, einige kleine Kuscheltiere oben auf dem Monitor und ein paar schöne Fotos an den Wänden.

Unter diesen Fotos, die Frau Üsgünül alle selbst geschossen hat, befinden sich auch zwei Bilder, die sie beim Tag der offenen Tür in der hiesigen jüdischen Synagoge aufgenommen hat. Das eine zeigt den Blick in die Kuppel der Synagoge, es ist ein kreisrunder, schwarzer Ausschnitt mit einem beleuchteten Davidstern in der Mitte. Das andere zeigt einen Blick durch eines der Fenster des Gebäudes auf einen Gedenkstein mit einem vielarmigen Leuchter.
Die Aufnahmen sind von Perspektive und Licht her sehr gelungen und Frau Üsgünül erzählte mir einmal, daß man das erste Bild in dieser Form heute gar nicht mehr aufnehmen könne, da inzwischen an genau dieser Stelle ein schwerer Leuchter von der Decke hänge und die Sicht versperre.
Irgendeine religiöse Bedeutung verbindet Frau Üsgünül mit diesen Motiven nicht, sie findet die Bilder einfach nur schön.

Neulich komme ich wieder einmal in das Büro der jungen Frau und schaue mir die neuesten Bilder von ihr an.
Da fällt mir auf, daß die beiden Bilder aus der Synagoge weg sind.

Ja, die habe sie abnehmen müssen. Eine Bürgerin habe sich beschwert, sie empfinde es als Angriff auf ihren Glauben, wenn sie einerseits von einer Frau namens Üsdünül „bedient“ werde und dann auch noch auf die Symbole des muslimischen Glaubens (sic!) schauen müsse. Man lebe doch schließlich im christlichen Abendland…

Normalerweise müsste man dieser Bürgerin einfach einen Eimer klebrigen, grünen Käse über den Kopf schütten, soviel Dummheit und Dreistigkeit müsste unverzüglich bestraft werden. Aber man hat sich ja Freundlichkeit, Bürgernähe und Bürgerfreundlichkeit auf die Fahnen geschrieben und so kroch der Dienststellenleiter zu Kreuze und wies Frau Üsgünül an, die „belästigenden Objekte“ zu entfernen. Hauptsache der Bürger ärgert sich nicht.

Ob sich der Dienststellenleiter die fraglichen Bilder jemals angeschaut hat, das weiß ich nicht. So bleibt auch offen, ob er einfach nur doof ist, ihm das egal ist oder er vielleicht sogar hartnäckig auf der Suche nach einem Fettnäpfchen war.
Jedenfalls scheint es so, als habe er -wie die Bürgerin zuvor ja auch- die Motive für etwas Muslimisches gehalten.

Frau Üsgünül leidet nun nicht besonders unter der Situation, sie hängt die Bilder sowieso alle paar Monate mal um, je nachdem ob sie was Neues zum Aufhängen hat.

Aber alle Beteiligten haben die Rechnung ohne Frau Rosenzweig gemacht. Die ist nämlich Jüdin und fühlt sich, so schreibt sie an den Oberbürgermeister, diskriminiert, verletzt und alles Übel der Welt erinnert, weil diese Symbole entfernt worden seien.

Jetzt hat man ein Problem. Frau Üsgünül druckt sich nämlich die Abzüge ihrer Bilder zu Hause auf einem Fotodrucker selbst aus und solche Ausdrucke verblassen, vergilben und altern. Deshalb hat sie die beiden fraglichen Bilder seinerzeit aus dem Rahmen genommen und in den Reißwolf gesteckt. Sie könne ja jederzeit neue Ausdrucke machen, mag sie wohl gedacht haben.
Pustekuchen! Sie findet die Bilddateien nicht mehr. Ihr Windows-Rechner macht seit Monaten Zicken, ihr Bruder hat von Vista alles wieder auf XP zurückgespielt und irgendwie ist dabei nicht nur ein ganzer Ordner mit Bildern sondern auch ein großes Backup über den Jordan die Wupper gegangen.
Auf jeden Fall sind die beiden Synagogenbilder nun weg.

Ich habe nur beiläufig gesagt: „Wartet ab, bis das der Zentralrat erfährt.“ Damit wollte ich einen Scherz machen, aber der Dienststellenleiter zuckte zusammen, verzog das Gesicht in gespieltem Schmerz und wieselte von dannen und von hinnen.

Jetzt sucht man im Stadtarchiv nach Fotos mit jüdischem Hintergrund, die aber nicht religiös sein dürfen.

Viel Spaß beim Suchen!

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(©si)