Geschichten

Da hatte ich mehr erwartet

Olli Dissert kam eines Tages zu uns ins Bestattungshaus und fragte nach Arbeit. Der 27-Jährige hatte eine geschiedene Frau, seine aktuelle Gattin und insgesamt 4 Kinder zu versorgen. Der schlanke, aber hochgewachsene Mann versprach Fleiß, Pünktlichkeit und Flexibilität.

Da ich gerade halbherzig jemanden suchte, stellte ich Olli zur Probe ein.
Wenn jemand bei uns zur Probe arbeitete, dann bedeutete das, dass er jederzeit ohne Nennung von Gründen weggeschickt werden konnte, beispielsweise wenn mir seine Nase nicht mehr gefiel, oder so. Es bedeutet aber nicht, dass dieser Mensch, der Zeit und Arbeitskraft investiert, ohne Bezahlung bleibt.

Ich habe für Arbeitgeber, die Menschen ohne Bezahlung „probearbeiten“ lassen, überhaupt kein Verständnis.
Ebensowenig verstehe ich die Leute, die ihren Mitarbeitern nur den gesetzlichen Mindestlohn zahlen. Der Name Mindestlohn beinhaltet es doch schon: Es ist das Mindeste, was gezahlt werden MUSS. Es bedeutet aber nicht, dass man auf gar keinen Fall mehr zahlen sollte, darf oder kann!

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Wenn heute einer halbwegs über die Runden kommen soll, dann benötigt er allerwenigstens 10 Euro/Stunde, besser 12,50 Euro.

Zurück zu Herrn Dissert, den alle wegen seiner fröhlichen Art schon bald beim Vornamen nannten. Er machte sich gut, packte mit an und war auch zu den schlimmen Einsatzzeiten in der Nacht stets pünktlich da.

Eigentlich also ein perfekter Mitarbeiter, möchte man denken.

Doch erste Zweifel kamen mir, als es richtig heiß wurde. Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stöhnten unter der großen Sommerhitze. Der einzige angenehm kühle Ort im ganzen Haus war aber verständlicherweise den von uns Gegangenen vorbehalten.
Manni und seine Mannen hatten es trotzdem noch am Besten, denn ihr Reich lag ja im Kellergeschoss des Gebäudes, wo es immer etwas kühler war.

Antonia lag mir schon seit Tagen in den Ohren, ob wir nicht hitzefrei machen könnten. Ehrlich gesagt stieß sie damit bei mir auf gar nicht so taube Ohren, denn auch ich bin ein Hitzemuffel.
Also hielt ich es für eine geniale Idee, meine Mitarbeiter mit einem Bootsausflug zu überraschen. Von unserer Firma war es nicht weit ans Ufer des Neckars und dort gab es eine Anlegestelle für einen kleinen Ausflugsdampfer.

Ich besorgte nun die Karten, besprach mit dem Schiffsunternehmer das Notwendigste und schon drei Tage später ging es los.
Meine Leute kamen üblicherweise zwischen 7.30 Uhr und 8.30 Uhr. Im Sommer jedoch fingen die Männer in der Werkstatt gerne eine Stunde früher an, um früher Feierabend zu haben.

Damit keiner an diesem Tag wichtige private Termine hatte, hatte die eingeweihte Frau Büser allen Leuten erzählt, es gäbe nachmittags eine mehrstündige Sicherheitsschulung von der Berufsgenossenschaft, die bis zum Abend dauern könnte.

Ich kann gar nicht beschreiben, wie sehr sich meine Leute gefreut haben! Vor allem, weil es überraschend kam.
Wir schipperten über den Neckar, saßen alle an Deck und das kühle Flußwasser sorgte trotz sengender Hitze für ein erträgliches Klima. Ein weißgekleideter falscher Seemann spielte Schlagerschnulzen auf einer Heimorgel. Roswitha von der Crew servierte Apfelkuchen, heiße Würstchen und Kartoffelsalat. Noch wichtiger aber waren die Getränke, die in rauhen Mengen über die Theke gingen.

Das Schiff fuhr langsam, einige Schleusen gab es zu bewältigen und so waren wir gut 4 Stunden bis zu unserem Ziel unterwegs. Dort war ein Landgang angesagt, der uns in eine Eisdiele führte. Das Eis war das Highlight des Tages. Die Eisverkäufer machten nämlich keine kleinen Portionskugeln, sondern schmierten das Eis mit großen Spachteln üppig auf die Hörnchen.

Nach einer Stunde hieß es wieder „Leinen los“ und wir machten uns auf die Rückfahrt. Dem Herrn sei Dank, der falsche Seemann hatte sich in einen falschen Cowboy verwandelt und spielte jetzt Country-Musik. Das war wesentlich besser als das Schlagergesülze.

Es war schon dunkel, als wir wieder anlegten und uns voneinander verabschiedeten. Ein perfekter Tag! Das Telefon hatte nicht geklingelt, man hat uns nicht vermisst.

Langsam zerstreute sich unsere kleine Gruppe, da kam Olli Dissert zu mir: „Chef, wie sieht das eigentlich aus? Muss ich die Überstunden von heute bei Frau Büser melden oder zahlen Sie uns sowieso mehr?“

Ich ließ mir nichts anmerken, musste aber dennoch schlucken.
Etwa siebeneinhalb Stunden muss sowieso bei uns gearbeitet werden, jetzt waren es gut neun Stunden geworden. Aber eben keine Arbeit, sondern ein Bootsausflug, mit freiem Essen, Trinken, Eis und Kuchen…

Und darüberhinaus bekamen ja alle ihren ganz normalen Lohn für diese Veranstaltung. Aber Überstunden? Nö, das sah ich nicht ein.
Ich merkte mir aber die Frage von Olli Dissert.

Am nächsten Tag sagte ich ihm dann, dass es keine Vergütung für die anderthalb „Überstunden“ geben würde. Er zog nur die Augenbrauen hoch.

Ein paar Tage später musste ich am Vormittag zu einem Anwaltstermin außer Haus. Ich fragte vorher vor versammelter Mannschaft: „Soll der Chef ein leckeres Eis für jeden mitbringen?“ Ein großes Hurra war zu hören. So kann man auch mit kleinen Sachen großen Kindern Freude machen.

Auf dem Rückweg von meinem Termin fuhr ich zu Luigis Eisdiele und kaufte für jeden Mitarbeiter einen Eisbecher mit 4 Kugeln Eis. Sandy half mir beim Ausladen und Verteilen. Was war das für eine Freude. Als Olli Dissert seinen Becher bekam, meinte er: „Das habe ich mir jetzt aber größer vorgestellt.“

Ich habe ja noch den Spruch vom geschenkten Gaul gelernt…

Ist es schlimm, dass ich Herrn Dissert dann doch nicht fest eingestellt habe?

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(©si)