Geschichten

Der Achtzigste

Am Wochenende standen hier zwei Familienfeiern an. Die sogenannte Schwiegermutter, die eigentlich schon vor 14 Tagen Geburtstag hatte, hatte ihre große Feier zum Achtzigsten ausgerechnet auf den Tag nach dem Geburtstag meiner Allerliebsten gelegt.
Nun werden die Geburtstage der Allerliebsten immer bis in die frühen Morgenstunden ausgedehnt und entsprechend fertig waren wir alle, als es dann am nächsten Tag zur Oma ging. Das heißt, die Oma hatte sich mitsamt Feiergesellschaft im Nebenzimmer eines gutbürgerlichen Restaurants eingebucht. Jetzt bringt es das vorgerückte Alter der Jubilarin ja mit sich, daß auch viele der Gäste sich schon in einem ebensolchen, mit einer hohen Zahl gekennzeichneten Lebensabschnitt befinden.
Onkel Rudolf beispielsweise hat beschlossen, an dieser Welt nicht mehr teilzunehmen, schützt Schwerhörigkeit vor und schaut nur noch grinsend aus der Wäsche. Seine tatsächlich schwerhörige Frau Anna dolmetscht für ihn.
Das führt zu einem Geschrei am Tisch, das selbst vom Kartoffelverkäufer in einem orientalischen Basar nicht übertroffen werden kann.
Man muß Tante Anna anschreien, damit sie die Botschaft des Gesagten versteht, sie versteht aber nur die Hälfte der Worte und schreit diese dann Onkel Rudolf zu.

„Onkel Rudolf, hast Du immer noch dieses große Grundstück hinterm Haus und wer pflegt das denn jetzt?“, fragt jemand.

Der Angesprochene grinst nur und nickt. Ihn interessiert es überhaupt nicht und er hat auch keine Lust zu antworten.

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Tante Anna macht: „Häh?“ und legt die Hand hinters Ohr.

Der Fragesteller wiederholt: „Das Grundstück hinterm Haus, wer pflegt das?“

Die Tante lacht und nickt, wendet sich ihrem Mann zu und brüllt ihn mit spitzer Stimme an: „Wesche dem Acker, Rudi! Wer den jetzt macht!“

Der Onkel erwacht aus seiner Lethargie, klopft sich auf die Schenkel und brüllt zurück: „Isch geh nimmer nackt aus dem Haus, das war früher mal!“

Kopfkino! Jeder malt sich jetzt aus, wie Onkel Rudolf früher nackt um die Häuser geschlichen ist und ich frage mich, zu welchem Behufe er das getan haben mag.

Nun legt Onkel Rudolf nach: „Isch kann uff dene hohe Stöckelschuh‘ nimmer laufe!“

Abgründe tun sich auf, das Kopfkino weitet sich aus und schnell schaltet sich die Jubilarin ein, um ein anderes Thema anzuschneiden. Sie fragt Erich nach seinem Wohlergehen. Erich trägt nach 50 Jahren Zigarettengenuß nun eine Sauerstoffflasche mit sich herum und wird über einen Plastikschlauch unter der Nase zusätzlich mit Sauerstoff versorgt.

„Mir geht’s ganz schlecht“, sagt der Angesprochene, beteuert aber, sein Leiden habe nichts mit dem Konsum von 60-80 Filterzigaretten am Tag zu tun. Im Krankenhaus hätten zwei andere Herren auch so eine Sauerstoffversorgung angepasst bekommen und die hätten nie in ihrem Leben geraucht, außerdem rauche Altkanzler Schmidt ja wie ein Schlot und habe so einen Apparat nicht nötig.
Mühevoll erhebt sich Erich und schlurft, mit seiner Sauerstoffflasche im Arm zum Klo.
Alle zwei Meter muß er stehen bleiben, röchelt, hustet und eigentlich rechnet jeder mit seinem sofortigen Ableben.

Irmtrud, von der keiner genau weiß, mit wem genau von uns sie jetzt in welcher Weise verwandt ist, läßt Fotos herumgehen. Diese zeigen drei häßliche Möpse mit eingedrückten Gesichtern und ich sage: „Wir haben auch zwei Hunde“, was mir einen tadelnden Blick meines Schwiegervaters einbringt, der mir zuraunt, das seien die drei Enkeltöchter der Verwandten.

Die Bedienung bringt Brotscheiben und Kräuterquark als Gruß aus der Küche und der Schwiegervater räumt das Gebrachte sofort wieder ab und stellt es auf einen kleinen Tisch an der Seite: „Das haben wir nicht bestellt! Ich kenne diese Pappenheimer, am Ende muß ich das alles noch bezahlen!“

Die Schwiegermutter hat zum wievielten Mal ihre Handtasche geöffnet und zählt in einem Briefumschlag Geld. Mit Argusaugen betrachtet sie, dass meine Tochter schon das dritte Getränk bestellt hat.

Klaus-Dieter, ein ehemaliger Arbeitskollege meines Schwiegervaters hat nun die Fotos in den Händen und ruft über den Tisch Irmtrud zu: „Du hast aber schöne Möpse!“

Onkel Heinz hat eine Rede vorbereitet. Heinz ist kein Redner, er kann es einfach nicht, tut es aber immer wieder.
Er beginnt seine Rede mit einem Dank an die Jubilarin. Er dankt ihr dafür, daß sie ihm 1953 einmal einen Besen geliehen hat. „Wir hatten ja nichts. “
Ob der erfahrenen Wohltat drängen sich Tränen in seine Augen und in seine Stimme, er stockt, umständlich wischt und schnäuzt er sich mit einem großen Stofftaschentuch. Onkel Heinz kann sich wieder fassen, es sind schon 10 Minuten herum, dann erwähnt er in einem Nebensatz seine verstorbene Frau Hedwig, die er aus unerfindlichen Gründen 180 Kilometer entfernt hat begraben lassen und nun zweimal wöchentlich besuchen muß.
Er kommt aber bei der Nennung ihres Namens immer nur bis Hed, dann übermannen ihn die Tränen. Mit tränenerstickter Stimme stammelt er unverständlich weiter, die anderen wenden sich unterdessen wieder ihren Gesprächen zu.
Meine Tochter dreht heimlich Erichs Sauerstoffflasche etwas weiter auf.

Onkel Rudolf ist aufgestanden und fängt an, sich auszuziehen, seine Frau fällt derweil in eine Ohnmacht. Onkel Heinz redet und weint, Erich fliegt zum dritten mal zischend um die Lampe und meine Tochter hat Spaß.
Ich liebe Familienfeiern!

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(©si)