Geschichten

Der blaue Zettel

Frau Bayerle ist 91 Jahre alt. Ihren Franz hat sie damit um 40 Jahre überlebt und ist damit länger Witwe, als sie überhaupt verheiratet war.
Glücklicherweise hatte sie sich beim Tod ihres Mannes dazu entschieden, ganz gegen den Willen der übrigen Familie, des Pastors und vieler Bekannter, ein Urnengrab zu nehmen. Anfangs hatte sie es lange schön mit Blumen bepflanzt, doch als sie dann etwas wackliger auf den Beinen wurde, war sie zu einem Steinmetz gegangen und hatte das Grab mit einer Abdeckplatte mit schöner Inschrift belegen lassen.

„Keine Arbeit mehr und der Franz hat’s trotzdem schön. Ganz aufgeben tu‘ ich das Grab ja nicht, ich muß ja auch mal irgendwohin. Der Herrgott hat’s jetzt schon so lange gut mit mir gemeint, aber ewig wird das auch nicht gehen.“

Ich kenne Frau Bayerle weil sie über unser Bestattungshaus einen Bruder hat beerdigen lassen und uns daraufhin sehr häufig besucht und angerufen hatte.
Das ist manchmal so und wenn man sich als Bestatter darauf einläßt, sich um anlehnungsbedürftige Kunden zu kümmern, dann muß man da auch schon mal hinfahren und eine Glühbirne wechseln oder im verstellten Fernseher das erste Programm wieder auf die erste Taste programmieren.
Zur Pflichtübung wurde es, zweimal im Jahr, jeweils wenn die Uhren umgestellt wurden, bei Frau Bayerle vorbei zu schauen und alle ihre Uhren auf den aktuellen Stand zu bringen. Dabei tat man gut daran, einige Batterien mitzunehmen, weil einige der Zeitmesser mangels Energieversorgung längst schon nicht mehr liefen.

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Ach, was tut man nicht alles, wenn so eine klein gewordene Frau mit etwas krummen Beinen einen aus wässrigblauen Augen von unten anschaut und mit dem Gebiß klappernd sagt: „Sie sind so ein lieber Mann!“.
Jedes Mal schenkte sie mir eine Tafel Bitterschokolade. Ausgerechnet Bitterschokolade! Ich lege die immer meiner Frau in die Küche, vielleicht kann sie die Tafeln für einen Kuchen zermalmen, essen mag ich das dunkle Zeug jedenfalls nicht.
Aber irgendwie habe ich es nie übers Herz gebracht, Frau Bayerle zu sagen, daß ich am liebsten ganz helle Vollmilchschokolade esse. „Bitterschokolade gibt Kraft und macht stark, das braucht man in Ihrem Beruf“, hat sie immer gesagt.
Nun denn…

Vor vier Wochen ist es der alten Dame ganz fürchterlich ergangen.
Sie kam gerade nach einem Arztbesuch von der Apotheke nach Hause und hatte eben ihre Haustüre aufgeschlossen, da drückte sie von hinten ein kräftiger junger Mann ins Haus, entriß ihr den Schlüssel und hielt ihr dem Mund zu.
Der Kerl öffnete dann die Wohnungstür und sperrte die zu Tode erschrockene Frau ins Badezimmer. Das alles hatte nur Sekunden gedauert.
Und obwohl Frau Bayerle, was eigentlich ein Fehler ist, sogleich laut um Hilfe gerufen hatte, waren wenige Minuten später, als ein Nachbar ihr zur Hilfe gekommen war, natürlich der Täter, aber auch zwei Armbanduhren und eine wertvolle Halskette sowie ein paar tausend Euro Bargeld verschwunden.

„Wenn so etwas ist, soll man niemals um Hilfe rufen. Das macht man nur, wenn man draußen ist, wo andere Leute sind, um die auf die Tat aufmerksam zu machen. Ist man mit dem Täter alleine, bei einem Einbruch oder Überfall in der Wohnung, dann will der Täter nur eins: Beute machen und so schnell wie möglich unerkannt entkommen. Stellt man sich ihm dann in den Weg oder macht man so ein Theater, daß er befürchten muß entdeckt oder ergriffen zu werden, kann es leicht passieren, daß er sich in die Enge getrieben fühlt und mit Gewalt dafür sorgt, daß Ruhe eintritt“, hatte ein Kriminalbeamter Frau Bayerle belehrt.
„Ist doch schade um den Schmuck und das Geld, aber viel schlimmer wäre es doch, wenn Ihnen noch etwas passiert wäre“, hatte er noch hinzugefügt.

Man kann sich vorstellen, wie sehr dieser Vorfall die alte Dame aufgeregt hatte. Nur mit Mühe konnte sie sich davor wehren, ins Krankenhaus zu kommen. „Ach, haut doch ab! Ich hab‘ schon so viel mitgemacht in meinem Leben, da wird mich der Schock jetzt auch nicht umbringen!“
Trotzdem bescherte ihr der Vorfall einige schlaflose Nächte und von da an sah sie sich immer sorgfältig um und hatte allen versprechen müssen, nie mehr so viel Geld zu Hause aufzubewahren.

Gestern ist es wieder passiert!
Man mag es kaum glauben, aber der Täter hat es abermals versucht!
Frau Bayerle schwört Stein und Bein, daß es derselbe Mann gewesen sei. Sie habe ihn beim ersten Mal zwar nicht anders beschreiben können, als einen dunkel gekleideten Mann, aber jetzt sei sie sich ganz sicher, und das müsse man ihr glauben, daß der gleiche Kerl gestern vor ihrer Tür gestanden habe.

Gegen 14 Uhr habe es an der Wohnungstür geklingelt und draußen habe dieser Mann gestanden. Der habe einen blauen Zettel in der Hand gehabt und gesagt: „Ich komme vom Wasserwerk, wir müssen mal eben in Ihrer Wohnung das Wasser abstellen.“
Um zu sehen, was auf dem Zettel stand, habe sie dann die an einer goldenen Kette um den Hals baumelnde Brille aufgesetzt und dann erst den Mann erkannt.

„Ich bin aber nicht doof, ich habe mir nichts anmerken lassen, obwohl mir das Herz bis in den Hals gepocht hat. Schließlich hat mir der Kerl ordentlich weh getan, als er mich beim ersten Mal so grob angepackt hat. Ich habe nur genickt und gelächelt, doch dann hab‘ ich dem die Tür vor der Nase zugeworfen und durch die Tür gerufen: ‚Ich ruf‘ jetzt meinen Neffen an, der soll dabei sein, alleine lasse ich keinen in die Wohnung‘. Der hat dann gerufen: ‚Das brauchen Sie nicht, ich bin doch vom Wasserwerk, ich habe doch den blauen Ausweis!‘. Aber ich sag‘ ja, ich bin nicht doof. Ich habe stattdessen die Polizei angerufen und man glaubt es ja nicht, wie schnell die da waren. Das hat nur zwei Minuten oder so gedauert. Da war der Kerl aber schon über alle Berge.
Und das Erste was die gefragt haben war, ob der einen blauen Zettel hatte. Da war ich aber platt, weil von dem Zettel hatte ich noch gar nichts gesagt. Ja, haben die gesagt, das ist so eine Masche. Mit dem Trick haben die schon etliche alte Leute reingelegt.
Während der eine an den Wasserhähnen hantiert und sagt, man solle mal schön langsam die Wanne voll laufen lassen und das Wasser beobachten, läßt der den anderen heimlich in die Wohnung und ehe man es sich versieht, haben die einem alles ausgeräumt.
Ich lasse mir jetzt so eine Sperrkette an die Wohnungstür machen und wenn einer was will, soll er warten, bis ich angerufen habe. In Zukunft rufe ich immer beim Wasserwerk oder wo die auch herkommen an. So! Ich bin doch nicht doof! Und wenn ich nicht so alt wäre, würde ich mir noch ’nen Gummiknüppel kaufen und in die Handtasche tun, aber das hat der Herr Kommissar verboten.“

Hashtags:

Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#Antonia #Büser #Sandy

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