Geschichten

Der Kleine

Sandy hatte an diesem Tag gute Laune, sie pfiff und summte schon seit acht Uhr in der Früh eine aus dem Radio bekannte Melodie und als ich mich nach der Ursache dieser Fröhlichkeit erkundigte, flitzte sie in ihr Büro und holte eine Fotomappe.

„Da Chef, guck mal!“

Ich guckte, ich schaute, ich blickte und was ich da sah, das trieb mir für den Bruchteil einer Sekunde die Schamesröte auf die ansonsten um diese Zeit immer recht blassen Wangen und verursachte mir dann einen sehr trockenen Mund.
Die Mappe enthielt etwa drei Dutzend Fotos meiner Angestellten, so wie ich sie noch nie gesehen hatte, nämlich nackt in alle möglichen Posen.
Gut fotografiert, das muß ich sagen, aber als ich dann eine Seite aufschlug, die gynäkologische Ansichten bot, klappte ich die Mappe wieder zu.

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„Geil, oder?“

In meinen Adern wallten Adrenalin und Testosteron um die Wette und ich fixierte das an der Wand hängende Panorama meiner Heimatstadt, verfolgte mit zusammengepreßten Lippen den Flug einer gemeinen Stubenfliege und rang mit der Selbstbeherrschung.
Nach unendlich scheinenden 10 Sekunden keuchte ich zwischen den immer noch zusammengepreßten Lippen hervor: „Ja, geil, wirklich.“

„Ja, die hat der Joe gemacht, ein gaaaanz toller Fotograf aus New York, der macht hier eine Ausstellung.“

Ich nickte nur stumm und versuchte die durchaus als reizvoll zu bezeichnenden Bilder aus meinem Kopf zu bekommen.

„Chef, willste noch mehr sehen, ich hab noch einen ganzen Stapel, die sind aber noch nicht in der Mappe, aber die sind etwas schärfer, da mache ich…“

„Öh, nö, jetzt nicht…“, sagte ich und war ohne Ende dankbar, daß genau in diesem Moment Frau Büser nach kurzem Anklopfen eintrat und meldete, wir hätten einen neuen Sterbefall.

Draußen in der Halle stand ein Herr von etwa 60 Jahren und hatte einen kleinen, etwa 3-jährigen Jungen an der Hand.

Ich begrüßte die beiden und der Mann stellte sich als Herr Stelter und den Jungen als „den kleinen Markus“ vor.
Er habe den Tod seines Vaters zu melden und wolle jetzt alles regeln und bestellen.

Im Beratungsraum ließ ich dem Kleinen erst mal eine heiße Schokolade und ein paar Kekse bringen und dann legte ich die notwendigen Formulare vor mich und begann sie mit Herrn Stelter durchzugehen. Sein Enkel kaute unterdessen die Kekse, die er vorher in den Kakao tauchte.

Das erste Mal stutzte ich, als Herr Stelter mir den Nachnamen seines Vaters sagte, der völlig anders lautete, nämlich Gruber.
Okay, das hat man immer wieder mal, ich fragte da nicht nach.

Doch dann mußte ich mich zum zweiten Mal wundern, als er das Geburtsdatum seines Vaters nannte. „Ja“, sagte er, „da wundern sich immer alle, mein Vater war erst 17, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war gerade 18, die haben halt früh angefangen damals auf dem Land.“

Ich schüttelte nur leicht mit dem Kopf, was bedeuten sollte, daß mir das kein Kopfzerbrechen bereitete.
Dann wollte Herr Stelter aber unbedingt zuerst den Sarg aussuchen, obwohl ich noch gar nicht mit den Formularen durch war. Aber gut, der Kunde ist König und wenn er gleich am Anfang Ware aussucht, dann ist auch der Handel perfekt und es würde später, kurz vor der Unterschrift keinen Rückzieher mehr geben.

Der kleine Markus ging mit, machte große Augen, schien aber ansonsten unbeeindruckt. „Sind das Kästen für die Toten?“ fragte er neugierig und ich wollte ihm einiges dazu erklären, doch da hörte er mir schon gar nicht mehr zu, sondern lief zu dem Ständer mit den Decken hinüber und betrachtete sie.

Sein Opa suchte inzwischen einen einfachen Eichensarg aus und bestimmte: „Der Vater soll eine einfache Decke und so ein Totenhemd bekommen, der Sarg bleibt nämlich zu.“

Ich notierte das und wir kehrten ins Besprechungszimmer zurück.

Dann wandte ich mich dem Standesamtsbogen zu und fragte die Familienverhältnisse ab. Und da stutzte ich das dritte Mal, diesmal aber richtig.
Denn bei der Frage, ob Herr Stelter noch Geschwister habe, schaute der mich verwundert an und sagte: „Ja aber sicher doch, der da!“ Und dabei deutete er auf den kleinen Markus.

„Was?“ entfuhr es mir.

„Ja, das ist mein kleiner Bruder da, der Kleine.“

„Nee, nicht wirklich, oder?“ fragte ich völlig erstaunt zurück.

„Doch, doch, mein Vater ist zwei oder drei Jahre nach meiner Geburt abgehauen und hat meine Mutter mit mir sitzen lassen. Er ist ab nach Brasilien, das war damals das Land der großen Träume. Meine Mutter und der waren nie verheiratet, deshalb habe ich ja auch den Namen meiner Mutter. Er hat übrigens auch nie geheiratet, hatte immer irgendwelche Frauen und kriegte wohl auch den Hals nicht voll. Die letzte, die er hatte, war ein ganz junges Ding, die es nur auf sein Geld abgesehen hatte, und von der ist der kleine Markus.
Direkt nach der Geburt hat diese Juanita meinem Vater das Baby in den Arm gelegt und am nächsten Morgen war sie verschwunden. Was soll ein über siebzig Jahre alter Mann mit so einem kleinen Kind? Erst hat er überlegt, ob er das Kind in ein Waisenhaus gibt, dann hat er sich aber kurzerhand entschieden, nach Deutschland zurück zu kommen.
Und nach all den vielen Jahren ist ihm dann eingefallen, daß er hier ja auch noch einen Sohn hat und eines Tages stand er mit dem Kinderwagen bei uns vor der Tür. Seitdem habe ich den Markus.“

Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf: „Sachen gibt’s!“

„Ja, so Sachen gibt’s. Ich meine, das war nicht leicht für uns, meine Frau war da Mitte Fünfzig, ich ging auf die Sechzig zu und da ist man eigentlich froh, daß die eigenen Kinder aus dem Gröbsten raus sind und freut sich auf Enkelkinder. Das schöne an Enkelkindern ist ja, daß man sie wieder abgeben kann. Und dann, peng, auf einmal bist du wieder Vater von ’nem kleinen Jungen, der außerdem auch noch dein Bruder ist.“

„Und ihr Vater?“

„Der hat es in Brasilien zu was gebracht. Farben und Lacke hat der produziert und ein kleines Vermögen damit gemacht. Aber nachdem er ein paar Tage den lieben Papa gespielt und meine Frau und mich eingelullt hatte, ja da war er weg, ist nach Baden-Baden gezogen und wir hatten den ‚Lütten‘ da an der Backe“, sagte Herr Stelter, schaute den kleinen Markus glücklich lächelnd an und streichelte ihm über den Kopf.
Dann erzählte er weiter: „Zweitausend Euro hat der alte Gruber jeden Monat für Markus überwiesen und am Telefon hat er gesagt, daß das auch immer so weitergehe, dafür habe er gesorgt und außerdem würden wir beide als seine Söhne ja sowieso alles mal erben.“

„Kann der Junge denn überhaupt Deutsch?“ fragte ich blöderweise und Markus schaute mich mit großen fast schwarzen Augen an und lachte. Es war wirklich blöd von mir, zu fragen, denn der Junge hatte ja schon gesprochen und ich hatte gehört, daß er Deutsch kann. Herr Stelter streichelte ihn wieder und sagte: „Ja, der spricht schon ganz gut. Portugiesisch hat der nie richtig wahrgenommen, weil mein Vater auch nur Deutsch mit ihm geredet hat, aber egal, die Kleinen fangen ja sowieso erst zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr an, zu sprechen und das was er sagt, das ist eindeutig Deutsch.“

„Und ich habe gedacht, sie beide wären Opa und Enkel.“

„Das denken alle. Glauben Sie ja nicht, daß ich mir keine Gedanken mache. Aber vielleicht schenkt der liebe Gott uns noch so viele Jahre, daß wir den Zwerg da groß bringen. Daß alle immer denken, ich sei sein Opa, damit muß er halt leben. Die Clou ist doch aber, daß er dann nicht, wie die Kinder von alten Eltern sagen muß, daß ich sein Papa bin, sondern erklären kann, daß ich sein Bruder bin; und die offenen Mäuler der anderen möchte ich dann mal sehen.“

„Wie wollen Sie das denn halten? Ich meine, sind Sie jetzt mehr Papa oder mehr Bruder?“

„Ja, da bin ich ganz eindeutig in erster Linie Papa. Das mit dem Bruder, das soll und kann er ruhig wissen, ich glaube nicht, daß Markus da Probleme mit haben wird. Außerdem hat er ja noch Geschwister, meine Frau und ich haben einen Sohn und eine Tochter, die sind aber natürlich auch schon an die Vierzig. Ja, ja, so kann’s gehen.“

Ja, so kann’s gehen.

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(©si)