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Der Lolli ist tot

Den Lolli kannte hier jeder. Daß er eigentlich Bertram heißt, das habe ich heute hier im Büro erst erfahren, ich kannte den Mann auch nur als ‚Lolli‘. Den Namen hatte er weg, weil er oft die Leute auf der Straße ansprach und um ein bißchen Geld bat, wovon er sich immer Dauerlutscher kaufte. „Kaufste mir ein Lolli?“, das war seine Standardfrage.

Lolli war behindert, Down-Syndrom, und ein Sonnenschein. Tag für Tag sah man ihn, wenn er von der Bushaltestelle nach Hause lief, sich dabei etwas Zeit ließ und die Leute ansprach. Immer freundlich, immer gut gelaunt.

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Wie alt Lolli war, das konnte man schlecht schätzen. Manche mögen ihn für Ende Zwanzig gehalten haben, andere meinten wohl er sei schon Vierzig. Ich weiß es jetzt genau, Lolli ist 36 Jahre alt geworden. Heute Mittag ist er von einem Auto angefahren worden, ins Krankenhaus gekommen und trotz intensiver Bemühungen verstorben.

Bis gerade eben waren seine Eltern da. 79 und 81 Jahre alt, man kann sich leicht ausrechnen, wie alt die Mutter bei der Geburt von Lolli war. „Wir haben gewußt, daß das ein Risiko war, aber wir haben doch sonst keine Kinder und als es dann auf einmal doch noch klappte…“, Lollis Mutter hebt hilflos die Schultern. Sie schaut mich fast ein bißchen um Entschuldigung bittend an, aber ich mache ihr doch keinen Vorwurf. Ich sage etwas Unverbindliches und Lollis Vater ergänzt: „Sie glauben ja gar nicht, was man uns damals alles gesagt hat. Dabei ist das doch ganz allein unsere Sache, Bertram hat es immer gut gehabt, dem ist es immer gut gegangen und er hat jeden Tag, den Gott werden ließ, genossen. Dem hat doch immer die Sonne in den Arsch geschienen.“

Ich muß etwas verwundert geguckt haben, Bertrams Vater legt mir seine Hand auf den Arm und sagt: „Ist doch so! Bertram hat sich nie um irgendwas Sorgen machen müssen, hätte sich auch keine gemacht, der war einfach immer nur gut gelaunt. Manchmal habe ich so für mich gedacht, daß er das bessere Leben führt.“

„Die Leute waren gemein“, sagt Bertrams Mutter, „auf der Kirmes wollten sie ihn nicht dem Karussell mitfahren lassen, weil er sich angeblich nicht festhalten konnte, meinen Mann haben sie aber auch nicht mit ihm mitfahren lassen, weil das Karussell nur für Kinder war. Das allein war aber nicht so schlimm. Uns hat immer nur sehr geärgert, daß viele Leute meinen, sie könnten einfach ihre Meinung kundtun. Was meinen Sie, wie oft wir uns haben anhören müssen, wir seien es doch selbst Schuld.“

Das ältere Ehepaar sucht alles Erforderliche aus und dicke Tränen fließen, als sie die Traueranzeige aufgeben. „Machen wir uns doch nichts vor. Wenn wir jetzt Betram in die Anzeige schreiben, weiß doch keiner, wer gemeint ist. Schreiben Sie einfach nur Lolli, keinen Vor- und keinen Zunamen.“
Die beiden Alten legen ihre Arme umeinander und weinen bitterlich.

Dann schnäuzt sie sich in ein Taschentuch und sagt: „Wissen Sie was? Vielleicht können Sie uns nicht verstehen, aber mein Mann und ich werden Lolli vermissen, solange wir leben, aber wenigstens ist das Schlimmste nicht eingetreten…“

Er nickt heftig und setzt den Satz seiner Frau fort: „…daß Bertram uns überlebt und ins Heim muß. Ohne seinen Papa und seine Mama wäre der elendlich zugrunde gegangen.“

„Ich glaube, ich lebe überhaupt nur noch, weil ich mich immer um Bertram kümmern mußte, glauben Sie das?“ sagt sie.

Ich glaube es ihr.

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Ich habe zur besseren Orientierung noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels zusammengestellt:

#lolli

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