Sonstiges

Der Nazi-Teddy

Ein Teddybär in einer alten Uniform

Gestern wäre mein Papa 108 Jahre alt geworden. Aber er ist schon vor 38 Jahren gestorben. Ich lebe schon länger ohne ihn, als ich jemals mit ihm gelebt habe.

Ich habe gestern viel an ihn denken müssen. Müssen ist das falsche Wort. Ich denke sowieso oft an Menschen, die irgendwann mal meinen Lebensweg gekreuzt haben. Ob die, die noch leben, ab und zu auch mal an mich denken?
Mir kam gestern die Frage in den Sinn, was mein Vater vor hundert Jahren gemacht hat. Er war da acht Jahre alt, also ist anzunehmen, dass er in die Schule gegangen ist. Es wird eine Volksschule in Gelsenkirchen gewesen sein.
Die Lehrer waren alt, viele der jüngeren sind im Krieg gefallen. Die Lehrmethoden waren althergebracht und Schläge vor der gesamten Klasse galten als probates pädagogisches Mittel.

Den Antisemitismus hatten die Nazis nicht erfunden, der war latent in allen Schichten der Bevölkerung vorhanden und sich damit zu beschäftigen war nicht verpönt.

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Mich beschäftigt die Frage, ob ein junger Mensch, der 1916 geboren worden war und 1933 im Jahr von Hitlers Machtergreifung 17 Jahre alt war, überhaupt eine Chance hatte, kein Anhänger des Nationalsozialismus zu sein/werden.
Mein Vater hat den ehrbaren Beruf des Herrenschneiders erlernt. Also in etwa so, wie Torsten Sträter. Aber mit 17, als der „österreichische Gefreite“ Reichskanzler wurde, war er mit der Lehre schon fertig und kam zum Reichsarbeitsdienst.

Die harte Arbeit und der militärische Drill im Arbeitsdienst gefielen meinem Vater, das weiß ich aus seinen Erzählungen. Durch Fleiß und Gehorsam konnte man es da auch zu was bringen und auch mein Vater wurde sogar Truppführer1.
Die Arbeitsmänner lebten in Lagern, blieben dort nur Monate oder später auch nur Wochen, um dann zur Wehrmacht gerufen zu werden. Mein Vater blieb dort, machte verschiedene Bauprojekte mit, wurde mehrmals verlegt und arbeitete mit seinem Trupp an der Trockenlegung von Flächen für die Autobahn, beim Bau eines Staudamms und bei der Anlage von Sporteinrichtungen bei Lippstadt.

Man hatte einen Beruf, eine Bestimmung und bekam Lohn und Brot.

Hatte so jemand die Chance, sich dem Nationalsozialismus zu entziehen?

Die Familie meines Vaters war eine fromme Familie. Sie stammte aus Ostpreußen und war schon im 18. Jahrhundert aus Masuren ins Ruhrgebiet gezogen, wo es im Bergbau und in den Stahlhütten gut bezahlte Arbeit ohne Ende gab. Für viele, die in Ostpreußen als kleine Häusler2 ihr Brot oft eher schlecht als recht verdienten, boten sich in der Region um Essen ganz neue Chancen. Zurück blieben in Ostpreußen die ganz Alten, das kleine Haus und der winzige Fleck Ackerland und Erinnerungen, in denen alles viel größer und viel prächtiger war.
Als gute Katholiken gingen die Eltern meines Vaters mit ihren Kindern sonntags in die Kirche und vielleicht war das eine der wenigen Gelegenheiten, der volksgenossenschaftlichen Indoktrination zu entgehen und eine andere Sichtweise zu erfahren.

Mein Großvater Valentin hatte im Ersten Weltkrieg nahe Ypern ein Trauma erlitten, konnte danach noch arbeiten, ein guter Vater sein, aber schwieg dann mehr, als dass er sprach und saß jede freie Minute schweigsam neben dem Ofen in der Küche.
Die Oma, übrigens die Einzige von den Großeltern, die ich als kleines Kind noch kennenlernen durfte, sie starb als ich zwei Jahre alt war3, hatte genug mit der Versorgung ihrer acht Kinder zu tun gehabt und arbeitete von zu Hause aus als Büglerin.
Ein Radio besaß die Familie nicht, Fernsehen gab es noch nicht und gelesen hat man allenfalls die Tageszeitung.
Viele Menschen versorgten sich in Leihbüchereien mit unterhaltsamem Lesestoff.

Nun darf man Leihbüchereien nicht mit Bibliotheken, wie wir sie kennen, gleichsetzen. Leihbüchereien waren eher so etwas wie die Videotheken der früheren Zeit. Unterhaltung, Triviales und Schundliteratur wurden dort gegen einen kleinen Groschen verliehen. Viele der dort erhältlichen Schwarten galten im normalen Buchhandel gar nicht als „verkehrsfähig“ und viele der dick gebundenen und der Haltbarkeit wegen auf dickem Papier gedruckten Reißer wurden überhaupt nur für den Verleih gedruckt (so wie es Filme gab, die nie den Weg ins Kino fanden, gleich auf Video/DVD herauskamen und später dann als „Schlechteste Filme aller Zeiten“ von Oliver Kalkofe durchgenudelt wurden).
Hochgeistiges gab es also eher wenig.

Dann kam der Krieg. Dann kam Hitlers große Zeit.

Ich denke oft, dass wir heute wie Staatsanwälte sind. Ein Staatsanwalt nimmt einen vor Gericht Stehenden auseinander, indem er das, was vielleicht aus der Situation heraus in Sekundenbruchteilen passiert ist, tagelang bis ins Kleinste zerlegt und durch Gutachten analysieren lässt.
Es werden retrospektiv Maßstäbe angelegt, die zum Zeitpunkt des Geschehens vielleicht gar nicht zugrunde gelegt werden konnten.

So ähnlich ist das doch, wenn wir heute auf geschichtliche Ereignisse im Allgemeinen und die Zeit des Nationalsozialismus im Besonderen zurückblicken.
Heute wissen wir alles, sogar mit welchem Faden Frau Magdalene Grunzhuber 1929 dem Föhrer einen Knopf an der Unterhose wieder angenäht hat. Wir wissen um die Rolle von Eva Braun, von deren Existenz im Volk damals keiner eine Ahnung hatte. Wir wissen alles über die Gestapo, die Lager, die Methoden und die gesamten Abläufe in der Zeit des Tausendjährigen Reichs.

Ich bin ja davon überzeugt, dass jemand, der nicht weggeschaut hat, vieles hatte oder hätte wissen können, von dem später behauptet wurde, man habe davon nicht die geringste Ahnung gehabt.
Viel zu offensichtlich war beispielsweise das Verschwinden der jüdischen Bevölkerung, das Versteigern ihres Hab und Gutes und die Übernahme von ehemalig jüdischen Wohnungen, Häusern und Betrieben.

Von Schuld will ich hier gar nicht reden. Meine Eltern waren keine Nazis, keiner aus beiden Familien war in der Partei. Aber man hat sich doch sicherlich, so wie Millionen andere, mit dem Ganzen arrangiert. Ich jedenfalls habe aus dem sorgsam erarbeiteten Buch eines Lehrerehepaars aus Essen-Steele viel vom schrecklichen Schicksal der jüdischen Familie Marcus erfahren. Ein schönes Ess-Service, das heute noch existieren dürfte, wurde bei uns nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Und es wurde auch immer erwähnt, dass dieses Essservice meiner Mutter von der Jüdin Frau Marcus geschenkt worden sei. Ich kann das heute in Kenntnis der wahren Umstände nicht mehr glauben. Viel wahrscheinlicher ist es, dass meine Mutter dieses Geschirr bei der Versteigerung der Sachen dieser Juden erworben hat. Ich bin auch davon überzeugt, dass meine Mutter, die die Familie Marcus gut gekannt und sehr gemocht hatte, die Sachen ganz bestimmt genau aus diesem Grund gekauft hat. Ob sie eine Ahnung hatte, was mit den Leute passiert ist?
Kann ich sicher sein, dass der Teddy von meiner Oma nicht auch aus so einer „Haushaltsauflösung“ stammt?

Wollte man das überhaupt wissen? Wie viel kann man verdrängen?

Wie geht es einem im Nationalsozialismus, wenn man nur Positives hört und sieht, Negatives verdrängt oder gar nicht erst erfährt?

Hinterher ist man immer schlauer. In der Rückschau können alle viel dazu sagen, ob sie Guido Knopp oder Sönke Neitzel heißen. Mit dem, was wir heute wissen, können wir uns nicht vorstellen, wie damals jemand hat dem System folgen können.
Aber jetzt mal im Ernst: Hätten wir uns dem entziehen können?



1 https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsarbeitsdienst#Dienstgrade
2 https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4usler
3 Der Teddy, den sie mir damals schenkte, sitzt heute noch im Schlafzimmer auf der Fensterbank.

Bildquellen:

  • nazibaer: KI generiert Peter Wilhelm


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Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 6. Februar 2024

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