DIREKTKONTAKT

Geschichten

Der Ostpreuße siegt

Friedhof Ost, Eingang 03, bis hier höre ich die Orgel, völlig falsch wird sie gespielt, und es schmerzt in meinen Ohren …

Wieder so ein kleiner Landfriedhof, bei dem man als Bestatter warten muss, bis die Trauerfeier vorbei ist, bevor man einen Sarg ausladen darf. Für mich bedeutet das, dass ich den Bestattungswagen, langsam rückwärts an die Halle fahre, schon mal die Heckklappe aufmache und mich dann zum Friedhofsaufseher begebe. Es gilt, ein bisschen Schönwetter zu machen, um seine Motivation zu steigern, mir nachher beim Ausladen behilflich zu sein. Solche Touren fahre ich allein, da immer zwei Mann zu schicken, wäre zu aufwendig.

So sitze ich im schäbigen, wasserstockigen Büro des Verwalters,

trinke einen überraschend guten Kaffee, den er mir eingeschenkt hat und genieße den Duft welkender Blumen, der durch das kleine geöffnete Fenster hereinzieht.
Blumen, die so kurz vor dem Verwelken stehen, riechen meist besonders betörend und auf Friedhöfen sind mitunter Dutzende Gräber gleichzeitig hoch aufgetürmt mit solchen Blumen bedeckt. Es ist eine Melange aus etwas Süßlichem, einer Vanillenote und etwas frisch Fruchtigem, überlagert von einer fast schon orientalisch anmutenden Grundnote, wie man sie sonst nur auf den Basaren fremder Länder wahrnehmen kann.

Aus der kleinen Trauerhalle ertönt wieder jaulend das unter den Händen einer nicht talentierten Person quälend schief gespielte Musikorgan. Der Verwalter ächzt und seufzt, während er sich, von Rückenschmerzen geplagt, erhebt und durch einen Knopfdruck die dünn bimmelnde Totenglocke in Gang setzt. Auf einem speckigen Pappschild neben dem Knopf steht in ungelenken Druckbuchstaben: „Nur ämohl drigge, kapudd“ – Nur einmal drücken, kaputt.
„Die hört sonst nimmer uff“, kommentiert der Schmerzbehaftete sein Tun und lässt sich dann wieder in seinen durchgesessenen Sessel fallen, der wahrscheinlich in seinem vorherigen Leben schon einmal ein jahrzehntelanges Dasein als Wohnzimmermöbel hinter sich gebracht hat.

Vier Sargträger, die der Bestatter in dieser Gegend immer selbst besorgen muss, schieben einen Sarg aus der kleinen Halle heraus, ihm folgt eine ganz niedlich aussehende Pastorin und eine sehr überschaubare Zahl an Trauergästen. Vielleicht sechs oder sieben Leute.

„Dann will ich mal“, sage ich, trinke den letzten Schluck Kaffee aus und begebe mich zum Bestattungswagen, um den Sarg von Herrn Szisgornik auszuladen, der übermorgen hier beerdigt werden soll.
Ich biege um die Ecke und halte verdutzt inne. Was mich so dutzt, ist eine junge Frau in einem Wickelkleid, die auf der Haube des Leichenwagens ein kleines, halbnacktes Kind mit Feuchttüchern traktiert. Dass es sich bei dem kleinen Brüllaffen um einen Knaben handelt, ist offensichtlich. Nicht jedoch abzuschätzen vermag ich, wie alt so ein Kackling ist. Ich würde mal sagen, er befindet sich in der von mir selbst geschaffenen Altersklasse: Kann so gerade eben laufen und geht noch nicht in den Kindergarten.

Der Knabe hat sich ganz augenscheinlich während der Trauerfeier vollgekackt. Die kleidgewickelte Frau ist gerade dabei, ihn aus einer dementsprechend gefüllten, nein, man muss sagen überlaufenden Windel zu befreien. Die Windel legt die Frau kurz vor der Windschutzscheibe ab und ich sehe, wie leicht gärender Darminhalt des offenbar ausschließlich mit grünen pflanzlichen Erzeugnissen ernährten Quengelknaben in die Ritzen läuft, in die sonst eher abgestreiftes Regenwasser von der Frontscheibe hineingehört.
Aus einer Plastikdose mit Schnappdeckel zieht die Frau in rascher Folge zig Feuchttücher und versucht damit zu retten, was zu retten ist. So ganz fertig scheint der Bube nämlich mit der Abgabe von Darminhalt noch nicht zu sein. Mit anderen Worten: Der Frischling kackt mir unentwegt seinen Netzmagencontent auf die Motorhaube …

„Na denn“, murmele ich, schiele zum Wasserhahn an der Hauswand und hoffe, dass der Verwalter irgendwo einen Schlauch, zur Not aber doch wenigstens einen Eimer aufbewahrt.

„Lass sie gewähren“, denke ich, „bloß nicht auf ein Gespräch einlassen“. Wer auf die Idee kommt, sein sich in Fäkalien windendes Gebärnis ausgerechnet auf der Haube eines mit einem Leichnam beladenen Fahrzeugs zu windeln, der kann im Kopf nicht ganz dem entsprechen, was man landläufig als der Spezies Homo sapiens zugehörig erachtet.

Ich gehe um den Wagen herum, die Frau beachtet mich soweit gar nicht und der eben eingetroffene Friedhofsmann und ich ziehen den Sarg mit Herrn Szisgornik halb aus dem Wagen, weiter kommen wir nicht.

„Sie! Sie da!“, ruft die Frau von vorn: „Sie wollen doch wohl jetzt nicht ernsthaft … Also, Sie wollen doch nicht ernsthaft …“. Sie hat Schnappatmung. „Das ist doch wohl keine Leiche drin?“

„Ja, was denken Sie denn, was in einer länglichen, köpergroßen, braunen Holzkiste mit einem Kreuz auf dem Deckel drin sein könnte?“, frage ich zurück, ohne eine Antwort zu erwarten und füge noch hinzu: „Sie sind sich schon des Umstandes bewusst, dass wir uns hier auf einem Friedhof befinden?“

„Ach so! So einer sind Sie! Kinderfeindlich, familienfeindlich, so was finde ich asozial, jawoll asozial!“

Ich halte immer noch rund vierzig Kilo mit den Händen und entschließe mich, zunächst den Sarg auf den Rollwagen zu laden, wobei mir der Friedhofsarbeiter hilft, der den Wagen dann wegfährt.
Dann schließe ich für eine Sekunde die Augen, atme tief durch und nutze dieses Nu, um die Entscheidung zu fällen, ob ich auf den Vokabularscheiß der Frau eingehen soll oder lieber nicht.

Der ostpreußische Pragmatiker in mir sagt: „Junge, Du hast schon echte Scheiße auf der Motorhaube, das langt. Den Mist aus dem Mund dieser Frau brauchst Du nicht auch noch.“
Der Satiriker in mir sagt: „Na hoppla, gib dem Affen Zucker und schaue, was noch alles passiert.“

Es ist Freitagnachmittag, das Wochenende dräut, der Ostpreuße siegt.


Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

keine vorhanden

Geschichten

Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 6 Minuten | Tippfehler melden | © Revision: 13. Oktober 2022 | Peter Wilhelm 13. Oktober 2022

Lesen Sie bitte auch:


Abonnieren
Benachrichtige mich bei
13 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Winnie
1 Jahr zuvor

Zitat: Friedhof Ost, Eingang 03, bis hier höre ich die Orgel, völlig falsch wird sie gespielt, und es schmerzt in meinen Ohren …

Beim Lesen kam mir im selben Moment das Lied „Über den Wolken“ von Reinhard Mey in den Sinn. Hatte ich auch noch nicht, dass ich einen Text „singe“. War mal echt eine neue Erfahrung. 🙂

Igge
1 Jahr zuvor

Passt zwar nicht hierher…..aber immer wenn ein überdimensionaler mindestens adlergroßer Vogel Durchfall hat dann fliegt er über mein Auto….s’isch so!

Alwin
Reply to  Igge
1 Jahr zuvor

El condor pasa …

Angelinolwi
1 Jahr zuvor

Ja, yes, oui, gib’s Ihr!
Und bitte lass uns daran teilhaben, ich bibbere nägelkauend dem gewiss erquicklichen Ergebnis entgegen!

Josef
1 Jahr zuvor

Ein Kind auf der Motorhaube eines fremden Autos wickeln, sowas habe ich auch noch nicht gesehen.

Carina F
Reply to  Josef
1 Jahr zuvor

Habe ich auch schon auf der Kühltheke (Kühlschrank) im Discounter gesehen…..
Auf der Motorhaube einer Hochzeitskarosse wäre auch cringe!

Brigitte
1 Jahr zuvor

Fast ein bisschen schade, dass der Ostpreuße gesiegt hat. Ich glaube, die Diskussion hätte uns beim Lesen hier auch noch Spaß bereitet. 😉
Bei mir wäre es auf jeden Fall 100% der Satiriker gewesen. Ich bin immer wieder von den Socken, wie unverfroren manche Menschen doch sind.

Michel
1 Jahr zuvor

Ein Ostpreusse lässt sich eben nicht aus der Ruhe bringen. Motto: watt schall ich mich mit so’n Kreet streiten?

Carina F
1 Jahr zuvor

Ein veganes? Baby kackt auf dem Friedhof die Motorhaube eines Leichenwagens voll…. für „verquert“ denkende Leutz vielleicht ein „Zeichen“ für die ultimative Freiheit? (Oh und Sorry an vegane Menschen mit Anstand!)

Ela
1 Jahr zuvor

Wirklich sehr interessant.

1 Jahr zuvor

Das wär ja was…vor die Trauergemeinde treten zu müssen „leider verzögert sich es jetzt etwas, weil eine ihrer Trauergästinnen es unangemessen und familienunfreundlich findet, zu einer Beerdigung den Verstorbenen mitzubringen und dann auch noch unter die Erde bringen zu wollen“.
Eien Diskussion mit ihr wäre jetzt zwar amüsant zu lesen gewesen, aber sinnlos. Die merkt nix mehr. Das arme Kind.

Tim
1 Jahr zuvor

Danke für den interessanten und originellen Artikel namens „der Ostpreusse siegt“. Ich wünsche https://bestatterweblog.de weiterhin viel Erfolg. Mach weiter so und bleib originell.

1 Jahr zuvor

Guten Tag,

Vielen Dank für deinen Beitrag! Ich mag deinen Schreibstil sehr. Wie oft werden hier solche Texte veröffentlicht?

Beste Grüße
Graffitiartist




Rechtliches


13
0
Was sind Deine Gedanken dazu? Kommentiere bittex
Skip to content