Geschichten

Die Nachtigall -1-

Sie hat das Papiertaschentuch, das ich ihr gegeben habe, so lange zwischen ihren Händen zerwirkt, daß schon kleine weiße Fussel auf den Boden fallen und ihre schwarze Trauerkleidung mit einem Schnee der Trauer überziehen.
Ihre Augen erinnern an ein Meer im Süden. Selbst durch den Schleier ihrer Tränen hindurch kann man erkennen, daß es wunderschöne blaue Augen sind.

Nein, sie ist keine schöne Frau. Zumindest nicht im Sinne dessen, was heute so als schön angesehen wird. Aber ich habe da sowieso meine eigene Sichtweise. Ich denke, daß jeder Mensch etwas Schönes hat. Das kann eine schöne Stimme sein, eine schöne Art zu sprechen, natürlich das Aussehen und vieles mehr, jedenfalls beschränkt sich meine Sicht nicht nur auf den ersten Eindruck.
Na ja, vielleicht ist sie doch schön, wenn ich es mir so recht überlege. Dieser leichte Silberblick macht sie eher interessant, als daß er sie entstellt. Und das etwas vorstrebende Kinn gibt ihrem Gesicht einen etwas trotzigen oder schmollenden Ausdruck.

Wie alt mag sie sein? Ich müßte es doch wissen, ihr Ausweis liegt vor mir, doch ich will meinen Blick nicht von ihr abwenden, denn sie spricht und es wäre unartig, ihr nicht meine ganze Aufmerksamkeit zu schenken.
Jetzt tupft sie mit dem Taschentuch ihre Augenwinkel trocken und ich wage einen schnellen Blick auf den Ausweis. Sie ist 29 Jahre alt.

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Bis gerade eben hat sie davon gesprochen, wie sehr sie ihren Mann, der kalt und tot bei uns unten im Keller liegt, geliebt habe. Wie lange es gedauert habe, bis sie zu dem 30 Jahre älteren Mann Zuneigung empfunden habe.

„Nein, ich muß das anders sagen. Eigentlich habe ich ihn von der ersten Sekunde an geliebt, ich habe mir das aber nicht eingestehen wollen. Sie wissen schon, wegen des Altersunterschieds.“

Ich nicke. Sie spricht von den vielen schönen Jahren, vom Luxus, in dem sie leben durfte, von den schönen Reisen, dem Haus an der französischen Atlantikküste, von teuren Autos, Pelzen, Schmuck und großen Abendgesellschaften.
Die Namen der Gäste, die sie aufzählt, sind allesamt Berühmtheiten. Nicht irgendwelche Promis, sondern Menschen, deren Namen auf der ganzen Welt einen Klang haben.

Und dann fällt der Satz, der mich elektrisierte und aufhorchen ließ.

Ein Seufzer, ihr Blick geht nach oben, als ob es an der Decke etwas Besonderes zu sehen gäbe, dann schaut sie mir direkt in die Augen und sagt: „Ach Gott, bin ich froh, daß das vorbei ist. Ja, ich bin froh, daß er endlich tot ist!“

– Fortsetzung folgt –

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