Geschichten

Doppelt zum selben Preis

Eingroßer dicker Mann hält die Tür einer Trauerkapelle für eine kleine alte Frau offen

Ich lehne mich nicht weit zum Fenster hinaus, wenn ich sage, dass es ein Segen ist, zu sterben, wenn man im fortgeschrittenen Stadium Chorea Huntington hat.

Chorea Huntington ist eine sehr schlimme Krankheit, die in Deutschland vor allem früher auch als Veitstanz bezeichnet wurde. Wer mag, kann gerne den sehr guten Wikipedia-Artikel zu dieser Krankheit einmal lesen, den ich unten verlinke.
Kurz erklärt ist Chorea Huntington eine unheilbare Erkrankung des Gehirns, die zwangsläufig zu Demenz, Wahnsinn und gestörten bis extremen Bewegungsabläufen und immer zum Tode führt.
Die Witwe eines ehemaligen Kriegskameraden meines Vaters, zu dessen Familie wir früher viel Kontakt hatten, war an Huntington erkrankt. Anfangs nur etwas vergesslich, wurde die Frau innerhalb von drei Jahren so verrückt, dass sie in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden musste. Charakteristisch für eine Phase der Erkrankung ist das Herumschlagen mit Armen und Beinen, was wie ungelenke Tanzbewegungen aussieht und für den Veitstanz namensgebend ist. Die Frau hat uns sehr leidgetan.

Noch mehr dauerten mich die drei Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, die so mit zwei bis drei Jahren Abstand mit mir etwa gleichaltrig waren. Da die Krankheit strikt vererbt wird, erkranken die Nachkommen mit einer 50%igen Sicherheit ebenfalls an dieser tückischen Krankheit.
Ich habe mich oft gefragt, ob die Drei Glück gehabt haben, oder ob sie das Schicksal ihrer Mutter teilen mussten.

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Auch Herr Kuhnert ist an Huntington gestorben. Im Endstadium der Krankheit ist es ganz oft so, dass der gesteigerte Bewegungsdrang und die innere Unruhe so viel Energie verbrauchen, dass durch normales Essen gar nicht mehr genug Energie zugeführt werden kann. Hinzukommt, dass die Betroffenen meist auch nicht mehr richtig schlucken können.
Die Witwe, eine einfache und redliche Frau, hatte ihren Mann, der schon vor über fünf Jahren in ein Landeskrankenhaus gebracht worden war, seitdem nicht mehr gesehen. Nur einmal war sie dort gewesen, um ihren Kurt zu besuchen. Ihre Schwester und ihr Hausarzt hatten ihr dann klar gemacht, dass es besser sei, sich mehr oder weniger von ihm zu verabschieden und ihn schlicht und ergreifend seinem Schicksal zu überlassen. Der Mann war, so die Überzeugung seiner Ärzte, nicht mehr in der Lage, Personen zu erkennen, seine Umwelt richtig wahrzunehmen und sich an sein Vorleben zu erinnern.

Als wir Kurt Kuhnert aus der Pathologiekapelle der Einrichtung abholten, war von dem ehemals stattlichen Maschinenschlosser nur noch ein abgemagertes Männchen übrig. Trotz künstlicher Ernährung bestand er nur noch aus Haut und Knochen.
Für seine Frau Amalie aber war er immer noch „der schöne Kurt“. Sie hatte ihn noch so in Erinnerung, wie er in gesunden Zeiten war, ihre Erinnerung an ihn war sozusagen vor fast zehn Jahren stehengeblieben. Selbst erste Anzeichen der Krankheit hatte die Witwe ausgblendet.

Ich mag es nicht bewerten, ob es gut ist, einen Kranken ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu besuchen. Das muss man wohl jeweils im Einzelfall entscheiden und es wäre sicherlich verkehrt hier zu moralisieren.

Amalie Kuhnert saß also bei uns im Bestattungshaus, trank schon die dritte Tasse Kaffee („Ihr habt da so’n schönen Schaum drauf!“) und suchte ihrem Kurt einen sehr schönen Mahagoni-Sarg aus. Da dieser aber sehr teuer war und ich den Eindruck hatte, dass Frau Kuhnert nicht gerade auf Rosen gebettet war, riet ich ihr zu einem Schweizer Sarg. Diese Sargmodelle aus der Schweiz bestehen aus Pappelsperrholz und sind laminiert. Auf einem stabilen, neutralen Holz ist also im Grunde genommen, wie bei Laminatfußböden, unter einer dicken Schicht Harz und Lack mit Mahagonimuster bedrucktes Papier aufgebracht.
Und so, wie man bei guten Laminatböden nicht sieht, dass das keine echte Holzoberfläche ist, konnte man das auch bei diesen Särgen aus der Schweiz nicht erkennen. Im Gegenteil, ich fand sie immer ganz besonders hübsch und habe sie gerne im Sortiment gehabt und verkauft.
Besonders das Modell in „Esche grau“ sah außerordentlich gut aus.

Aber auch der Sarg in Mahagonioptik machte ordentlich was her. Da goldfarbene Griffe dran, das wirkt klasse.
Vor allem aber kostete er nur ein Viertel von dem, was die für den abgemagerten Mann viel zu pompöse Mahagonitruhe gekostet hätte. Wie ihr Mann aussah, das habe ich der Witwe nicht erzählt, wozu auch? Sie wollte ihn auch nicht mehr sehen und so blieb Kurt Kuhnert eben der schöne Kurt, der mit muskulösem nacktem Oberkörper von einem Urlaubsbild im Wohnzimmer herablächelte.

Kinder hatte das Ehepaar keine. Ich merkte, dass Frau Kuhnert das bedauerte, sie hätte wohl gerne welche gehabt. Ich war ehrlich gesagt etwas erleichtert, als ich hörte, dass da kein Nachwuchs existiert.
Das mag jetzt hart klingen, aber es ist für mich sehr schwierig, das im Kopf richtig zu sortieren und ich weiß nicht, wie man damit umgehen soll, wenn man weiß, dass ein Elternteil diese schreckliche Krankheit hat, und man selbst mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls daran erkranken kann …

Der Tag der Beerdigung ist da. Sein Grab soll der schöne Kurt auf dem Hauptfriedhof bekommen. Beerdigt wird dort im 30-Minuten-Takt. Während die Musik des vorherigen Sterbefalls noch dudelt und die Trauergäste hinten die Halle verlassen, strömen von vorne schon die nächsten nach.
Es gibt zwar 10 Minuten Umbauzeit, aber die Leute wollen ja nie warten.

Ich stehe mit dem Kondolenzbuch unterm Arm vor der Trauerhalle und warte, dass der Kollege das Buch von der vorherigen Feier wegräumt. Wir quatschen ein bißchen über dies und das. So ein richtiges Gespräch kommt da nicht auf, zu groß ist die Konkurrenz untereinander.
Ein paar Trauergäste für die Feier von Herrn Kuhnert sind auch schon da, nur die Witwe fehlt noch.

Der schwitzdicke Friedhofsangestellte, den alle immer nur „die Qualle“ nennen, reißt die beiden Türflügel der Halle auf. Das ist das Zeichen für uns, dass es losgeht. Wir sehen noch die Gäste der vorigen Feier hinten rausgehen. Und hinter der Qualle, der einer der unfreundlichsten Menschen in diesem Universum ist, kommt Frau Kuhnert aus der Trauerhalle. „So schön war das! Das haben Sie ganz prima organisiert!“

Ich stehe mit offenem Mund da.

Frau Kuhnert hatte sich früh zum Friedhof fahren lassen, viel zu früh. Und als dann die Tür zur Trauerhalle aufging, war sie mit hineingegangen, hatte sich brav zu den Leute in die erste Reihe gesetzt und hatte so viel weinen müssen, dass sie von der Ansprache des Pfarrers, die einem ganz anderen gegolten hatte, gar nichts mitbekommen hatte.
Auch der dicke Kranz mit der Schleife eines großen Energieversorgers, bei dem der andere Verstorbene im Vorstand gewesen war, hatte sie nicht gewundert. „Nein, wieso, wir haben doch auch immer unseren Strom von denen bekommen!“

Ja, ob es sie den nicht gewundert hätte, dass sie niemanden gekannt habe, das seien doch alles Fremde gewesen. „Ach, in schwarzer Kleidung sehen die doch alle gleich aus und außerdem hatte ich immer Tränen in den Augen.“

So kam es, dass Amalie Kuhnert an diesem denkwürdigen Mittwoch im Oktober ihren schönen Kurt gleich zweimal verabschiedet hat. Doppelt zum selben Preis.

Chorea Huntington in der Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Chorea_Huntington

Bildquellen:
  • fremde: Peter Wilhelm KI


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Die Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Die Geschichten haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Die Namen, Geschlechter und Berufe der erwähnten Personen sind stets verändert.

Lesezeit ca.: 9 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 1. Oktober 2024 | Revision: 12. Oktober 2024

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6 Kommentare
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2 Monate zuvor

Ich habe selten bei einer Trauergeschichte so herzlich gelacht – aber ich habe damit nicht die Witwe ausgelacht, sondern einfach über die treffende Bemerkung „Doppelt zum selben Preis“
Dankeschön

Queen All
2 Monate zuvor

Irgendwie rührend und putzig zugleich. Man schließt die alte Dame beim Lesen richtig ins Herz!

Tia
2 Monate zuvor

Dieser „Schweizer Sarg“, verzögert dieser nicht aufgrund seiner Machart den Prozess des Vergehens?
Also aus dem Gesichtspunkt dass der Sarg zu lange stabil bleibt und nicht im Laufe der Jahre zusammenfällt.

Tia
Reply to  Peter Wilhelm
2 Monate zuvor

Vielen Dank, das ist interessant!




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