Geschichten

Eine unheimliche Besucherin

Ich habe rote Ränder um die Augen und dabei habe ich noch nicht einmal gesoffen. Mein Schädel brummt und ich gucke wie durch Watte in die Welt. Das verbessert nicht unbedingt meine Laune, denn so wie es aussieht habe ich heute viel zu tun. Trotzdem bin ich nicht wirklich sauer, eher durchweg erstaunt und amüsiert und beeindruckt.

Losgegangen ist es gestern Abend um kurz vor Mitternacht. Ich bin ganz allein im Haus, meine Frau ist mit den Kindern seit gestern am späten Nachmittag verreist. Wegen des Feiertags am Mittwoch hat die Schule des einen Kindes Donnerstag und Freitag zu sogenannten Brückentagen erklärt und die Schule der anderen Kinder den Montag und Dienstag… Ich habe kurzerhand beschlossen, daß alle Kinder die ganze Woche freihaben, dann kann meine Frau es endlich mal wahr machen und mit den Kindern zu einer Bekannten an den Bodensee fahren.

Ursprünglich wollte ich mir ja eine Flasche Wein aufmachen und bei etwas lauterer Musik den Abend ausklingen lassen. Ich mach’ das gerne in unserer Trauerhalle, da haben wir nämlich die beste Beschallungsanlage und die beste Akustik. Es war also so gegen 23.45 Uhr als ich mit einer Flasche „Pissoir de la Closett 1984“ (oder so) die Treppe hinunterging und gerade nach links abbiegen wollte, als es gegen die Haustüre hämmerte. Ich habe mir zwar nichts vorzuwerfen, aber es hämmerte so gegen die Tür, daß ich unwillkürlich an Polizei, Steuerfahndung, die Gestapo oder einen Gerichtsvollzieher auf THC gedacht habe. Also stellte ich die Weinflasche und das Glas unten neben der Treppe auf eine Holzsäule und ging zu der großen Holztüre. Die hat oben Buntglas und der Erbauer war so freundlich, eines dieser Glasfelder aufklappbar zu machen, sodass man rausgucken und raussprechen kann, ohne die ganze Tür öffnen zu müssen.

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Der Riegel klemmte etwas, wir brauchen ihn nicht oft, denn vom Büro aus gucken wir nur auf einen Monitor. Ich notierte im Kopf, daß es nicht schlecht wäre, unten auch einen Monitor zu haben. Als ich das Fensterchen endlich aufhatte, polterte es schon wieder vor die Tür. „Was ist denn?“ fragte ich und ich gebe zu, meine Stimme muß unwirsch geklungen haben. Draußen stand eine Frau von etwa 30 Jahren mit klitschnassen Haaren und das, obwohl es gar nicht regnete. „Bitte lassen Sie mich doch herein, bitte!“, flehte sie mich an und weil sie kein bißchen aussah wie ein ruppiger Finanzfahnder, öffnete ich die Tür und ließ sie ein.

Sie ging mit zwei, drei großen Schritten an mir vorbei, bis zur großen Palme und sagte: „Machen Sie schnell zu, machen sie zu!“
Was denkt ein Bestatter, wenn um diese Zeit jemand kommt? Na klar, er macht sich Hoffnung auf einen Auftrag. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß irgendjemand kommt und einfach klopft oder klingelt, um einen Sterbefall anzumelden. Doch warum, um alles in der Welt, hat die nasse Haare?

„Sind alle Türe zu?“, fragt sie mich mit weit aufgerissenen Augen und ich nicke.
„Sind wir hier sicher?“
Ich nicke abermals: „Wie in Abrahams Schoß!“

„Kommen Sie“, sage ich, knipse das Licht im rechten Gang an und deute auf die Tür eines unserer Beratungszimmer, sie macht jedoch keine Anstalten, ihre Position bei der großen Palme zu verlassen. „Was ist denn da hinter der Tür?“ will sie wissen.
„Ein gemütliches Zimmer, wo wir uns bequem setzen können“, sage ich und füge noch hinzu: „Ganz sicher, da kommt keiner rein.“
Mit zögernden Schritten folgt sie mir und ich führe sie in unser Beratungszimmer Nummer 2. Wir haben mehrere solcher Räume und jeder ist völlig anders eingerichtet. Einer ist in nüchternem Office-Grey gehalten, ein anderes ist eher auf Chefbüro getrimmt und dieses Zimmer 2 ist mit Holz getäfelt, hat einen dicken Teppichboden und schweres dunkles Mobiliar sowie breite, saubequeme Ledersessel. Meine Leute sagen immer „das Herrenzimmer vom Chef“ dazu, weil ich mir diese Möbel ausgesucht hatte.
Ich deute auf einen der Sessel und die junge Frau nimmt Platz. Ich schließe die Tür und setze mich ebenfalls. Jetzt habe ich das erste Mal Gelegenheit, mir die Frau näher anzuschauen. Sie sieht nicht schlecht aus, finde ich. Ein bißchen wie Sandra Bullock, nur irgendwie ungepflegter. Doch noch während ich das dachte, ging mir durch den Kopf, daß ‚ungepflegt‘ nicht der richtige Ausdruck war, eher würde ‚mitgenommen‘ passen. Ränder unter den Augen, bebende Lippen, ihre Finger ständig nervös an den unteren Zipfeln ihrer Bluse nestelnd. Auffallend lange, braune Haare und wunderschöne schlanke Hände mit ebenfalls auffallend langen Fingern. Keine Schminke, aber ein leichter Duft nach ‚Angel‘. Nein, nicht ungepflegt, sondern gehetzt und mitgenommen.

„Was kann ich denn für Sie tun?“

„Hier kann keiner rein, nicht wahr?“

„Nein, niemand. Was ist denn mit Ihnen?“

Jetzt müsste sie mir sagen, daß irgendjemand gestorben ist, daß sie vollkommen durch den Wind ist und daß wir uns um den Sterbefall kümmern sollen. Das hoffte ich zumindest insgeheim, aber wenn ich ehrlich bin, wusste ich schon die ganze Zeit, daß es nicht so kommen würde.

„Ich habe solche Angst“, beginnt sie stockend, „die sind hinter mir her!“

„Wer ist hinter Ihnen her?“

„Die Männchen aus dem Fernseher“, sagt sie, schaut mich mit großen Augen an und nickt bestätigend.

‚Eine Bekloppte!‘, schießt es mir durch den Kopf und ich ertappe mich dabei, wie ich sie mustere, um festzustellen, ob sie vielleicht irgendwo ein langes Messer versteckt haben könnte. Bekloppten soll man ja möglichst nicht widersprechen und deshalb sage ich nur langsam nickend: „Ach die.“

„Sie kennen das?“, fragt sie und in ihrer Stimme schwingt Erleichterung mit.

Ich nicke mal und schaue sie auffordernd und ermunternd an. „Kaffee?“, frage ich sie und sie nickt heftig. Es dauert 3 Minuten, bis der Kaffeeautomat auf der Anrichte links auf Betriebstemperatur ist. Wir schweigen in dieser Zeit und als nach gut 5 Minuten endlich zwei mühselige Tassen Kaffee aus der Maschine geleiert sind, stelle ich eine Tasse vor sie auf das Tischchen und eine neben meinem Sessel auf eine Ablage. Aus der Brusttasche ziehe ich mein Päckchen Marlboro und halte es ihr hin. Während sie sich eine Zigarette rauszieht, sagt sie: „Das geht heute schon den ganzen Tag so, das ist ein schlimmer Tag. Das fing schon morgens mit der Zeitung an.“
Ich gebe ihr Feuer und stecke mir auch eine an, sie saugt gierig an der Zigarette und ich habe den Eindruck, als wenn sie etwas auftauen würde.

„Warum haben Sie denn nasse Haare? Wollen Sie ein Handtuch oder sowas?“ frage ich, doch sie schüttelt den Kopf und sagt: „Das ist kein Wasser, das ist Schutzgel.“

„Ach ja, natürlich“, sage ich und überlege insgeheim, ob ich mich für einen Augenblick nach nebenan begeben soll, um die Männer mit den weißen Kitteln anzurufen. Aber eigentlich ist die ganz nett und sie macht nicht den Eindruck, als wolle sie mir die Kehle durchbeißen.

Nachdem sie ein paar Mal am heißen Kaffee genippt hat, lehnt sie sich zurück und es scheint, als entspanne sie sich noch mehr. Ich hole zwei Aschenbecher und setze mich ebenfalls wieder. „Los, jetzt erzählen Sie doch mal der Reihe nach!“

„Also gut! Ich bin aufgestanden und habe die Sonntagszeitung reingeholt und da habe ich es gesehen. Die haben wieder nur Sachen in die Zeitung geschrieben, um mich zu manipulieren. Seit 15 Jahren sind die hinter mir her.“

„Wer ist hinter Ihnen her?“

„Die Weltregierung, der KGB und die CIA, alles Agenten, überall!“

„Und was machen die so?“

„Die haben die ganze Stadt ausgehöhlt, überall Tunnel gegraben und bei Nacht kommen sie heraus und holen die Menschen. Die Straßen sind gerade wieder vollkommen leer, alle weggeholt. Morgen früh sind die alle wieder da – nach der Gehirnwäsche. Mit mir können sie das nicht machen, ich habe dieses Schutzgel.“

Ich erfahre, daß die Frau älter ist, als ich angenommen hatte, sie ist schon 38 und die ganze Geschichte ist vor 15 Jahren losgegangen. Seitdem, so berichtet sie mir, werde sie verfolgt, ausspioniert und manipuliert. Über das Trinkwasser habe man Gift in ihre Wohnung eingeschleust, um sie willenlos zu machen und in den Supermärkten tauschten die Geheimdienste alle Lebensmittel aus, um noch mehr Drogen in Verkehr zu bringen. Das Ziel sei es, alle ‚Sehenden‘ blind zu machen für die Wahrheit. Die Welt würde nämlich von Außerirdischen regiert und die Geheimdienste hätten die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß das keiner merkt. Allerdings funktioniere der Plan der Geheimdienste nicht bei allen Menschen und deshalb seien die Agenten hinter diesen ‚Sehenden‘ her.

Auweia, ist die aber heftig vom Bus gestreift, denke ich und frage vorsichtig: „Und weshalb sind sie zu mir gekommen?“
„Bei Ihnen war noch Licht und ihr Haus hat dicke Mauern, da kommen die Strahlen nicht durch.“

Das macht Sinn. Sie spricht weiter: Schon über 40-mal sei sie in die Psychiatrie eingeliefert worden und müsse eigentlich permanent schwere Medikamente nehmen, das tue sie aber nicht, weil dann die Stimmen in ihrem Kopf weggingen. Sie hört 21 verschiedene Stimmen, die ihr Befehle geben und nur eine Stimme davon sagt ihr die Wahrheit und sagt ihr, wie das wirkliche Leben ist. Wenn sie die Tabletten nimmt, verstumme auch diese Stimme und sie sei ‚denen‘ ausgeliefert.

„Ist es Ihnen nicht schon mal komisch vorgekommen, daß wir jahrhundertelang nichts hatten, keine Technik, gar nichts und wie lange wir gebraucht haben, um von der Erfindung des Rades über den Bau der ersten mechanischen Uhren bis hin zur ersten Dampfmaschine zu kommen? Und dann hatten wir auf einmal den Transistor, die Taschenrechner, die Raumfahrt, die Computer, alles, einfach alles.“

„Und das kommt alles von denen?“, frage ich und sie nickt heftig: „Genau, ich sehe, Sie verstehen mich!“

Ganz offensichtlich habe ich es mit einer Frau zu tun, die schwer psychisch geschädigt ist, die jetzt jemanden gesucht und gefunden hat, um ihre Geschichte zu erzählen. Tante Hedwig hat auch in dem festen Glauben gelebt, ihr Gartennachbar sei in Wirklichkeit Adolf Hitler und nur sie merke das. Aber Tante Hedwig war im Krieg auch zu lange im Bunker gewesen und jeder wusste, daß die einen Schatten hatte; vor allem ist sie nie nachts mit einem ‚Schutzgel‘ in den Haaren durch die Straßen gelaufen…
Was mache ich jetzt? Geht die Frau irgendwann wieder oder werde ich tatsächlich irgendwo anrufen müssen. Und wo ruft man da an? Die Polizei, die Feuerwehr? Die Frau tut mir nichts und sie brennt ja auch nicht…
Am besten würde es sein, sie dazu zu bewegen, einfach wieder nach Hause zu gehen.

„Wo wohnen Sie denn?“

„Dort hinten, Nummer 29 am Ende der Straße.“

„Wohnen Sie da allein?“

„Nein, wo denken Sie hin, da wohnt auch mein Mann.“

Aha, einen Mann hat sie auch. Das beruhigt mich ungemein, jetzt muß ich nämlich nur noch herausbekommen, wie sie heißt oder wie ihre Telefonnummer ist und dann rufe ich den an, damit er sie abholt.

„Der ist aber gehirngewaschen! Mit dem gehe ich nicht mit, der bringt mich nur wieder weg.“

„Es wäre doch aber besser, wenn Sie jetzt wieder nach Hause gingen. Sie können doch nicht die ganze Nacht hier bleiben.“

„Nur ein bißchen noch, ja?“

„Und dann?“

„Nach Eins ist die Gefahr vorbei.“

Ich schaue auf die Uhr und obwohl es mir vorkommt, als seien Stunden vergangen, seit die Frau in mein Haus gekommen ist, sehe ich, daß es in Wirklichkeit erst eine knappe halbe Stunde ist. Bis Eins sind es noch mehr als 30 Minuten.
„Und dann, nach Eins, was machen wir dann?“

„Dann bringen Sie mich nach Hause und passen auf, daß die mich nicht in die Kanalisation ziehen, ja?“

„Das kann ich machen“, sage ich und nicke.

Sie nimmt sich noch eine Zigarette aus der Packung, ich gebe ihr wieder Feuer und sie pafft, nun wirklich sehr entspannt, vor sich hin. Einzig an den nervösen Bewegungen ihrer Hände sieht man, daß etwas nicht stimmt mit dieser Frau.

„Das Schlimmste für mich ist, daß mir keiner glaubt. Was meinen Sie, wie viele Leute ich schon kontaktiert habe. Sie sind einer der wenigen, die mir glauben.“

Sie berichtet, von ihren Erlebnissen mit der Psychiatrie. Wie sie mit Gurten gefesselt abgeführt und dann ruhiggespritzt worden sei. Die Therapeuten gehören ihrer Meinung nach zu ‚denen‘ und ich denke mir, daß -solange sie das glaubt- ihr niemand wirklich helfen kann.
Noch eine Stunde lang erzählt sie und ich habe den Eindruck, daß ihr das gut tut. Dann mahne ich zum Aufbruch und sie nickt nur.
Ich will sie nicht alleine lassen, weshalb ich mir keine Jacke von oben hole, sondern eine unserer Dienstjacken von der Garderobe im Flur nehme. Sie ist mir etwas zu groß, aber es ist ja späte Nacht, kurz vor zwei.

Vor dem Haus hängt sich die Frau einfach bei mir ein und ich habe den Eindruck, daß sie fröhlich ist, das Gehetzte ist völlig von ihr gewichen. Ich sage zu ihr: „Kommen Sie, wir gehen da drüben, da gibt es keine Kanaldeckel.“ Sie strahlt mich an.
Bis zur Hausnummer 29 ist es nicht besonders weit, etwa 10 Minuten. Es ist ein Mietshaus mit vier Klingeln. „Wo muß ich da klingeln?“, frage ich: „Oder haben Sie einen Schlüssel?“

Sie klingelt und ich schaue auf den Namen an der Klingel. Den Namen kenne ich, weiß aber im Moment nicht, woher. Wenige Sekunden später geht das Licht im Treppenhaus an und jemand kommt herunter. Die Tür geht auf und ein Mann steht vor mir. In diesem Moment weiß ich auch, woher ich den Namen kenne, es ist ein bekannter Stadtrat und ehemaliger Bürgermeisterkandidat.
Mit einem Blick hat er die Situation erfasst, nimmt seine Frau und führt sie ins Haus, mit einer Kopfbewegung bedeutet er mir, ihnen zu folgen.
In der Wohnung sagt er: „Gehen Sie doch bitte gerade durch und nehmen Sie Platz, ich komme gleich.“

Etwa 15 Minuten dauert es, bis er kommt: „Sie wird gleich einschlafen. Wenn sie ihre Mittel nimmt, dann geht es. Ich hoffe, sie hat Ihnen keine Umstände gemacht?“

Ich verneine und er nimmt mir gegenüber Platz.
Bis um halb Vier erzählt er mir von seiner Frau und ihrer Erkrankung. Eine leidvolle Geschichte voller Kummer und Leid. Sie hatte einmal Medizin studiert und kurz vor dem Examen war das losgegangen mit den Wahnvorstellungen, nicht schleichend, sondern Knall auf Fall in voller Stärke. Seitdem gibt es nur zwei Zustände, berichtet mir der Mann. Entweder dämmert sie unter Medikamenteneinfluss wie ein Zombie dahin oder sie lässt die Medikamente weg, dann hat sie einige Tage, an denen sie völlig normal scheint, bis es wieder so ist, wie heute Nacht.
„Aber was soll ich machen, ich liebe Katja eben“, sagt der Mann und in diesem Moment höre ich zum ersten Mal ihren Namen.
Er tut mir leid.

Jetzt sitze ich in meinem Büro und die Geschichte lässt mich nicht los. Unten steht immer noch meine Flasche Wein auf dem Podest.

© 01.10.2007

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