Geschichten

Elli

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

Ich habe Elli vor 62 Jahren kennengelernt, zwei Jahre später haben wir geheiratet.
Zu dieser Zeit hatte ich eine gute Anstellung beim Wasserwerk. Das war keine besonders schwere Arbeit, aber ich mußte oft am Wochenende raus. Besonders im Sommer war das manchmal schon lästig, wir hatten dann auch unseren Thomas.
Elli ist ja immer zu Hause geblieben und hat sich um Thomas gekümmert.
Einmal, da hat ihr jemand eine Stelle angeboten, aber ich habe gesagt: ‚Wenn wir nicht ganz so große Ansprüche stellen, kommen wir auch mit meinem Gehalt hin.‘
Sie hat dann die Stelle nicht genommen.

Ja, so war das damals, da hat der Mann bei solchen Entscheidungen noch mitbestimmen können. Aber Elli war mir nicht böse; hinterher hat sie sogar gesagt, daß das für Thomas besser war, daß sie sich um ihn kümmern konnte.

Wir waren ja immer in Holland in Urlaub. Ich glaube, wir waren 40 mal auf demselben Campingplatz. Erst mit dem Zelt, dann mit einem aufklappbaren Wohnwagen im Anhänger und später mit den Wohnwagen.
Thomas ist so gerne im Meer geschwommen.
Einmal ist Elli von einer Qualle gebissen worden. Die war dann feuerrot von oben bis unten, die ganze linke Seite. Mann, was muß die Schmerzen ausgehalten haben. Aber die kannte da nichts, die hat die Zähne zusammengebissen, immer die Salbe draufgeschmiert und wir haben den Urlaub fortgesetzt. Die jungen Hühner heute würden sich doch vom ADAC mit dem Hubschrauber nach Hause fliegen lassen.

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Nee, wir hatten eine schöne Zeit.
Ich hab mich krumm gelegt und gebuckelt, damit die beiden es schön haben konnten. Elli hat das ja auch verdient. Sie war so eine schöne Frau. Ich rieche heute noch, wie ihr Haar geduftet hat, als wir uns das erste Mal getroffen haben.

Maiglöckchen, ja, ich glaube, das war Maiglöckchenduft.

Wie ist das denn? Können Sie ihr ein bißchen Maiglöckchenduft in den Sarg tun? Ich glaube, das würde ihr sehr gut gefallen.
Die kann ja nichts mehr riechen, das weiß ich auch. Aber es würde mir ein gutes Gefühl geben.

Ansprüche hat die ja nie gestellt. Nee, meine Elli war sehr bescheiden. Klar, zwei-, dreimal im Jahr ist sie in die Stadt gefahren und hat sich Kleider oder Schuhe gekauft, aber ich habe nie gemerkt, daß das viel Geld gewesen wäre.
Und sauber war sie, die Elli! Was die geputzt hat und wie schön und gemütlich die unsere Wohnung gemacht hat, das war schon toll.

Ich bin ja mehr so für den Garten und so. Da hatte ich immer einiges an Gemüse. In einer Ecke habe ich aber auch immer Blumen gehabt, schön im Abstand von ein paar Wochen gepflanzt und so hat man immer schöne Blumen.
Da habe ich ihr beinahe alle zwei, drei Tage einen Strauß mit nach Hause gebracht.

Ist ja schlimm, daß ich ihre Stimme nicht mehr hören kann.
Ist doch komisch, oder? Ich kann mich noch an alles erinnern, was sie zu mir gesagt hat, aber ich weiß nicht mehr, wie ihre Stimme geklungen hat. Dabei ist sie jetzt doch erst seit zwei Tagen tot.
Wirklich! Ich weiß, daß sie eine schöne Stimme hatte, aber wie sie klang… keine Ahnung.

Als Thomas vor zehn Jahren gestorben ist, war das auch so. Ich höre ihn heute noch rufen, wenn er zu uns zu Besuch kam und gerufen hat: ‚Seid ihr zu Hause? Euer Thomas ist da!‘
Mir klingt das noch in den Ohren, aber nur die Melodie, die Worte, nicht der Klang seiner Stimme.

Elli ist da nie richtig mit fertig geworden. Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben.
Ich hab’s ja mehr in mich reingefressen. „Du sollst nicht immer alles in Dich reinfressen“, hat Elli immer gesagt, ich würde sonst noch Magengeschwüre davon bekommen, meinte sie.

Aber ich setz‘ mich doch nicht in der Küche auf die Eckbank und heule. Das habe ich bei Thomas Beerdigung getan und seitdem nicht mehr. Wenn es mir dreckig ging, bin ich runter in den Keller gegangen und habe Holz gehackt.
Dabei haben wir seit 30 Jahren keinen Ofen mehr. Das Holz hab ich dann meinem Nachbarn geschenkt, dem Fritz.

Gut, die letzte Zeit mit Elli war ja nicht so schön.
Erst hat man ja fast gar nichts gemerkt. Da war Elli ja auch schon weit über 70.
Da darf man als älterer Mensch ja auch schon mal was vergessen, oder?
Das waren lauter solche Kleinigkeiten. Zum Beispiel, das muß ich Ihnen erzählen, da sind wir zusammen aus dem Haus und wollten zum Markt. Elli schließt die Haustüre ab und dann dreht sie sich zu mir um und sagt: „Karl, ich glaub‘, ich hab‘ den Schlüssel drinnen vergessen.“
„Aber, Elli“, hab ich gesagt, „Elli, Du hast den Schlüssel doch in der Hand.“
Da hat sie den Schlüssel angeguckt, dann mich, dann wieder den Schlüssel und dann hat sie nichts mehr dazu gesagt.

Ja, im Alter wird man manchmal etwas wunderlich. Geht mir ja auch manchmal so.
Aber dann häuften sich solche Sachen. Gerade hat sie uns beiden Kaffee eingeschüttet, die Tassen sind voll, und da steht sie auf und geht in die Küche, um die Kanne mit dem Kaffee zu holen. Da stand sie dann vor den vollen Tassen und behauptete, ich hätte von irgendwoher den Kaffee geholt, sie hätte den nicht vorher eingegossen.
Dann hat’se geweint. Wahrscheinlich ist ihr da auch irgendwie bewußt geworden, daß sie nicht mehr alles behalten kann.

Der Doktor hat gesagt, das könne man nicht heilen und nicht aufhalten, das könne man nur etwas rauszögern. Sie solle sich viel geistig beschäftigen.
Haben’wer dann ja auch gemacht. Kreuzworträtsel, Quizspiele, alles mögliche.
Aber wenn Sie denken, man hätte bei den Kreuzworträtseln was gemerkt, dann täuschen sie sich. Stadt in Nordrhein-Westfalen, vier Buchstaben, zack, Unna, zack, wie aus der Pistole geschossen, Unna! Stellen Sie sich das mal vor, Unna!
Dabei waren wir noch nie in Unna.
Ja, ja, so war sie die Elli, immer blitzgescheit und immer auf dem Quivive, Unna!

Ich mein, daß sie sowas wie Unna weiß, zeigt ja, daß sie nicht dumm war.

Aber im Laufe der Zeit wurde das dann doch beschwerlich. Da hat’se dann auch Unna nicht mehr gewußt.
Sie hat sogar vergessen, daß sie gegessen hatte. Nee, ehrlich jetzt, die war gerade fertig und hatte einen ganzen Teller Griesbrei gegessen und kaum hatte ich das Geschirr weggeräumt, da hat sie gefragt, wann es endlich was zu Essen gibt.
Einmal kam ich vom Einkaufen nach Hause, da hat sie angefangen zu schreien und mit Sachen nach mir geworfen. „Was wollen Sie in meinem Haus?“ hat sie gerufen. Ich soll verschwinden, sie würde mich nicht kennen, und dann hat sie um Hilfe gerufen: „Hilfe, da sind fremde Männer in meiner Wohnung. Hilfe, die Verbrecher kommen!“

Is‘ aber nicht lange so gegangen, nur ein bis anderthalb Jahre oder so.

Dann ist’se ruhiger geworden. Da konnte sie aber auch schon nicht mehr laufen.
Gott sei Dank bin ich nicht schwach. Ich hab sie zweimal, manchmal dreimal am Tag die Treppen runtergetragen und wieder rauf. In der Wohnung hatte ich einen schmalen Rollstuhl für sie und unten einen etwas größeren.
Damit habe ich sie überall hin geschoben.
Einmal hab ich sie mit zum Friedhof zu Thomas Grab genommen, da hat sie einfach nur starr in den Himmel geschaut. Ich sage zu ihr: „Elli, guck mal, wie schön ich Thomas Grab gemacht hab.“ Sie guckt mich nur an, so als ob sie durch mich hindurch gucken würde und fragt: „Was kosten denn die Kartoffeln, Herr Pastor?“

Ja, da war auch mal so eine Phase, da hat sie mich immer geschlagen und ziemlich böse Worte zu mir gesagt. Du Arschloch, und Du Idiot, das waren ständig ihre Worte und wenn sie gesehen hat, daß ich mich ärgere, hat sie gelacht wie ein kleines Kind und in so einem Singsang immer Arschloch und Idiot gerufen, immer wieder.

Und für sowas hab ich nicht mal die Pflegestufe bekommen. Nur die niedrigste Stufe, die es gibt. Die könnte sich ja noch alleine die Haare kämmen, hat die Kontrollärztin gemeint.
Ich sag zu der: „Das Haarekämmen macht ja auch keine Probleme, viel schlimmer ist, daß sie sich ständig zuscheißt.“

Doch die hat nur mit den Schultern gezuckt. Ich könne ja einen Pflegedienst bestellen, hat sie gemeint. Wenn mich das so ekeln würde, hat sie gemeint.
Dabei machte mir das doch nichts aus, Elli zu wickeln wie ein kleines Baby. Es ging mir doch nur darum, daß Haarekämmen vielleicht doch nicht ganz so schwierig ist, wie Scheiße wegputzen.
Aber was weiß so eine junge Frau Doktor schon?

Haben Sie ihr die Windeln weggemacht? Ja? Gut so! Jetzt macht sie ja nichts mehr.

Ich muß mal beim Sanitätshaus anrufen, die müssen ja sowieso das Krankenbett, den Wannenlift und die beiden Rollstühle abholen. Ich habe nämlich bestimmt noch drei Pakete von den Windeln. Die sind noch nicht mal auf!

Was ich in den 5 Jahren für’n Geld in der Apotheke und im Sanitätshaus gelassen habe, das geht auf keine Kuhhaut.

So, aber jetzt hab ich genug gequatscht, jetzt können wir uns mal um die Beerdigung kümmern.
Also, sie soll in das gleiche Grab…
… in dieses Grab von dem …

Wir haben da ein Grab… da liegt schon einer drin…
Der Name, wie war doch gleich der Name…? Auf jeden Fall liegt der da drin.

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(©si)