Geschichten

Es ist alles ganz einfach

Eine Familie im Bestattungshaus

„Unser Opa ist gestorben. Es wird alles ganz einfach. Wann können wir vorbeikommen?“

So oder so ähnlich melden sich ganz viele Leute telefonisch beim Bestatter an. Auch die Familie Hebestreit. Es ist sonntags, nachmittags kommt Formel Eins, das guck ich ganz gerne, also bestelle ich die Leute für 11 Uhr. Ich könnte sie auch für Montagmorgen einladen, aber die Montagmorgen1 haben es beim Bestatter so in sich. Da muss immer viel vom Wochenende abgearbeitet werden.

Ich stelle im Besprechungsraum zwei Flaschen Mineralwasser bereit, eine mit und eine ohne Kohlensäure, rundherum stelle ich vier Gläser aufs Tablett.
Um zehn vor elf macht es Dinddong, die Zutrittskontrolle hat angeschlagen, jemand ist gekommen. In der Eingangshalle treffe ich…

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…nein, nicht auf die Familie Hebestreit, sondern auf einen Menschenauflauf mittlerer Größe. Papa Jens, Mama Carmen, die achtjährige Melinzia, der zehnjährige Blörde, Oma Katharina, Schwester Agnes und ihr Mann Jens, sowie deren etwa sechsjährige Zwillinge Maria und Emma. Abgerundet wird das durch die alleinstehende Schwester Elvira und den Bruder Helmut, der seinen Lebensabschnittsgefährten Dietmar mitgebracht hat. Ich muss noch fünf Stühle aus dem Andachtsraum holen. Im Besprechungszimmer stehen nur neun Stühle bereit und das reicht auch immer – normalerweise.

„Wo issen das Klo?“, will Melinzia wissen und ich zeige ihr die richtige Tür.

„Gibt’s auch was anderes als Wasser?“, fragt Blörde und ich sage: „Ich kann Kaffee und Tee anbieten.“

„Ich unterschreibe nichts ohne meine Betreuerin!“, sagt Elvira und schaut unter ihren Stuhl, bevor sie sich setzt.

Helmut und Dietmar wollen zuallererst die Urnen anschauen; wenn da nämlich nicht die richtige dabei ist, bräuchte man sich ja gar nicht erst mit dem Rest aufzuhalten und ginge sowieso woanders hin.

Die Zwillinge Maria und Emma sind irgendwo im Haus verschwunden und ich höre von ihnen nur noch Füßetrappeln und Kinderlachen.

Agnes rümpft die Nase: „Wird hier ab und zu geraucht?“ und ihr Mann Jens holt ein Mundspray aus seinem Herrenhandtäschchen und sprüht wild im Zimmer herum.

Oma Katharina ist die Witwe des heute Nacht verstorbenen Otto Hebestreit und hat rotgeweinte Augen. Sie möchte einen Kaffee. „Schön stark und schwarz, wenn’s geht.“

„Für mich Tee“, ruft mir Carmen hinterher, „Für mich auch“, „Ja, Tee wäre gut“, „Oh ja, haben Sie auch Roibush?“

Ich hole das kleine Tablett mit den Teesorten aus der kleinen Kaffeeküche. Antonia hat eine schöne Holzbox mit Schiebedeckel zur Teebox umfunktioniert und verschiedene Teesorten schön eingeräumt. Das stelle ich auf den Tisch und sage: „Ich mache dann jetzt den Kaffee für die alte Dame und heißes Wasser für die, die Tee möchten.“

„Moment mal!“

Ich stutze.

„Soll das heißen, dass Sie uns ernsthaft Beuteltee vorsetzen wollen? Also diesen minderwertigen Industriestaub aus der Fabrik?“, erkundigt sich Elvira. Jens schaut mich lächelnd an und macht ein Gesicht wie Armin Maiwald, wenn er der Maus erklärt, wo beim Elefanten vorne ist, und mit Peter Löwenzahn-Stimme erklärt er mir: „Sie wissen das bestimmt nicht, was ja auch nicht schlimm ist. Aber in der Teefabrik wird immer das in die Beutel gemacht, was die auf dem Boden so zusammenfegen.“

„Ach was?“, sage ich: „Und ich dachte, so macht man Gyros…“

Er schaut mir mit offenstehendem Mund hinterher, während ich in die Kaffeeküche marschiere.

„Dingdong!“

Wer kommt jetzt noch? Noch mehr Hebestreit-Leute? Ich guck‘ um die Ecke… Gott sei Dank! Es ist Sandy!
„Was machst Du hier?“

„Ernsthaft?“

„Ja, was machst Du hier, es ist Sonntag.“

„Ich wollte mich auf den Kopierer setzen, meinen Hintern kopieren und die Bilder im Netz verschicken.“

Ich habe das nicht weiter hinterfragt, muss ich irgendwann mal nachholen. Vermutlich hatte sie aber exakt das vor. Jedenfalls genügte ein verzweifelter Blick aus meinen braunen Dackelaugen und Sandy machte sich zuerst auf die Jagd nach den herumstreunenden Zwillingen Maria und Emma, die aber in unserer Hauskapelle mit umgehängten Sargdecken Pastor spielten, was früher ja noch als harmlos galt. Wir ließen sie dort und nahmen ihnen bloß die Streichhölzer weg.

Helmut und Dietmar hatten die passende Urne gefunden. Helmut weinte vor Freude und meinte: „Wenn wir da jetzt noch ein Einhorn draufmachen, ist die perfekt!“

Als ich wieder ins Besprechungszimmer komme, haben die Leute tatsächlich die zwei zusammengestellten Tische an die Wand geschoben und die Stühle im Kreis aufgestellt. „Klasse Idee, oder?“, findet Carmen.
Dann finden sie das alles wieder Mist, weil ja jetzt kein Platz mehr da ist, wo man seine Tasse oder sein Glas abstellen könnte.

„So“, sage ich: „Wir stellen jetzt die Tische und Stühle schön mal wieder so auf, wie sie vorher gestanden haben. Dann bekommen alle was zu trinken und wir besprechen alles. Mir ist es egal, ob sie es anders schöner finden. Aber wenn ich zu Ihnen ins Wohnzimmer komme, räume ich ja auch nicht die Möbel um.“

Sie murren, aber dann wird alles wieder umgebaut. Was für ein Theater!

Blörde ruft: „Kann ich ne Cola?“

Sandy kommt hinzu und bringt noch mehr Tassen, Löffel, Zuckerwürfel und Servietten.

Oma Katharina hat als Erste was und ist zufrieden. „Das war so ein guter Mann!“ Sie weint wieder.

Es ist ernsthaft eine ganze Stunde vergangen, bis endlich so etwas Ähnliches wie Ruhe einkehrt.

Ich nehme die persönlichen Daten des Verstorbenen auf. Das geht recht problemlos. Dann erkläre ich den weiteren Ablauf, so wie ich es immer tue. Ich muss dabei aufpassen, nicht in einen auswendig gelernt klingenden Sinsang zu verfallen, so oft habe ich diese immer gleichen Sätze schon gesagt.
Aber ich sage sie immer wieder, ich sage sie auch später noch einmal und ich erkläre auch jeden einzelnen Schritt immer ganz genau. Alles das findet sich dann später auch auf dem Zettel wieder, den die Leute mit nach Hause nehmen können und auf dem dann auch schon draufsteht, was sie in etwa später bezahlen werden müssen.
Eins lass‘ ich mir nämlich nicht nachsagen, nämlich „Das haben wir nicht gewusst“, „Das hat uns aber keiner gesagt“, „Das ist das Erste, was ich höre“, und „ja, wenn wir das gewusst hätten“.

Ob es nun eine Erdbestattung oder Feuerbestattung werden soll, ist in der Familie umstritten. Das wundert mich, da Helmut und Dietmar ja schon eine Urne ausgesucht haben.

„Losen Tee haben Sie keinen, oder?“, will Carmen wissen. Sandy geht kurz raus und kommt ein paar Minuten später mit einem Tupperdöschen wieder. „Hier ist eine ganz spezielle lose Teemischung, ist was ganz Besonderes.“

„Was ist denn das für ein Tee, Sie machen mich neugierig“, will Carmen wissen. Sandy zählt mit den Fingern ab und sagt: „Das ist eine ganz edle Fünfkontinente-Mischung mit Hibiskus, Hagebutte, Pfefferminz, Fenchel und äh, ähm, noch irgendwas.“ Hinten schaut aus der Tasche ihrer Jeans eine Schere hervor…

„Oh, das klingt ja interessant!“ Und an mich gewandt meint Carmen: „Sie Schlingel! Den guten, losen Tee wollten Sie wohl vor uns verstecken, Sie Schelm!“

„Krieg ich jetzt ne Cola?“

„Mach mir auch einen von der Fünfplaneten-Mischung!“

„Haben Sie noch stilles Wasser?“

„Gibt’s auch Milch?“

„Wo, sagten Sie, ist das Klo?“

„Können Sie nochmal kochendes Wasser machen, für die Planetengetriebemischung?“

Insgesamt war jeder von denen mindestens zweimal auf dem Klo, die Kinder noch öfter… Ein Kasten Wasser ist hinterher leer. Und es steht immer noch nicht fest, ob der Opa verbrannt werden soll.

Vorsichtshalber erkundigt sich Elvira: „Sie wollen uns doch nicht abzocken, oder?“

Sandy nimmt die Bande und führt sie in den Ausstellungsraum.

Elvira hält das für eine Verschwörung und will nicht mit. „Ich setz‘ mich jetzt in der Halle auf das Sofa und spreche mit dem Benjamini, der arme Baum steht da ganz allein in einer Ecke. Haben Sie noch nie gehört, dass die sich in einer Gruppe wohler fühlen? Das sind Rudelbäume.“

„Der nicht, der ist ein notorischer Einzelgänger, er verträgt sich mit niemandem, seien Sie vorsichtig!“

Emma und Maria haben die Kaffeeküche gefunden und aus dem Kühlschrank zwei Fläschchen „Kleiner Feigling“ an sich genommen. Sie gießen den Likör im Andachtsraum in eine Kaffeetasse und feiern weiter Gottesdienst. Sandy nimmt ihnen den Likör weg und gibt ihnen stattdessen ein abgekühltes Tässchen vom Getriebetee…

13 Uhr, noch zwei Stunden bis zur Formel Eins.

Oma Katharina und Helmut und Dietmar kehren ins Besprechungszimmer zurück. Die beiden Männer finden das Theater zu nervenaufreibend. Oma Katharina winkt mich herbei. „Schreiben Sie auf, Feuerbestattung, der helle Sarg vorne am Eingang, das graue Totenhemd mit der passenden Decke. Kleines Urnengrab für uns beide auf dem Gartenfriedhof. Um die Blumen kümmere ich mich selbst und zum Pfarrer gehe ich auch hin. Müssen Sie sonst noch was wissen?“

Ein paar Fragen habe ich noch, aber die sind schnell geklärt. Im Ausstellungsraum wird lautstark diskutiert. Elvira unterbricht ihre Baumtherapie und ruft laut: „Denkt daran, dass ich nichts unterschreiben darf!“

„Wann gibt’s denn Cola?“

„Wo war nochmal das Klo?“

„Haben Sie auch koffeinfreien Cappuccino?“

Halb drei. Alle sitzen wieder im Besprechungsraum. Carmen fragt: „Jetzt, wo wir alle so schön hier sitzen, könnten wir doch die Tische wieder an die Wand schieben, was meint Ihr“?

„Nö, nö, nö“, sage ich und beginne, alles noch einmal zusammenzufassen. Danach unterschreibt Oma Katharina alles und bekommt ihre Kopie.

Melinzia muss sich übergeben und kotzt ihrer Mutter quer über den Schoß.

Blörde erkundigt sich mit gelangweiltem Unterton: „Cola gibt’s immer noch keine?“

Jens meint, während er Melinzias Übergeblichkeit wegwischt: „Und warum hat das jetzt alles so lange gedauert? Ernsthaft jetzt. Wir haben klare Vorstellungen gehabt und dachten, das ginge alles ruckzuck. Dass das dann so kompliziert wird, hätte ich nicht gedacht.“

„Wo issen das Klo“?

15 Uhr. Ich sitze vor dem Fernseher und Sandy kopiert unten noch irgendwas….

Bildquellen:
  • hebe: Peter Wilhelm ki

Fußnoten:

  1. „Montagmorgen“ ist ein Zusammensetzungswort aus: dem Wochentag Montag und dem Substantiv der Morgen. In diesem Fall bleibt das erste Glied unverändert im Singular, das zweite Glied wird nicht gebeugt, wenn es Teil eines festen Ausdrucks ist. Daher kein „Montagmorgene“ oder „Montagmorgens“. (zurück)

Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:

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Kategorie: Geschichten

Die teils auch als Bücher erschienenen Geschichten von Peter Wilhelm sind Erzählungen und Kurzgeschichten aus dem Berufsleben eines Bestatters und den Erlebnissen eines Ehemannes und Vaters.

Sie haben meist einen wahren Kern, viele sind erzählerisch aufbereitete Tatsachenerzählungen.

Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind zufällig, da Erlebnisse nur verändert-anonymisiert wiedererzählt werden.


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Lesezeit ca.: 12 Minuten | Tippfehler melden | Peter Wilhelm: © 2. Juni 2025

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(©si)

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7 Kommentare
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Alwin
1 Tag zuvor

Ich hätte da mal eine persönliche Bitte: Falls möglich, alle Geschichten, in denen Sandy vorkommt, auch mit „Sandy“ verschlagworten. Bin ein Fan…

Glückauf
1 Tag zuvor

Ob Glieder gebeugt werden, hängt maßgeblich vom gliedertragenden * innen ab. Ich zitiere den guten alten. Goethe: gern der Zeiten gedenke ich, wo alle Glieder gelenkig, bis auf eines. Doch vorbei sind, die Zeiten alle Glieder versteifen, bis auf eins.

Henning
1 Tag zuvor

Oma war die einzig vernünftige.
Daß die nicht einfach die ganze Baggage vorher nach hause geschickt und dann alleine erschienen ist – dann wäre das in nicht mal einer Stunde erledigt gewesen.

Live aus dem Krematorium
22 Stunden zuvor

Kurze Nachfrage zum Verständnis:
Wenn in Teebeuteln sozusagen nur Industrieabfall ist, was ist dann das Hauptprodukt, bei dem dieser Abfall entsteht ?




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