Ich muss am Bahnhof was erledigen. In einem der Shops in der Vorhalle gibt es etwas zu kaufen, das ich haben möchte. Am Mannheimer Hauptbahnhof kannst Du in die Tiefgarage fahren und musst nichts bezahlen, wenn Du in einer Viertelstunde wieder raus bist.
Meine Tochter begleitet mich und wir setzen uns zum Ziel, den Einkauf so schnell abzuwickeln, dass wir um die Parkgebühr herumkommen. Für meine Tochter kein Problem, für mich alten, etwas im Gehen eingeschränkten Mann eine Herausforderung. Wir beeilen uns, im entsprechenden Laden ist eine dumme Pute vor uns dran, die am liebsten noch von ihren gesamten letzten Urlauben erzählt hätte, doch auch den Verkäufer interessiert das nicht. Er hört nur aus Höflichkeit zu und sagt „Dankeschön und bis zum nächsten Mal“ gerade noch so rechtzeitig, dass ich kaufen und bezahlen kann, bevor die Parkzeit abgelaufen ist.
Unten auf dem Parkdeck muss man sein Parkkärtchen trotzdem in den Automaten stecken, damit es ausgelesen wird. Gebühr 0,00 Euro. Geschafft, Einsfuffzich gespart.
Neben dem Parkautomaten sitzt ein Mann ohne Beine im Rollstuhl, er hat eine Flasche Bier zwischen den Oberschenkeln und hält mir eine offene Hand hin. Alles an ihm sagt: „Ich bin versoffen, lebe auf der Straße und ich möchte Geld von Dir, um mir was zu trinken kaufen zu können.“
Meine Tochter zieht an meiner Jacke, bloß weg da! Ich kann nicht. Das geht nicht. Ich schaffe das nicht. Meine kleine Geldbörse habe ich sowieso in der Hand, falls ich hätte was bezahlen müssen. Ich knipse sie auf, nehme einen Zehner raus und gebe sie dem Mann. Aus seiner dunstigen Düsternis heraus hebt er den Kopf, erstaunlich wache, blaue Augen schauen mich an und er nickt nur.
Im Auto schimpft meine Tochter mit mir: „Weißt Du nicht, dass der sich sofort Schnaps davon kauft? Da hättest Du das Geld auch wegschmeißen können. Der sitzt den ganzen Tag da, ich hab den schon öfters gesehen. Wer weiß, was der an einem guten Tag verdient.“
Während ich aus dem Parkdeck ausfahre, sage ich ihr, dass wir doch in der privilegierten Lage sind, zum Hauptbahnhof fahren zu können, dort einen unnützen Gegenstand zu kaufen und auch ansonsten stets einen vollen Kühlschrank zu Hause zu haben. Da könne man doch ab und zu was abgeben.
Ja, das sehe sie ein, aber sie ziehe es vor, ein- oder zweimal im Jahr etwas an eine bekannte Organisation zu spenden.
Nun ist meine Tochter als angestellte Augenoptikerin auch keine Großverdienerin und ich freue mich, dass sie überhaupt darüber nachdenkt, etwas zu spenden. Und sie tut das auch tatsächlich, zu genau sind ihre Angaben über die Aktionen, denen sie im letzten Jahr etwas gespendet hat.
Finde ich gut. Freut mich. Es gibt also doch noch Hoffnung, dass nicht alle nur noch teuer gekaufte Herzchen und Schmetterlinge auf sozialen Medien spenden.
Trotzdem hält sie mir das immer wieder mal vor, dass ich einem versoffenen Penner zehn Euro gegeben habe.
Sie sagt, es sei besser an Organisationen zu spenden, weil man da doch wisse, dass das wirklich den Hilfsbedürftigen zugutekomme, bei so einem Penner wisse man das doch nicht.
Ich sehe das anders. Lieber gebe ich einmal zu viel eine Kleinigkeit, als einmal zu wenig. Immer mit dem Vorbehalt zu leben, man könne mit so einer Spende eine mafiöse Bettelorganisation aus Osteuropa finanzieren, mag ja einen vernünftigen Kern haben. Aber wie leicht würde ich vielleicht jemandem aus dieser Erkenntnis heraus meine Hilfe verweigern, der sie dringend benötigt?
Mein ganzes Leben schon habe ich Freunde und Bekannte unterstützt. Das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Ich möchte dafür keine Beweihräucherung, keine besondere Erwähnung, nein, das ist mir unangenehm. Für mich ist es einfach absolute Normalität. Ich finde, wir sitzen alle im selben Boot und versuchen 70 oder 80 Jahre auf diesem Planeten zurecht zu kommen. Das ist nicht immer einfach, weil wir von vielen bösen und dummen Menschen umgeben sind, die uns nichts Gutes wollen. Es ist auch deshalb nicht einfach, weil das gesamte System darauf beruht, wer mehr oder wer weniger Geld hat. Nicht der kreativste Mensch wird hoch geschätzt, beim Arzt kommt nicht der mit den stärksten Problemen sofort dran, nicht der Mensch mit dem wundesten Hintern darf in der Bahn bequem sitzen und nicht der liebste Mensch wird besonders geschätzt; bevorzugt werden immer nur die, die am meisten Geld haben.
Gegen dumme und böse Mitmenschen kann man viel tun, ihnen ganz aus dem Weg zu gehen, das vermag niemand. Denn leider sitzen oft die Dümmsten und Bösesten an genau den Stellen, die ihnen die Macht verleihen, einem unablässig auf den Sack zu gehen und das Leben zu vermiesen. Aber so ein bißchen kann man sich diesen Leuten doch entziehen, sich einen gemütlichen Freiraum schaffen, in dessen geschützem Umfeld man sich mit Menschen umgibt, die einem wohlgesonnen sind.
Mit dem Geld ist das eine andere Sache. Ja, es gibt ein paar tausend Menschen, die einfach nur asozial und stinkfaul sind. Die würden eine Arbeit nicht einmal dann annehmen, wenn sie ganz leicht, nur wenige Stunden andauernd und ordentlich bezahlt wäre. Sie leben lieber zwischen Bier, Kippen und Trash-TV in vom Amt bezahlten Wohnungen und sehen es nicht ein, irgendetwas Produktives zu tun. Die gibt es. Ich kenne solche Leute.
Das heißt aber nicht, dass Leute, die in vom Amt bezahlten Wohnungen leben, asozial und faul sind. Das heißt auch nicht, dass Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, grundsätzlich stinkfaul und arbeitsscheu sind.
Das ist so ein Märchen, das uns die Politiker aller Parteien immer wieder auftischen. Man müsse die nur „in Brot und Arbeit bringen“, dann würde alles wieder laufen.
Hier werden Hilfsbedürftige, Kranke, Behinderte, Chancenlose und Benachteiligte zum Sündenbock gemacht.
Und außerdem gibt es so viele Menschen, die immer fleißig arbeiten, manche in zwei Jobs, und die trotzdem einfach auf keinen grünen Zweig kommen.
Es ist absolut unverständlich, wie es zugelassen werden kann, dass die Miete für eine Wohnung das halbe Einkommen einer Familie auffrisst. Dass private Vermieter ihre Immobilien gewinnbringend vermarkten müssen, ist verständlich. Doch müsste der Staat durch Sozialbauprogramme dem so tüchtig entgegenwirken, dass jede Familie bezahlbaren Wohnraum finden kann. Wohnen bedeutet elementare Existenz und ist kein Luxus.
Ich kenne viele Familien, in denen beide Elternteile arbeiten gehen und die trotzdem nichts übrig haben. Sie müssen für die Klassenfahrten ihrer Kinder auf den Sozialfonds der Schule zurückgreifen.
Und diesen Familien sagen unsere Politiker, sie sollen bitte privat fürs Alter vorsorgen. An der Börse mit ETFs zu handeln, sei eine gute Idee. Dann habe man auch im Alter was. Ich kotz‘ gleich!
Ja und dann kommt in der Tagesschau irgendeine Meldung, bei der der Durchschnittsverdienst der Deutschen angegeben wird. Es ist ein monatliches Gehalt, von dem weite Teile der Bevölkerung nur träumen können.
Das sind vor allem die vielen Millionen Menschen, die mit dem Mindestlohn abgestraft werden. Denn den halte ich für keine segensreiche Erfindung, sondern für eine Einladung an viele Unternehmer, ihren Beschäftigten auch genau nur das zu bezahlen, weil das ja „dem Gesetz entspricht“.
Wie viel müssen die wenigen anderen verdienen, die nicht unten gehalten werden, damit ein so hohes Durchschnittseinkommen überhaupt zustande kommt?
Einer meiner ehemals besten Freunde, der Günther, bewohnte, weil zweimal schlecht geschieden, eine baufällige Gartenlaube und hatte „kaum das Brot über die Nacht“, wie man hier in der Gegend so sagt, wenn jemand von der Hand in den Mund lebt.
Wie selbstverständlich habe ich jeden Monat einen Kofferraum voll für ihn eingekauft und oft genug unbezahlte Rechnungen von seinem Küchentisch mitgenommen und überwiesen. Man kann doch einen Menschen, der einem etwas bedeutet, nicht vor die Hunde gehen lassen.
Die Diana ist eine junge Frau voller Talente, die sich selbst auf den Füßen steht, keinen richtigen Start ins Berufsleben gefunden hat und mit etwas über Dreißig immer noch auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle ist. Sie kann malen, da fällt einem nichts mehr ein. Sie kann singen und ihre Stimme lässt einen nur staunen. Doch sie kriegt einfach nichts auf die Reihe.
Ich lasse sie bei uns irgendwelche Arbeiten erledigen, vom Fensterputzen bis hin zum Packen von Päckchen, nur um ihr mit der Bezahlung dafür etwas unter die Arme greifen zu können. Man kann doch so wunderbare Menschen nicht hinten runterfallen lassen, nur weil sie kompliziert und nicht lebenstüchtig im Sinne von systemfunktionabel sind.
Vielleicht spinne ich, ich weiß es nicht. Ich bin kein guter Mensch, glaube ich. Überall, wo ich mich bisher eingebracht habe, wo ich glaubte, mein Bestes gegeben zu haben, war ich am Ende immer das Arschloch. Mag sein, dass dumme Leute sich so an uns Nachdenklichen rächen. Kann sein, dass mir manche neiden, dass ich immer wieder weitermachen konnte, weil ich ein Aufsteher und kein Liegenbleiber bin. Kann aber auch genauso gut sein, dass ich wirklich ein Arschloch bin.
Aber das ist mir egal. Ich hab auch nur diese paar Jahrzehnte hier. Und ich wohne in meinem Kopf, aus dem ich nicht heraus kann. Ich muss also mit meiner Zeit und mit meinem Ich so klarkommen, wie ich es für gut halte.
Und dazu gehört, dass ich anderen helfe. Nicht, weil mir das irgendwas einbringt, und schon gar nicht, weil mir das „ein gutes Gefühl“ gibt. Im Gegenteil. Ich hau die Kohle raus und weiß im selben Moment, dass sie mir morgen fehlen wird.
Aber ich habe eine Familie, ich habe ein Dach über dem Kopf und ich habe was im Kühlschrank.
Es gibt tatsächlich eine Frau, die mich für so gut hält, dass sie bei mir bleibt, und schon dafür muss ich dankbar sein; ich wollte nicht mit mir verheiratet sein.
Ich habe Kinder, die Papa zu mir sagen, das ist doch auch was Schönes. Manchmal benehmen die sich wie XYZs und wir haben uns schon oft über sie geärgert. Aber unterm Strich haben wir doch aus zwei kleinen Erdenwürmern ganz tolle Menschen gemacht, die nun auch ganz alleine ihren Weg gehen können.
Was will ich damit sagen? Ich möchte Dich aufrufen, Dein Herz zu öffnen und dem nächsten, der Dich bittet, vorbehaltlos zu helfen, auch wenn Du hinterher das Arschloch bist.
Es lohnt sich, ein Arschloch zu sein.
Ich habe noch einmal die wichtigsten Schlagwörter (Hashtags) dieses Artikels für Sie zusammengestellt, damit Sie sich besser orientieren können:
Schlagwörter: Nachdenkliches
Danke! Ich hätte es nicht besser, nein, ich hätte es nicht so gut sagen können. Ich frage mich immer, wölltest du mit den Lebensumständen dieser Menschen, die mit dieser Welt nicht klar kommen, tauschen. Keine Beine, geschieden, vielleicht eine schwere Krankheit usw. Die Antwort ist nein, und dann habe ich auch nicht das Recht, sie für das zu verurteilen, was das Leben aus ihnen gemacht hat. Wer weiß, ob ich zu mehr die Kraft hätte als zum Betteln oder zur Gartenlaube und zu Gelegenheitsarbeiten. Vielleicht wäre für mich der Schnaps oder die Zigarette auch das einzige, was mich vom Wahnsinn abhält. Wer ohne Sünde ist,… Ich habe ein gutes Leben und das Glück(!) besserer Lebensumstände. Dafür bin ich dankbar und nehme es nicht für selbstverständlich. Ob man dann spendet oder in jede ausgestreckte Hand etwas legt, ist das eine. Aber sich einzubilden, man sei etwas besseres, weil es einem besser geht, man sei fleißiger, ehrlicher, gar wertvoller, als jene? Das ist undankbar. Ich werde in drei Monaten nicht reich und berühmt sein. Aber drei beschissene… Weiterlesen »