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Ferien am Gardasee

Wie wird der Mund einer Leiche verschlossen?

„Das ist doch alles sowas von bedeutungslos“, sagt Klaus Bergmann, tippt mit dem Finger auf den Flügel eines Plastikflugzeugs, das daraufhin an seinen Nylonfäden heftig unter der Zimmerdecke schaukelt.
„Am Liebsten würde ich den ganzen Krempel hier in Kartons packen, alles rausschmeißen, dann den Schlüssel umdrehen und nie wieder dieses Zimmer hier betreten.“

„Und Ihre Frau?“ erkundige ich mich.

„Die? Sie haben sie doch vorhin erlebt. Die tut so, als ob Lukas gar nicht weg wäre. Sie hat ihm heute Morgen sogar wieder Brote für die Schule gemacht und vorhin gesagt, sie müsse sich beeilen, weil Lukas bald nach Hause kommt.“

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„Ihre Frau sollte mal mit einem Spezialisten sprechen.“

„Nicht nur meine Frau, was glauben Sie, wie es mir geht…“

„Sie brauchen beide Hilfe.“

„Ja, meine Frau wegen Lukas und ich wegen meiner Frau.“

„Keine schöne Situation.“

„Sie sagen es. Auszuhalten ist das Ganze ja nur, solange meine Frau in diesem Zustand ist. Zwischendurch sitzt sie stundenlang in der Küche auf der Eckbank, schaut zum Fenster raus und heult. In diesen Zeiten darf ich sie gar nicht ansprechen, da ist sie klar und gibt mir die Schuld. Sie behandelt mich mit Eiseskälte. Da liegt soviel Haß, soviel Verachtung und Abscheu in ihrem Blick…“

Mit dem Fuß tritt Herr Bergmann vor einen Ball, der in der Mitte des Kinderzimmers liegt und der Ball hüpft in eine Zimmerecke und Herr Bergmann macht eine hilflose Bewegung mit den Armen.
Durch das Geräusch, das der Ball gemacht hat, wird Frau Bergmann angelockt. Freundlich lächelnd kommt sie herein, hebt mahnend den Finger und sagt: „Jungs, müßt ihr denn mit Lukas‘ Sachen spielen? Ihr macht doch alles unordentlich.“ Sie rollt den Ball mit der Hand wieder in die Zimmermitte und ich könnte wetten, daß er auf den Millimeter wieder genau auf der vorherigen Position zu liegen kommt.

Frau Bergmann ist eine gut aussehende Frau, ein paar Jahre früher konnte sie bestimmt manchem Mann den Kopf verdrehen, inzwischen haben die Jahre aber ihre Spuren hinterlassen, ich kann aber nicht sagen, wie sich die augenblickliche Situation darauf auswirkt.
Und diese Situation ist beschissen, um es mal mit einem klaren Wort zu sagen.

Das Ehepaar Bergmann hat einen Sohn, den zehnjährigen Lukas und mit diesem waren sie über Pfingsten am Gardasee auf einem Campingplatz. Wegen des um diese Jahreszeit noch unbeständigen Wetters hatten sie sich in diesem Jahr ein Wohnmobil gemietet und mit diesem ist es passiert. Das Wohnmobil hat hinten seitlich eine Klappe, in der sich die Fahrräder der Familie befinden und nachdem das Wohnmobil auf dem Campingplatz aufgestellt war, durfte Lukas sich sein Fahrrad dort herausnehmen und etwas den Platz erkunden. „Dann ist er aus dem Weg und wir können das mit dem Aufstellen in Ruhe erledigen.“

So ganz habe das Wohnmobil dann doch nicht auf der richtigen Position gestanden und deshalb habe Klaus Bergmann nochmals den Motor gestartet und das Fahrzeug etwas dichter an die Bäume herangefahren. „Nur noch einmal mußte ich zurücksetzen und dann wieder nach vorne geradeziehen und da ist es passiert…“

Ich nicke nur und erspare es ihm, den Vorfall nochmals schildern zu müssen. Lukas war inzwischen von einer ersten Runde wieder zurückgekehrt und kurvte mit seinem Kinderfahrrad zwischen den Bäumen herum. Beim Rückwärtsfahren hat sein Vater ihn dann mit dem Wohnmobil erwischt und an einen Baum gedrückt. Der Junge ist noch am Unfallort gestorben.

Es folgte die übliche und in Italien überhaupt nicht andere Prozedur: Notarzt, Polizei, Gerichtsmedizin, tagelange Beschlagnahme der Leiche, Verhöre der Eltern und schließlich Freigabe und Überführung.
Als Unternehmer fuchst es mich, daß die Bergmanns nicht auf mich gehört haben. Von Italien aus hatte Herr Bergmann bei uns angerufen und wegen der Überführung angefragt, daß es sich um ein Kind handelte, wußten wir zu diesem Zeitpunkt nicht. Es rufen viele Leute, vor allem Ausländer, bei uns an und fragen nach Auslandspreisen. Das ist recht nervig für die Bestatter, denn die allermeisten dieser Anrufer kommen dann sowieso nicht mit einem Auftrag.
Ich versprach Herrn Bergmann, mich zu erkundigen und er wollte dann eine Stunde später zurückrufen, was er auch tat. In der Zwischenzeit hatte ich bei der Firma Brocklage angerufen, ein Fachunternehmen für Fernüberführungen. Wir fahren solche weiten Strecken nur in seltenen Fällen selbst, es kommt uns zu teuer, es fehlt ein Fahrzeug und wenigstens ein Mann und so ein Fachunternehmen kennt sich noch besser mit dem ganzen Konsularkram aus. Unterm Strich ist das für uns und die betroffenen Familien auch fast um die Hälfte billiger. (Natürlich nur wenn die Ersparnis auch an die Kunden weitergibt, was nicht alle Bestatter machen.)

Was er denn jetzt als Nächstes machen müsse, wollte Bergmann am Telefon wissen und ich empfahl ihm, einen örtlichen Bestatter aufzusuchen. In Garda gibt es einen, der sogar recht gut Deutsch spricht.
Dort solle er den Auftrag erteilen, die Formalitäten vor Ort zu erledigen und den Verstorbenen für die Überführung in den einfachsten Transportsarg betten zu lassen. Den ganzen Rest würden wir machen.
Ob Herr Bergmann das nun falsch verstanden hatte oder ob der italienische Kollege besonders geschäftstüchtig war, weiß ich nicht.
Jedenfalls hatte ich beim zweiten Anruf von Herrn Bergmann das Gefühl, er habe den Auftrag jemand anderem gegeben, denn er sagte, das habe sich alles erledigt.
Ich guckte dann ziemlich erstaunt, als gestern Vormittag von der Autobahn der Anruf des italienischen Kollegen kam, der letzte Wegeinformationen haben wollte. Am Mittag rollte dann der italienische Leichenwagen auf unseren Hof. Ein unglaublich luxuriös ausgestatteter Mercedes in Dunkelgrün-Metallic. Die Innenausstattung des Sargraumes in hellem, poliertem Holz und glänzendem Edelstahl und Chrom. Der kleine schwarze Körperformsarg konnte elektrisch herunter- und herausgefahren werden, selbst die Vorhänge innen vor den bis ins Dach reichenden Panoramascheiben gingen elektrisch rauf und runter. Auf dem Dach hatte das Fahrzeug eine verchromte Reling und an den Holmen etwas kitschig wirkende Kutschenlaternen aus Chrom. An dieser Reling hängt man in Italien die Kränze auf, während das Fahrzeug mit offenen Vorhängen, den Sarg präsentierend, dem Trauerzug voranfährt.

Nachdem der Italiener die Papiere übergeben hatte und der Sarg in unserem Keller stand, lud ich ihn noch zum Essen in den „Grünen Baum“ ein. Mithilfe meiner rudimentären Italienischkenntnisse, seiner noch weniger ausgeprägten Deutschkenntnissen und Händen und Füßen gelang es mir aber tatsächlich, mich mit dem Fahrer zu unterhalten. Es scheint sich um ein größeres Unternehmen zu handeln, zumindest nach dem was er an Eurobeträgen nannte, doch dann sagte er mir die Zahl der Bestattungen, die das Unternehmen im Jahr abwickelt, und ich kam zu dem Schluß, daß sich die Italiener das Sterben richtig etwas kosten lassen müssen.
Eine Kiste Bier akzeptierte er als angemessenes Geschenk und fröhlich winkend machte sich der Fahrer gegen 15 Uhr wieder auf den Heimweg. Er müsse sich sputen, er wolle noch beim Bruder der Frau seines Cousins, der in Deutschland wohnt, ein paar Möbelstücke für die Heimat abholen. „Das ist doch aber die ganz andere Richtung und das sind über 400 Kilometer“, gab ich zu bedenken, doch der Mann winkte nur ab: „Max nix, isse Familia!“

Am Nachmittag kamen dann die Bergmanns direkt mit dem Wohnmobil zu uns. Sie blieb im Wagen sitzen, er wollte nur wissen, ob Lukas eingetroffen sei und wir vereinbarten ein Gespräch für den kommenden Tag.

Ja und genau dieses Gespräch sollte ich nun erledigen…

Zuerst saßen wir ihm Wohnzimmer, Frau Bergmann auf der Lehne der Couch, mit dem Finger den Vorhang vom Fenster wegziehend und hinaussehend. Sie müsse doch schauen, wann Lukas endlich kommt.
Er tief versunken in einem Sessel, versteinertes Gesicht und nervös eine Zigarette rauchend.

Dann erlebte ich, wie Frau Bergmann aufstand, in die Küche ging und anfing laut zu weinen. „So, jetzt!“ gab Herr Bergmann das Kommando: „Jetzt können wir mit ihr über die Beerdigung sprechen.“
Es war mi fast ein wenig peinlich und unheimlich, wie schnell mich Herr Bergmann in der Küche durch das Gespräch trieb, immer wieder schaute er auf seine Frau und bezog sie ins Gespräch ein, um zu sehen, ob sie noch „anwesend“ war. Nach nur 20 Minuten hatten wir alles besprochen: Trauerfeier in unserem Haus, Überführung des Sarges in ein Reihengrab auf dem Nordfriedhof, weil da auch die Oma liegt, kein gemeinsames Kaffeetrinken aber am Nachmittag des Beerdigungstages ein Trauergottesdienst in der Kirche, wegen der ganzen Spiel- und Schulkameraden.

„So, ich hab‘ jetzt keine Zeit mehr, ich muß Ravioli heiß machen, Lukas kommt gleich!“

Ich nahm Herrn Bergmann beiseite und schrieb ihm drei Adressen von Leuten auf, die seiner Frau helfen könnten. Dann fuhr ich in die Firma, wir haben viel vorzubereiten und am Abend will Herr Bergmann einen Blick auf den Entwurf der Todesanzeige werfen.

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(©si)